Erdbeereis und Jungfräulichkeit

Von Anatol Stefanowitsch

Vorhin habe ich einen Trail­er für einen Sat1-Film mit dem Namen Erd­bereis mit Liebe gese­hen. Der Film ist eher nichts für mich (schon allein, weil wed­er Sigour­ney Weaver noch Jack Nichol­son darin mit­spie­len), aber ein feuriger ital­ienis­ch­er Eis­mann sagt darin fol­gen­den Satz zu sein­er neuen deutschen Chefin: „Im Ital­ienis­chen gibt es noch nicht ein­mal ein Wort für Diäteis!“

Diesen Satz fand ich aus zwei Grün­den inter­es­sant. Erstens, weil ich mich frage, ob er wohl stimmt. Mein Ital­ienisch ist sehr schlecht, aber mit ein biss­chen Hil­fe von Google Trans­late habe ich mir zusam­men­gereimt, dass Diäteis auf Ital­ienisch gela­to di dieta heißen müsste. Und tat­säch­lich find­en sich dafür nur ganze drei Google-Tre­f­fer, es gibt das Wort also tat­säch­lich nicht so richtig (ja, man kann es dur­chaus als Wort beze­ich­nen, obwohl es eigentlich aus drei Wörtern beste­ht, aber das soll uns heute nicht inter­essieren). Falls jemand ein besseres (und häu­figeres) ital­ienis­ches Wort für Diäteis ken­nt, wäre ich für einen Hin­weis dankbar.

Der zweite inter­es­sante Aspekt des oben zitierten Satzes ist die Redewen­dung In Sprache X gibt es noch nicht ein­mal ein Wort für Y (oder Sprache X hat noch nicht ein­mal ein Wort für Y). In dieser Redewen­dung ist ja eine Art All­t­ags­the­o­rie enthal­ten, dass Men­schen zunächst ein Wort für etwas brauchen, bevor sie darüber nach­denken kön­nen. Wenn unser Eis­mann sagt „Im Ital­ienis­chen gibt es noch nicht ein­mal ein Wort für Diäteis“, dann meint er damit ja so etwas wie „Die Ital­iener ken­nen nicht nur kein Diäteis, sie kön­nen sich noch nicht ein­mal vorstellen, was das sein soll“. Diese All­t­ags­the­o­rie steckt auch hin­ter George Orwells Neusprech, einem total­itären Sprach­sys­tem, in dem Wörter für uner­wün­schte Ideen wie Frei­heit oder Gle­ich­heit nicht existieren. So sollen die Men­schen daran gehin­dert wer­den, über diese Ideen über­haupt nachzu­denken. Die All­t­ags­the­o­rie passt außer­dem zum Mythos von den vie­len Eski­mowörtern für Schnee: dieser Mythos geht ja auch davon aus, dass die ange­bliche sprach­liche Aus­d­if­feren­zierung des Schnee­vok­ab­u­lars den Eski­mos ein ver­tieftes Ver­ständ­nis ver­schieden­er Schneep­hänomene ermöglicht.

Tat­säch­lich ist das Ver­hält­nis von Sprache und Denken wohl eher umgekehrt: wenn beispiel­sweise neue Tech­nolo­gien (wie Diäteis) in eine Sprachge­mein­schaft einge­führt wer­den, schaf­fen sich die Sprech­er schnell das dazuge­hörige Vok­ab­u­lar. Sie kön­nen also dur­chaus über Dinge nach­denken, für die sie keine Wörter haben — son­st wür­den sie ja gar nicht merken, dass ihnen ein Wort fehlt. Und das ist nicht nur bei neuen Objek­ten, Tech­nolo­gien oder Kul­tur­prak­tiken so, son­dern auch bei vie­len alltäglichen Din­gen und Ereignis­sen, die wir alle ken­nen und über die wir reden kön­nen, für die wir aber keine Wörter haben. Dou­glas Adams und John Lloyd haben in ihrem Wörter­buch The (Deep­er) Mean­ing of Liff (dt. Der (tief­ere) Sinn des Labenz) auf nicht ganz ern­st­ge­meinte Weise hun­derte solch­er mehr oder weniger ver­trauter Ideen gesam­melt und Wörter dafür erfun­den (bzw. Ort­sna­men dafür zweckentfremdet).

