Schneegestöber

Von Anatol Stefanowitsch

Ich weiß nicht, ob es am Herb­st­wet­ter liegt oder daran, dass ich in diesem Semes­ter ein Sem­i­nar zum The­ma „Sprache und Denken“ gebe, auf jeden Fall denke ich wieder ein­mal an die Eski­mowörter für Schnee, und dabei fällt mir ein, dass ich damals eine Frage offen gelassen habe.

Sprach­bloggeur“ P.J. Blu­men­thal hat­te sein­erzeit in seinem zweit­en Schneep­ost­ing ein Tele­fonat mit einem gewis­sen Her­rn Olsen von der grön­ländis­chen Selb­stver­wal­tung erwäh­nt, der die Anzahl von Schneewörtern im Kalaal­lisut auf „unzäh­lige“ schätzte (wom­it er natür­lich Recht hat­te, denn wie wir ja nun wis­sen, haben alle Sprachen mit pro­duk­tiv­en Wort­bil­dungsmech­a­nis­men unzäh­lige Wörter für alles):

Daraufhin emp­fahl er mir die Lek­türe des Buch­es ”Glos­sary of Snow and Ice“, geschrieben Anfang der 70. Jahre von Ter­rence Arm­strong, Bri­an Roberts und Charles Swith­in­bank. In diesem Werk, so Herr Olsen, finde man die Kalaal­lisut-Begriffe mit Über­set­zun­gen ins Dänis­che. Er ver­sprach mir Genaueres darüber zu schick­en, ist wohl nicht dazugekommen.

Mir ließ dieses Glos­sar seit­dem keine Ruhe. Han­delte es sich hier etwa um ein Wörter­buch des Kalaal­lisut oder ein anthro­pol­o­gis­ches Werk über die Schneekul­tur der Eski­mos, das die Frage nach deren Schnee­vok­ab­u­lar in einem völ­lig neuen Licht erscheinen lassen würde?

Titelseite

Titel­seite

Von mys­tis­ch­er Neugi­er getrieben begab ich mich also dieser Tage mit­ten in der Nacht hinab in die düsteren Gewölbe unser­er Bib­lio­thek. Dem Kat­a­log ent­nahm ich nach einigem Suchen die Infor­ma­tion, dass der voll­ständi­ge Titel des Buch­es „Illus­trat­ed Glos­sary of Snow and Ice“ lautete. Die Kat­a­lognum­mer machte mich allerd­ings stutzig: sie begann mit den Buch­staben GEO. „Ein geol­o­gis­ches Wörter­buch mit Kalaal­lisut-Begrif­f­en?“ dachte ich, nun noch mys­ti­fiziert­er. „Haben die Geolo­gen da vielle­icht vom ural­ten Schneewis­sen der Eski­mos prof­i­tiert?“. Ich tastete mich also im Däm­mer­licht durch lange ver­winkelte Kor­ri­dore zum richti­gen Regal vor, nahm das kleine Büch­lein vor­sichtig aus dem Regal und schlug es mit zit­tern­den Hän­den auf.

Und meine Illu­sio­nen zer­platzten. Mit einem Schlag fand ich mich im regen­trüben 70er-Jahre Beton­bau der Staats- und Uni­ver­sitäts­bib­lio­thek Bre­men wieder — mit einem Fach­wörter­buch der Glazial­ge­olo­gie in der Hand. Das „Illus­trat­ed Glos­sary of Snow and Ice“ definiert, bebildert, und benen­nt ver­schiedene Schnee- und Eis­phänomene. Und zwar auf Englisch, Dänisch, Finnisch, Franzö­sisch, Deutsch, Isländisch, Nor­wegisch, Rus­sisch und Spanisch. Ein typ­is­ch­er Ein­trag sieht so aus:

Eintrag zu <em>snow</em> im „Illustrated Glossary of Snow and Ice“

Ein­trag zu snow im „Illus­trat­ed Glos­sary of Snow and Ice“

Von Kalaal­lisut oder ural­ter Schnee­mys­tik also keine Spur. Und die Moral von der Geschichte? Es gibt wohl keine, außer dass man nichts glauben soll, das man nicht selb­st gese­hen hat.

