Falsus in unum, falsus in omnibus

Von Anatol Stefanowitsch

Aus ein­er alltäglichen Per­spek­tive ist das Latein schon deshalb unin­ter­es­san­ter als andere Sprachen, weil es im Prinzip eine tote Sprache ist — auch wenn sie in ein­er sehr eingeschränk­ten Funk­tion, als Amtssprache des Vatikan, kün­stlich am Leben gehal­ten wird. 

Aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht ist das Latein zunächst eine Sprache wie alle anderen. Für Sprach­wis­senschaftler, die sich mit den mod­er­nen Nachkom­men dieser Sprache befassen, ist es natür­lich ein Glücks­fall, dass sie recht umfan­gre­ich doku­men­tiert ist. Für alle anderen ist sie als Objekt sprach­wis­senschaftlich­er Stu­di­en sich­er etwas weniger inter­es­sant als lebendi­ge Sprachen, weil ihr die Mut­ter­sprach­ler fehlen (für Lin­guis­ten ist die Arbeit mit Mut­ter­sprach­lern ein unverzicht­bares Werkzeug), weil die Gesamt­menge der in dieser Sprache vor­liegen­den Texte beschränkt ist und weil sie sich nicht mehr weit­er­en­twick­eln kann. Trotz­dem — grund­sät­zlich ist sie uns gle­ich viel Wert.

Ich sage das so deut­lich, damit nie­mand auf die Idee kommt, dass ich aus beru­flichen Grün­den irgen­det­was gegen das Lateinis­che haben kön­nte. Auch per­sön­lich habe ich nur gute Erin­nerun­gen an den Latei­n­un­ter­richt. Aber ich ärg­ere mich immer wieder über die Lügen und Halb­wahrheit­en, die manche Latin­is­ten ver­bre­it­en, um das Objekt ihrer alt­philol­o­gis­chen Begierde wichtiger ausse­hen zu lassen, als es eigentlich ist. Dabei wer­den im Prinzip immer die gle­ichen Behaup­tun­gen wieder­holt — sehr schön zu sehen diese Woche in der taz, in einem Artikel, der in sein­er Über­schirft behauptet: Latein ist wieder „In“.

Nach ein paar all­ge­meinen und lei­der für die taz ent­täuschend undif­feren­zierten bil­dungs­bürg­er­lichen Befind­lichkeits­floskeln über die Tätowierun­gen von Angeli­na Jolie und David Beck­ham, die alten Römer, den Plan der katholis­chen Kirche, die lateinis­che Messe wieder zuzu­lassen und nach der abstrusen Behaup­tung, die Hol­ly­wood-Filme „O Broth­er, Where Art Thou“ und „Cold Moun­tain“ seien „Cov­erver­sio­nen von Homers Odysee“ gibt der Artikel brav die latin­is­tis­che Pro­pa­gan­da wieder.

Dabei geht es gle­ich mit­ten in die Bildungspolitik:

Die Pisa-Studie, die erst­mals just im Jahr 2000 die deutsche Bil­dung auf die hin­teren Ränge ver­wies, kam da für die ausster­ben­den Unter­richt­szweige ger­ade zur recht­en Zeit. Schließlich sind Eltern nun noch bedachter darauf, ihren Kindern eine ordentliche Bil­dungs­grund­lage zu verpassen.

Die abstruse Idee, es könne einen Zusam­men­hang zwis­chen guten Lateinken­nt­nis­sen und guten Pisa-Ergeb­nis­sen geben, habe ich schon oft gehört. Ich erin­nere zum Beispiel, dass kurz nach Veröf­fentlichung der ersten Pisa-Studie Gün­ter Jauch in irgen­dein­er Talk­show als Bil­dung­sex­perte geladen war (ver­mut­lich, weil er fehler­frei Quizfra­gen von einem Mon­i­tor able­sen kann), wo er dann lateinis­che Ver­ben dek­lin­ierte und sich aus­führlich darüber aus­ließ, dass alles Schlechte dieser Welt mit den fehlen­den Lateinken­nt­nis­sen der jun­gen Men­schen zusammenhinge.