Drei Beispiele aus der englis­chen Originalausgabe:

Dip­ple (vb.)

To try to remove a sticky some­thing from one hand with the oth­er, thus caus­ing it to get stuck to the oth­er hand and even­tu­al­ly to any­thing else you try to remove it with.

Etwas Kle­briges von der einen Hand mit der anderen Hand zu ent­fer­nen ver­suchen, wobei es an der anderen Hand kleben bleibt, und schließlich auch an allem anderen, mit dem man es zu ent­fer­nen versucht.

Lin­gle (vb.)

To touch bat­tery ter­mi­nals with one’s tongue.

Die Pole ein­er Bat­terie mit der Zunge berühren

Stib­bard (n.)

The invis­i­ble brake ped­al on the passenger’s side of the car.

Das unsicht­bare Brem­spedal auf der Beifahrer­seite des Autos

Wenn man im Inter­net nach den Wörtern „nicht (ein)mal ein Wort für“ sucht, find­et man übri­gens eine Unzahl von poten­ziellen Sprach­mythen, die jed­er für sich einen eige­nen Beitrag wert wären. Ich nenne hier ein­fach drei Behaup­tun­gen, die mir beson­ders gut gefall­en und die garantiert alle kein­er­lei Bezug zur sprach­lichen Real­ität haben:

  1. Ich habe von einem afrikanis­chen Einge­bore­nen­stamm gele­sen, in dem es nicht mal ein Wort für „Ich“ gibt. Eine Gruppe jagt, eine andere fis­cht, eine Gruppe macht Klei­dung, und alles gehört allen. Sie haben aber den Vorteil, „alle“ zu ken­nen. [Die Gesellschafter]
  2. Bish­er hat­ten die Finnen nicht ein­mal ein Wort für Amok­lauf, Finn­land hat eine sehr niedrige Krim­i­nal­ität­srate. [West­deutsche Zeitung]
  3. Die Ehen sind monogam, vor der Ehe genießen aber Män­ner wie Frauen sex­uelle Freizügigkeit. Ganz ungewöhn­lich für Moslems und eigentlich auch für Chris­ten: Es wird keine Jungfräulichkeit von den Frauen erwartet. Es gibt in Tam­aschek noch nicht mal ein Wort für Jungfräulichkeit. [http://www.wdr.de/tv/abenteuerglueck/mali_leben_familien.phtml]

Genaugenom­men weiß ich nicht, ob diese Aus­sagen stim­men oder nicht. Aber eine Sprache, die das Pronomen ich nicht ken­nt? Wohl kaum. Und selb­st wenn es in Finn­land noch nie einen Amok­lauf gegeben haben sollte, mussten sich finnis­che Krim­i­nolo­gen, Sozi­olo­gen, Anthro­polo­gen und viele andere Beruf­s­grup­pen ja irgend­wie über Amok­läufe in anderen Län­dern unter­hal­ten kön­nen [Nach­trag (22:40): Kon­nten sie auch: siehe Kom­mentare 8 und 9]. Dass bei diesem oder jen­em Natur­volk freie Liebe an der Tage­sor­d­nung ist und weib­lich­er Jungfräulichkeit keine Bedeu­tung beigemessen wird, ist eine hart­näck­ige Wun­schvorstel­lung „zivil­isiert­er“ Gesellschaften. Bestätigt haben sich solche Behaup­tun­gen nie.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

17 Gedanken zu „Erdbeereis und Jungfräulichkeit

  1. A.T.

    Ich würde sagen, nie­mand geht davon aus, dass eine Aus­d­if­feren­zierung des Schnee­vok­ab­u­lars den Eski­mos ein ver­tieftes Ver­ständ­nis ver­schieden­er Schneep­hänomene ermöglicht. Man geht natür­lich davon aus, dass sie das Vok­ab­u­lar haben, ger­ade weil Ihre Umwelt sie zu einem ver­tieftes Ver­ständ­nis zwingt. Im Übri­gen kann man natür­lich Wörter erfind­en, aber sie bleiben rel­a­tiv nut­z­los, solange sie nie­mand anderes ver­wen­den möchte. Wenn den Ital­ienern nun Diäteis keinen Gedanken wert ist, kann der Eis­mann noch so viele Wörter dafür erfind­en, “das Ital­ienis­che” wird trotz­dem kein Wort dafür haben, genau­so wenig wie für das unsicht­bare Brem­spedal (und ob eine Umschrei­bung ein Wort ist?).