Aber wieviele Wörter für Schnee ste­hen denn nun in dem Glos­sar“, höre ich Sie ungeduldig rufen. Wenn ich mich in mein­er Ent­täuschung nicht ver­tan habe, sind es bei großzügiger Ausle­gung vierundzwanzig, davon sechs ein­fache und 18 zusam­menge­set­zte: Altschnee, Bar­chadüne, Bruch­harsch, Firn, Firn­line, Frostre­gen, Hagel, Harsch, Law­ine, Neuschnee, Regen­schnee, Schnee, Schnee­brei, Schnee­brücke, Schneefe­gen, Schneefleck, Schneeflocke, Schnee­gren­ze, Schneeschlamm, Schnee­treiben, Schneewe­he, Sicheldüne, Unterkühltes Nieseln und Wächte.

Für Eis ste­hen übri­gens fast hun­dert Wörter im Glos­sar. Vielle­icht der Anfang eines wun­der­baren neuen Mythos…

ARMSTRONG, Ter­ence, Bri­an ROBERTS und Charles SWITHINBANK (1966). Illus­trat­ed glos­sary of snow and ice. Cam­bridge: Scott Polar Research Institute.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

6 Gedanken zu „Schneegestöber

  1. corax

    Herr Ste­fanow­itsch,

    ich habs dies­mal geah­nt, und ab der Stelle mit GEO hab ichs gewusst. Ich komme aus dem Garten- u. Land­schafts­bau und ein Laie kön­nte bei einem Gespräch mit uns auf den Gedanken kom­men wir hät­ten hun­derte von Namen für Boden also das natür­liche Zeugs an der Erdoberfläche.

    Tat­säch­lich fol­gen wir bloß ein­er Ein­teilung (z.Bsp. nach Korn­größen) die streng nach DIN geregelt ist. Alles was organ­is­ches Mate­r­i­al enthält (dunkel) ist für uns Ober­bo­den alles darunter Unter­bo­den. Der Ober­bo­den wird dann nach Zusam­menset­zung noch in Boden­grup­pen unterteilt. Der Unter­bo­den beste­ht entwed­er aus Sand, Schluff, Ton oder Lehm oder häu­figer ein­er Kom­bi­na­tion also etwa “ansandi­ger Lehm”. Sandi­ge Böden sind z.Bsp. “leichte Böden” tonige Böden sind “schwere Böden”.

    Dann gibts noch geol­o­gis­che Boden­typen wie: Schwarz­er­den, Pod­sol, Gleye etc.

    Dann gibts noch die Eigen­schaften wie gar, steinig, grobkörnig, feinkörnig etc.

    Das heißt es gibt allein in der Veg­e­ta­tion­stech­nik dutzende Kom­bi­na­tio­nen um einen Boden zu beschreiben (wobei nicht alle möglich sind.)

    Dazu kommt noch die Bautech­nik wobei es zumeist auf die Tragfähigkeit und Verdicht­barkeit ankommt. Fließend, brei­ig, verdicht­bar, knet­bar. Sowie die Ein­teilung nach zusam­menge­set­zten Korn­größen und Sieblin­ien und deren Herkun­ft. Kiese und Sande rund­körnig, Schot­ter und Splitte gebrochen, schar­fkantig oder kom­biniert z. Bsp. Splittbrechsand.

    Dann noch die Ein­teilung nach Funk­tion als Sauberkeitss­chicht, Drain­schicht, Frostschutzschicht, Tragschicht oder Deckschicht.

    Gärt­ner ken­nen also hun­derte unter­schiedliche Begriffe für etwas das Mar­ius Müller-West­ern­hagen als “Dreck” beze­ich­nete: “Straßen sind aus Dreck gebaut…” die aber alle bloß auf ein paar genormten Grun­dele­menten beruhen. Und das ist nur der Land­schafts­bau. Es fehlen noch z. Bsp. für den Zierpflanzen­bau die ganzen Erden und Sub­strate also speziell ange­fer­tigte Mischungen.

    Und bei vie­len anderen Beruf­s­grup­pen wird es ähn­lich­es geben.

    Pax

    Antworten
  2. Wolfgang Hömig-Groß

    Wenn Sie mir die Auf­nahme eines Seit­e­naspek­tes (Sprache und Denken) in fra­gen­der Weise ges­tat­ten: Sind Sie auch irgend­wie an dem Forum “Sprache und Denken” der HU Berlin am 30. Novem­ber beteiligt? Evtl. als Vor- oder Beitragender?

    Antworten

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