Nichts kön­nte weit­er von der Wahrheit ent­fer­nt sein. Die Pisa-Studie testet nur drei Bere­iche: Lesen von (deutschsprachi­gen) Tex­ten, Math­e­matik und Natur­wis­senschaften. Wenn man die Ergeb­nisse deutsch­er Schüler verbessern will, muss man mit ihnen also drei Dinge tun: Lesen üben, Rech­nen üben und ihnen ein paar grundle­gende natur­wis­senschaftliche Zusam­men­hänge erk­lären. Was man mit Sicher­heit nicht tun muss, ist, ihnen Latein beizubrin­gen, denn das hil­ft wed­er beim Lesen, noch beim Rech­nen, noch bei der Analyse chemis­ch­er Reak­tion­s­gle­ichun­gen. Das lässt sich eigentlich durch ein biss­chen Nach­denken her­leit­en, aber wer externe Evi­denz braucht, der find­et sie in der Pisa-Studie selb­st: in keinem der Län­der, die in der Pisa-Studie vor Deutsch­land gelandet sind (und von denen gab es ja eine ganze Menge), wird mehr Latein unter­richtet, als in Deutsch­land — ja, in vie­len dieser Län­der wird Latein gar nicht mehr unter­richtet (wie der taz-Artikel an ander­er Stelle ganz richtig anmerkt).

Angesichts der zeitlichen Beschränkun­gen, denen der Schu­lun­ter­richt unter­wor­fen ist, müsste eigentlich jedem klar sein, dass man die Zeit, die man mit der Lek­türe von Cäsars Gal­lis­chem Krieg oder Ovids Meta­mor­pho­sen ver­bringt, bess­er in das Ler­nen ein­er lebendi­gen Sprache investieren sollte. Die Latin­is­ten sehen das anders, und der taz-Artikel gibt die Begrün­dung brav wieder:

Wenn es vernün­ftig ist, „lebendi­ge“ Sprachen wie Ital­ienisch, Spanisch, Englisch oder Franzö­sisch zu ler­nen, dann wird die „tote“ Sprache erst recht zum Muss: Latein und seine Gram­matik sind die Grund­lage und Mut­ter weit­ge­hend aller europäis­chen Sprachen.

Selb­st wenn die hier behauptete Ver­wand­schafts­beziehung tat­säch­lich beste­hen würde, wäre das kein Grund, Latein zu ler­nen. Wer Aut­o­fahren will, lernt ja auch nicht erst Reit­en und wer Schreiben ler­nen will, begin­nt nicht mit Höh­len­malereien. Und genau­so gilt natür­lich: wer Englisch ler­nen will, lernt nicht erst Anglo-Friesisch; wer Rus­sisch ler­nen will, lernt nicht erst Altkirchenslaw­isch; wer Schwedisch ler­nen will, lernt nicht erst Alt­nordisch. Die Geschichte ein­er Sprache ist völ­lig irrel­e­vant für ihre Sprech­er. Ich spreche zum Beispiel schon mein ganzes Leben lang Deutsch, ohne ein Wort Alt- oder Mit­tel­hochdeutsch zu beherrschen.

Die behauptete Ver­wand­schafts­beziehung gibt es aber ohne­hin nicht. Das Lateinis­che ist keineswegs „Grund­lage und Mut­ter weit­ge­hend aller europäis­chen Sprachen“ — es ist besten­falls „Grund­lage und Mut­ter“ der roman­is­chen Sprachen (Franzö­sisch, Ital­ienisch, Kata­lanisch, Por­tugiesisch, Rumänisch, Spanisch, und ein paar klein­er Sprachen, deren Sprech­er ich hier um Entschuldigung bitte, dass ich sie nicht alle aufzäh­le). Die roman­is­chen Sprachen sind aber nur ein­er von drei großen Zweigen der Indo-Europäis­chen Sprach­fam­i­lie, die in Europa gesprochen wer­den. Die anderen bei­den sind die ger­man­is­chen Sprachen (Deutsch, Englisch, Friesisch, Jid­disch, Nieder­ländisch, alle skan­di­navis­chen Sprachen, usw.) und die slaw­is­chen Sprachen (Bul­gar­isch, Kroat­isch, Pol­nisch, Rus­sisch, Ser­bisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch, Ukrainisch, Weißrus­sisch, usw.). Und das sind nur die großen Zweige. Hinzu kom­men kleinere Zweige wie die baltischen Sprachen, die hel­lenis­chen Sprachen (von denen nur das Griechis­che übrig geblieben ist), die keltischen Sprachen und ein paar Sprachen, die nicht in die Indo-Europäis­che Sprach­fam­i­lie gehören, aber trotz­dem in Europa gesprochen wer­den (z.B. das Bask­ische, das Est­nis­che, das Finnis­che, das Türkische und das Ungarische). Keine dieser vie­len Sprachen stammt in irgedein­er Weise vom Latein ab — für die indo-europäis­chen Sprachen außer­halb der roman­is­chen Sprach­fam­i­lie ist der let­zte gemein­same Vor­fahre mit dem Lateinis­chen das Pro­to-Indo-Europäis­che, und für die anderen Sprachen gibt es möglicher­weise über­haupt keinen gemein­samen Vorfahren.