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  2. A.T.

    Und noch ein Nach­trag sei ges­tat­tet: Bei der Diskus­sion um die Wörter für Schnee habe ich das Gefühl, das zwei Seit­en aneinan­der vor­bei reden.

    Ich würde annehmen, dass kaum jemand bezweifelt, dass ein deutsch­er Geologe oder ein ander­er Experte für Eis und Schnee genau­so viele oder vielle­icht noch viel mehr Arten von Schnee unter­schei­den kann als ein Eski­mo, aber wahrschein­lich geht es gar nicht darum, son­dern vielmehr darum, dass der durch­schnit­tliche Eski­mo höchst­wahrschein­lich mehr Arten von Schnee unter­schei­den und benen­nen kann, als der durch­schnit­tliche Deutsche, ein­fach weil er sich viel inten­siv­er damit beschäftigt. 

    Es wäre also möglich, dass es hier um den Unter­schied zwis­chen All­ge­mein­wortschatz und Fach­wortschatz geht.

    Der Ver­gle­ich leuchtet vielle­icht ein, wenn man ein anderes Beispiel nimmt. Der durch­schnit­tliche Mus­lim in Sau­di-Ara­bi­en wird höchst­wahrschein­lich für ein christlich­es Gotte­shaus nur ein Wort ken­nen, genau­so, wie ein durch­schnit­tlich­er Deutsch­er wohl nur das Wort Moschee für ein mus­lim­is­ches Gotte­shaus ken­nt. Man kann davon aus­ge­hen, dass der Araber nicht Unter­schei­den kann zwis­chen den Funk­tio­nen von Dom, Kapelle, Kathe­drale, Mün­ster, Pfar­rkirche, Fil­ialkirche, Klosterkirche und Basi­li­ka. Eben­so wird der Deutsche wohl nicht unter­schei­den kön­nen zwis­chen der Moschee für Fre­itags­ge­bete, des kleinen Betraumes ohne Minarett und dem Gebäude mit Minarett oder der Moschee für einen Bezirk. Ich müsste in diesem Fall wohl Umschrei­bun­gen ver­wen­den, weil das Deutsche entwed­er keine Wörter für diese Baut­en hat oder sie dem durch­schnit­tlichen Deutschen fremd sind. Man kann wohl davon aus­ge­hen, dass das Ara­bis­che eben­falls kein Wort für Mün­ster hat oder dieses Wort dem durch­schnit­tlichen Araber nichts sagen wird. Das schließt natür­lich nicht aus, dass sich Experten in bei­den Sprachen über alle Gebäude­typen unter­hal­ten können.

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  3. blue sky

    Diät- entspricht dem ital­ienis­chen dieteti­co, also eher gela­to dieteti­co als di dieta.

    Davon abge­se­hen sehe ich einen wahren Kern in der Redewen­dung “… haben kein Wort für…”. Natür­lich bieten ver­mut­lich alle Sprachen genü­gend Mit­tel, um aus dem Ste­greif neue und den meis­ten Sprech­ern sofort ver­ständliche Begriffe zu bilden, ob nun syn­tak­tisch oder durch Ableitung und Kom­po­si­tion. Insofern haben sie ein Wort dafür. Aber was davon tat­säch­lich lexikalisiert wird, halte ich dur­chaus für bee­in­flusst von Lebenswelt und Men­tal­ität der Sprech­er. Ich kenne z. B. keine Sprache, in der ein ähn­lich fest­ste­hen­des Äquiv­a­lent zu “vorau­seilen­der Gehor­sam” existiert.

    [Ken­nen Sie das Buch “The Mean­ing of Tin­go”? Eine sehr kurzweilige Samm­lung von kuriosen Begrif­f­en aus allen möglichen Sprachen, die sprach­ab­hängi­gen, über­raschen­den Detail­re­ich­tum zeigen oder sonst­wie schw­er zu über­set­zen sind. Nicht ger­ade wis­senschaftlich, aber lesenswert.] 

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  4. Anatol Stefanowitsch

    A.T., Ben­jamin Lee Whorf, in dessen Werken der Schnee­mythos seinen Anfang nahm, hat in diesem Fall tat­säch­lich die vernün­ftige Auf­fas­sung vertreten, dass die Umwelt der Eski­mos ein dif­feren­ziert­eres Schneev­er­ständ­nis erzwingt und dass für dieses Ver­ständ­nis dann ein Vok­ab­u­lar gefun­den wer­den muss:

    Wir haben nur ein Wort für fal­l­en­den Schnee, Schnee auf dem Boden, Schnee, der zu eis­ar­tiger Masse zusam­menge­drückt ist, wässeri­gen Schnee, wind­getriebe­nen, fliegen­den Schnee usw. Für einen Eski­mo wäre dieses allum­fassende Wort nahezu undenkbar. Er würde sagen, fal­l­en­der Schnee, wässeriger Schnee etc. sind wahrnehmungsmäßig und ver­hal­tens­mäßig ver­schieden, d.h. sie stellen ver­schiedene Anforderun­gen an unser Umge­hen mit ihnen. Er benützt daher für sie und andere Arten von Schnee ver­schiedene Wörter. (B.L. Whorf, Sprache, Denken, Wirk­lichkeit)

    Allerd­ings ist es nicht schw­er, Beispiele für Aus­sagen zu find­en, bei denen dieser Kausalzusam­men­hang in der von mir beschriebe­nen Art umge­dreht wird. Diese drei Beispiele habe ich in unter zwei Minuten gefunden:

    Nach Whorf bee­in­flusst die Sprache die Wahrnehmung und das Denken (Weil die Eski­mos so viele Wörter für Schnee ken­nen ist Schnee für sie so wichtig).“ [Link (PDF)]

    In manchen Eski­mo­sprachen gibt es über 20 ver­schiedene Beze­ich­nun­gen für Schnee, deshalb nehmen die Eski­mos den Schnee auch dif­feren­ziert­er wahr als wir, für deren Lebenswirk­lichkeit er nicht diese Bedeu­tung hat. Da jede Sprache die Welt anders gliedert, ver­fügt jede Sprachge­mein­schaft über ein anderes Bewusst­sein von der Welt.“ [Link]

    Die Inu­it haben eine Unmenge von Wörtern, um die ver­schiede­nen For­men von Schnee zu benen­nen. Wo wir mit weni­gen Begrif­f­en auskom­men, ver­wen­den sie viel dif­feren­ziert­ere Begriffe. Damit ist auch ihre Wahrnehmung schon viel genauer und fein­er. Zwei ver­schiedene Sprachen verkör­pern dem­nach zwei ver­schiedene Welt­sicht­en.“ [Link]

    Da wir bei­de vom Fach sind, wür­den wir diesen Denk­fehler vielle­icht nicht machen, aber viele Men­schen machen ihn — deshalb würde ich von ein­er „All­t­ags­the­o­rie“ sprechen.

    Der Ein­wand mit dem Unter­schied von Fach­sprache und all­ge­meinem Sprachge­brauch ist natür­lich bedenkenswert (er spielt auch in der Diskus­sion zu diesem Beitrag eine entschei­dende Rolle. Allerd­ings muss man hier zwis­chen Wörtern und ihren Def­i­n­i­tio­nen unter­schei­den. Das Beispiel mit dem Wort­feld Kapelle, Kathe­drale, Mün­ster, Pfar­rkirche, Fil­ialkirche, Klosterkirche und Basi­li­ka zeigt dies. Ich, als Mut­ter­sprach­ler des Deutschen, kenne alle diese Wörter. Ich bin aber nicht in der Lage, für ein einziges davon eine Def­i­n­i­tion zu liefern, die über „eine Art von Kirche“ hin­aus­ge­ht (ich habe so eine Ahnung, dass Kathe­dralen größer sind, als Pfar­rkirchen, aber wet­ten würde ich darauf nicht). Nun bin ich ein kon­fes­sion­s­los aufgewach­sen­er überzeugter Athe­ist, aber ich würde ver­muten, dass es auch vie­len Chris­ten nicht möglich wäre, den Großteil der Wörter genau zu definieren. Han­delt es sich deshalb um fach­sprach­liche Begriffe? Meinem Sprachempfind­en nach sind es Wörter der deutschen All­ge­mein­sprache, auch wenn ihre genauen Def­i­n­i­tio­nen fach­sprach­lich sein mögen.