Besten­falls hat das Latein eine her­aus­ge­hobene kul­turgeschichtliche Stel­lung. Es war das Englisch der Vor­mod­erne — eine durch eine wirtschaftliche und mil­itärische Welt­macht gestützte Lin­gua Fran­ca. Aber auch das ver­suchen die Latin­is­ten als Plus­punkt zu verkaufen: das Lateinis­che sei ein Phänomen,

das mit ein wenig Glück dazu führen kön­nte, dass die Inte­gra­tion von Kindern mit Migra­tionsh­in­ter­grund bess­er gelingt: „In manchen Berlin­er Schulk­lassen ist die Antike das einzige Ele­ment, das Polen, Let­ten, Deutsche, Türken verbindet“, sagt Kipf. Ger­ade junge Deutschtürken hät­ten oft einen Aha-Effekt, so seine Erfahrung: Schließlich war auch die heutige Türkei einst Teil des Imperi­um Romanum.

Etwa nach dem Mot­to: Seht, liebe Migrantenkinder, vor vie­len hun­dert Jahren sind wir alle gemein­sam von ein paar kriegslüster­nen nordi­tal­ienis­chen Stäm­men unter­drückt wor­den — wir wis­sen also, wie ihr euch fühlt.

Die alten Sprachen — nicht nur das Lateinis­che, son­dern auch das Alt­griechis­che, das San­skrit, das klas­sis­che Aztekisch und Maya, das Althe­bräis­che, das Altara­bis­che, das Altchi­ne­sis­che, das Alt­nordis­che und all die anderen Sprachen, von denen uns mehr oder weniger aus­führliche Texte über­liefert sind — sind ein wertvoller Teil unseres gemein­samen Men­schheit­serbes. Ihr Studi­um ermöglicht es uns, in die Kul­tur unser­er Vor­fahren einzu­tauchen, deren rhetorisches und erzäh­lerisches Geschick zu bewun­dern und aus ihren Tri­umphen und Nieder­la­gen zu ler­nen. Aber ihr Studi­um wird uns wed­er zu kul­tiviert­ern Men­schen machen, noch wird es uns dabei helfen, mod­erne Fremd­sprachen zu ler­nen, und schon gar nicht wird es die Bil­dungskrise in Deutsch­land überwinden.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

24 Gedanken zu „Falsus in unum, falsus in omnibus

  1. buntklicker.de

    Ich behaupte aber trotz­dem, und das aus eigen­er Erfahrung, daß es ein Glücks­fall ist, daß ich zuerst Latein und dann englisch gel­ernt habe. Zumin­d­est für einen bes­timmten Typ von Sprach­ler­nen, zu denen ich offen­bar gehöre, ist es ein­fach­er, eine Sprache zu erler­nen, wenn man einen Ein­blick in den the­o­retis­chen Unter­bau gewon­nen hat. Und den erhält man im Latei­n­un­ter­richt. Da von der gram­ma­tis­chen Struk­tur — zumal vom Zeit­en­schema — das Englis­che und auch das Deutsche große Ähn­lichkeit­en mit dem Lateinis­chen haben (aus welchem Grund auch immer, es ist jeden­falls so), kann einem der Latei­n­un­ter­richt sowohl beim Englis­chler­nen als auch beim Ver­ste­hen der Struk­tur der eige­nen Sprache von großem Nutzen sein. Ver­mut­lich kön­nte man auch lebendi­ge Sprachen so lehren wie es mit Latein geschieht, es macht nur niemand.

    Im Falle des Englis­chen kommt dazu, daß das englis­che Vok­ab­u­lar sich zum großen Teil aus ger­man­is­chen Wort­stäm­men ein­er­seits und Lehn­wörtern aus roman­is­chen Sprachen ander­er­seits rekru­tiert. Zum ger­man­is­chen Teil haben Deutsch-Mut­ter­sprach­ler ohne­hin einen guten Zugang; kommt noch ein gesun­der Sock­el an lateinis­chem Vok­ab­u­lar hinzu, so wird man mit dem Ler­nen englis­ch­er Vok­a­beln nicht mehr gar so viel Mühe haben.

    Ich vertrete keineswegs die These, daß Latein der Schlüs­sel zur Lösung der Bil­dungsmis­ere ist. Aber ich unter­stütze dur­chaus die Behaup­tung, daß Latein als erste Fremd­sprache eine große Hil­fe beim späteren Erler­nen ander­er Sprachen wie Englisch, Franzö­sisch oder Spanisch sein kann (nicht muß).