    Und ob der Begriff gela­to di dieta, wenn er denn existierte, ein „Wort“ wäre, oder nicht, darüber kön­nte man sich­er tre­f­flich stre­it­en. Ich behaupte ein­fach mal, dass es sich um eine Art Gen­i­tivkom­posi­tum han­deln würde (Kom­posi­ta haben ja auch im Deutschen häu­fig eine „umschreibende“ Anmutung.

     

    Blue Sky, danke für den Über­set­zungsvorschlag für Diäteis, der es immer­hin schon mal auf 300 Google-Tre­f­fer bringt.

    Im Englis­chen gibt es die Begriffe pre­emp­tive obe­di­ence und antic­i­pa­to­ry obe­di­ence, die sich zwar häu­fig in Diskus­sio­nen über den deutschen Nation­al­sozial­is­mus find­en und somit sich­er als Lehnüber­set­zun­gen zu betra­cht­en sind, die sich aber nicht auf diese Kon­texte beschränken. Allerd­ings brin­gen sie es gemein­sam nur auf knapp 1000 Google-Tre­f­fer, während es die ver­schiede­nen Flex­ions­for­men von vorau­seilen­der Gehor­sam auf über 100.000 Tre­f­fer brin­gen. Solche Häu­figkeit­sun­ter­schiede sind m.E. tat­säch­lich ein guter Hin­weis darauf, ob ein ver­sprach­licht­es Konzept fes­ter Bestandteil ein­er Sprache ist (viel entschei­den­der als die Frage, ob etwas ein „Wort“ ist, oder nicht). Beim wahren Kern der Redewen­dung würde ich Ihnen zus­tim­men, aber dieser Kern („die Lebenswelt bee­in­flusst die Sprache“) ist ja nicht die Bedeu­tung. Das „nicht mal“ sug­geriert ja, dass erst das Wort da sein muss, dass also die Sprache die Lebenswelt beeinflusst.

    Das erwäh­nte Buch werde ich mir auf jeden Fall ein­mal anse­hen, aber der Klap­pen­text („Did you know that in Ger­many a young man with sus­pi­cious­ly good man­ners is called Tan­ten­ver­führer…“) lässt nichts Gutes ahnen…

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  5. dirk

    Kein Wort für “Ich”, das find­et sich auch in: Georg W. Alsheimer: Viet­name­sis­che Lehr­jahre, 1968. Er gibt Beispiele wie man dann spricht, grup­pen­be­zo­gen nämlich.

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  6. Anatol Stefanowitsch

    Dirk, ich weiß nicht, auf welche Sprache sich Alsheimer da bezieht, aber wenn es das Viet­name­sis­che ist, dann irrt er, wenn er sagt, dass es dort kein Wort für „ich“ gäbe (die Wikipedia weiß es wieder ein­mal bess­er). Allerd­ings scheint das Viet­name­sis­che ein inter­es­santes Pron­im­i­nal­sys­tem zu haben, in dem das Wort für „ich“ nicht häu­fig ver­wen­det wird. Stattdessen wird dann mit Bezug auf hier­ar­chis­che Ver­hält­nisse gesprochen zu wer­den (das kön­nte man wohl als „grup­pen­be­zo­gen“ bezeichnen).

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  7. dirk

    Bergstämme”, mit der Genauigkeit hapert es da ein wenig. Alsheimer war als Arzt in Viet­nam. Das Buch ist den­noch lesenswert.

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  8. Wolfgang Hömig-Groß

    Übri­gens gibts nicht nur im Finnis­chen, son­dern auch im Deutschen kein Wort für “Amok”. Deshalb haben wir uns das Wort ja aus dem malai­is­chen ausgeliehen.

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  9. Anatol Stefanowitsch

    Herr Hömig-Groß, richtig! Da hätte ich auch selb­st drauf kom­men kön­nen. Das Finnis­che hat selb­stver­ständlich ein Wort für Amok, näm­lich das gle­iche wie wir: amok. Amok­lauf heißt auf Finnisch amok-juok­su, wörtlich „Amok­lauf“. Der Ein­trag dazu in der finnis­chen Wikipedia existiert seit Mai 2006, das Wort ist also keines­falls durch die jüng­sten tragis­chen Ereignisse in die Sprache einge­gan­gen. Aber so entste­hen Sprach­mythen: die Welt schreibt am 8.11. „Für Amok­lauf gab es in der finnis­chen Sprache nicht mal ein Wort“, und die West­deutsche Zeitung und die Berlin­er Mor­gen­post schreiben es am 9.11. ab. Ver­mut­lich find­en wir diesen Mythos in ein paar Jahren in Man­age­mentsem­inaren anstelle des langsam etwas müde wer­den­den Schneemythos.

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  10. Chat Atkins

    Jour­nal­is­ten sind notorische Abschreiber, ler­nen wir daraus — und fol­glich pflanzen sich solche Fehler (wie ‘kein finnis­ches Wort für Amok­lauf’) ewig fort. In der Geschichtswis­senschaft war es zu mein­er Stu­den­ten­zeit üblich, in län­gere Arbeit­en ein beson­ders präg­nantes und plau­si­bles Fake-Zitat einzu­flecht­en, um dann lachend zu ver­fol­gen, wie es durch alle Fol­gev­eröf­fentlichun­gen seine Spur zog. Und was der Wis­senschaft recht ist, muss dem Boule­vard bil­lig bleiben.

    Beim Mythos der fehlen­den sprach­lichen Ich-Konzepte würde ich eher auf eine bes­timmte Zeit tip­pen, zu der ein Sekundär­text ent­stand, der so etwas behauptete: In diesem Fall irgend­wo zwis­chen 1970 und 1990, dort war das Bedürf­nis nach Kollek­tiv­ität beson­ders aus­geprägt, eben­so wie das nach Beglaubi­gun­gen der Möglichkeit eines völ­lig kollek­tivierten Lebens in frem­den Kul­turen. Anders aus­ge­drückt: Wo der ’neue Men­sch’ gefordert wird, wird ‘das Ich’ verachtet.

    Der Whorf hat­te schw­er zu lei­den unter den Leuten von der GTG-Front, die von ange­bore­nen uni­ver­salen Sprachkonzepten träumten. Ein gewiss­er Pul­lum ließ sog­ar ‘den großen Eski­mo­vok­ab­u­larschwindel’ 1991 platzen, indem er nach­wies, dass auch der Eski­mo gar nicht so viele Wörter für ‘Schnee’ ken­nt. Inzwis­chen ist Whorf — sel­ber ja kein Lin­guist — wieder halb­wegs reha­bil­i­tiert. Nie­mand würde bestre­it­en, dass die Sprache das Denken ‘lim­i­tiert’. Die Frage ist nur, wie sehr — und ob sich nicht jede Sprache das nötige Vok­ab­u­lar her­an­schafft, ist das Bedürf­nis nach neuen Wortkonzepten erst ein­mal da. Not­falls eben durch Lehn­wörter wie ‘Amok’ …

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  11. Wolfgang Hömig-Groß

    Ich glaube, dass man eine Menge mehr denken als sagen kann — Intu­ition scheint ja nach neueren Forschun­gen real zu existieren und ist ger­adezu das Muster­beispiel dafür, dass man mehr weiß, als man, äh sozusagen: weiß. Genau so sieht man häu­fig irgend­wo in Gesellschaft, Sport und Tech­nik Zusam­men­hänge, ohne sie grif­fig benen­nen zu kön­nen. Amok ist dafür ein Beispiel; das Wort führt mehrere getren­nt benennbare Aspek­te zusam­men und schafft einen neuen Begriff für ihr gemein­sames Auftreten.

    Wie sehr auch die Zusam­men­hänge bere­its vorher im Kopf (also schon gedacht bevor gesprochen) sind, habe ich erst gestern wieder bemerkt, als ich das schöne Wort “Astro­turf­ing” ken­nen­lernte: Es fasst in einem — zudem wun­der­bar gewählten — Wort zusam­men, wofür man son­st halbe Auf­sätze schreiben müsste.

    Wie groß der Druck auf die Sprache ist, Wörter für neue Konzepte her­beizuschaf­fen, lässt sich z.B. im Wortis­tik-Blog der TAZ verfolgen.

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  12. Jens

    Noch etwas: der “Amok­lauf” an der Schule wird in den finnis­chen Medi­en eher mit koulusurma beze­ich­net. koulu ist die ‘Schule’, das Verb sur­ma­ta heißt ‘erschla­gen’ oder ein­fach nur ‘umbrin­gen’.

    Amok­lauf” wird offen­bar nur in Deutsch­land für die school shoot­ings gebraucht.

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  13. Michael

    M.W. ist es in vie­len (süd)ostasiatischen Sprachen nicht oblig­a­torisch, Satzteile zu nen­nen (oder durch Pronom­i­na zu erset­zen). D.h. ein Satz ist etwa auch voll­ständig, ohne daß ein Sub­jekt durch Pronomen (oder Flex­ion­ssuf­fix) genan­nt wird, und in Kom­mu­nika­tion­ssi­t­u­a­tio­nen kann das dann vom Hör­er erschlossen wer­den. Was das “Wort für ich” bet­rifft, so hat nach der Wikipedia das Viet­name­sis­che nicht etwa keines, son­dern eine ganze Skala; das ist damit ver­bun­den, daß Höflichkeit nicht (nur) dadurch aus­ge­drückt wird, wie der Angere­dete benan­nt wird, son­dern durch die Wahl ein­er Selb­st­beze­ich­nung. (Ähn­lich funk­tion­iert es m.W. im Japanis­chen und anderen asi­atis­chen Sprachen). 

    Kurio­sum zur Jungfräulichkeit: Die meis­ten Sprachen, die ich kenne, haben nur einen Ter­mi­nus, der sich v.a. auf junge Frauen bezieht; das Tschechis­che unter­schei­det dage­gen sog­ar ter­mi­nol­o­gisch zwis­chen der von Män­nern (pan­ictví) und von Frauen (panen­ství).

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  14. Wolfgang Hömig-Groß

    Je länger ich darüber nach­denke, desto mehr kommt es mir vor, als sei es nicht so wie die West­deutsche Zeitung denkt, son­dern genau umgekehrt: Wenn das Finnis­che das Wort “Amok” nicht ver­wen­det, den Tatbe­stand aber beschreiben will, muss es ein eigenes Wort dafür schaf­fen. Darin sind die Finnen übri­gens ein­same Spitze — neue finnis­che Wörter zu entwick­eln oder zu kom­ponieren, um neue Tatbestände beschreiben zu kön­nen (Dieter E. Zim­mer hat z.B. Com­put­er­be­griffe in mehreren Sprachen unter­sucht, das finnis­che ver­wen­det die wenig­sten englis­chen Begriffe von allen unter­sucht­en Sprachen).

    Und im Deutschen ist es tat­säch­lich genau anders gelaufen: Weil es kein eigenes Wort gab und die Sprach­schützer geschlafen haben, kon­nte sich hier ein undeutsches Wort fest­set­zen. Wäre also dur­chaus möglich, dass man dafür eines Tages ein deutsches sucht, in dieser, na wie heißt sie noch, ?-Aktion.

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  15. Liselotte

    Doch, es ist wirk­lich so: es gibt Naturvölk­er mit freier Liebe.

    Bei den Tro­brian­dern, Inu­it, Mar­que­san­ern, Muria, Moso, .….…

    Wahr ist lediglich, dass nicht ALLE Naturvölk­er freie Liebe ken­nen, son­dern es auch Naturvölk­er mit sehr rigi­den Sex­u­al­nor­men gibt.

    Inter­es­sant ist für mich aber nicht die Frage, was nun “ursprünglich­er”, “nor­maler”, “natür­lich­er”, … ist, son­dern die, was wir daraus schließen kön­nen: während die Völk­er mit rigi­den Sex­u­al­nor­men meist sehr kriegerisch und hier­achisch sind, sind freizügige Völk­er generell friedlich (vor allem aber zeigen sich bei ihnen nicht die schreck­lichen Fol­gen, die in Deutsch­land für Kinder­sex prog­nos­tiziert wer­den). Hier ver­bi­eten wir also Dinge, die ein­fach unser­er Norm wider­sprechen, obwohl eigentlich ein Gesetz nur Sachen ver­bi­eten sollte die nach­weis­lich schädlich sind.

    Aber ich komme vom The­ma ab: ob es nun solche Worte gibt, oder nicht, Fakt ist es gibt solche Völk­er und ich weiß nicht, warum sie Wörter für Dinge haben soll­ten, die ihnen nichts bedeuten. Umgekehrt würde ich es für prob­lema­tis­ch­er hal­ten, im Umkehrschluss von fehlen­den Wörtern auf Umstände zu schließen.

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