    Wer natür­lich in der Fün­ften mit Latein “gequält” wird und man­gels passender Denkschema­ta (oder aus­re­ichen­den Lerneifers) keinen Spaß am Latein­ler­nen hat, der wird in der Siebten auch nicht bess­er mit Englisch zurechtkom­men, als wenn er es in der Fün­ften bekon­nen hätte.

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  2. Chat Atkins

    Naja, im Prinzip alles richtig. Aber diese selt­same Sprache, die ständig Per­son­al­pronom­i­na und andere hil­fre­iche Bezugswörter ver­schluck­te und zugle­ich Unmen­gen von gram­ma­tis­ch­er Infor­ma­tion in nur ein­er Verb-Endung verk­lausulierte, die brachte mir damals eine Menge von ‘Auf­dröselspaß’: Vor jedem neuen Satz stand ich wie vorm Anfang der Welt, als erstes wurde das Verb erlegt, um seine Eingewei­de zu beschauen — usw. Kom­bi­na­tion­s­gabe hat das Latein also schon geweckt.

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  3. Ruben L.

    Psst. Die For­mulierung „Ich erin­nere […], dass“ bitte klammheim­lich durch was Kor­rek­tes erset­zen und diesen Kom­men­tar danach wieder löschen – mit etwas Glück hat’s son­st noch kein­er gemerkt!

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  4. mawa

    Das izt so zwar alles richtig; trotz­dem ist es so, dass Lateinken­nt­nis das Franzö­sis­chler­nen erhe­blich befördert (und umgekehrt), aber auch das Englis­chler­nen, und dass, wenn man erst ein­mal Deutsch, Franzö­sisch, Englisch, und Latein kann, mit den roman­is­chen und auch viele anderen indoeu­ropäis­chen Sprachen irgend­wie ganz gut klarkommt. Als Teil ein­er sys­tem­a­tis­chen Strate­gie des Erwerbs möglichst viel­er Sprachken­nt­nisse halte ich Latein­ler­nen für äußerst sinnvoll.

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  5. Krimileser

    Ich habe ger­ade keine Lust mich durch die Eingewei­de des Inter­nets zu arbeit­en, und die Fach­leute wer­den diese und ähn­liche Stu­di­en eh ken­nen. Aber ich erin­nere mich an eine Studie (SZ oder ZEIT), die unter­sucht hat, ob Stu­den­ten die an der Uni eine roman­is­che Sprache ler­nen, sich leichter tun, wenn sie in der Schule Latein hatten. 

    Tun Sie nicht. Dem­nach wäre Latein eben nicht das Sprach­lern­werkzeug, als das es auch hier in den Kom­mentaren gepriesen wird.

    Naiv gesagt, ist das schon deshalb unsin­nig, weil jemand der in der 7. Klasse mit Franzö­sisch begin­nt, in aller Regel diese Sprache bess­er beherrschen wird, als jemand der in der Uni mit Franzö­sisch begin­nt und ab der 7. Klasse Latein hatte.

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  6. Anatol Stefanowitsch

    Bun­tk­lick­er, Chat Atkins, der Latei­n­un­ter­richt unter­schei­det sich tat­säch­lich grund­sät­zlich vom Unter­richt der mod­er­nen Sprachen: die kom­mu­nika­tive Wende, die spätestens seit den 1970er Jahren die Gram­matik aus dem Fremd­sprache­nun­ter­richt ver­trieben hat, hat den Latei­n­un­ter­richt nie erre­icht (mit wem sollte man dort auch kom­mu­nizieren). So ist der Latei­n­un­ter­richt das let­zte Refugium für eher kog­ni­tive Lern­er­typen gewor­den, denen die explizite Beschäf­ti­gung mit Gram­matik hil­ft und Freude macht. Ich habe Latein an der Uni­ver­sität belegt und kann den Reiz dur­chaus nachvol­lziehen. Dieser Reiz liegt aber nicht an der lateinis­chen Sprache an sich, son­dern an der Art des Unter­richts. Auf die selbe Art kön­nte man Deutsch, Englisch oder Franzö­sisch unter­richt­en, oder man kön­nte den kog­ni­tiv­en Lern­er­typen einen all­ge­meinen Gram­matikun­ter­richt anbieten.

    Mawa, natür­lich kön­nen Lateinken­nt­nisse beim Französich­ler­nen helfen und umgekehrt, wenn man die eine Sprache bere­its beherrscht. Aber wenn man Franzö­sisch ler­nen möchte, ist es natür­lich ins­ge­samt leichter, das direkt zu tun als erst Latein zu ler­nen (und umgekehrt). Außer­dem hat das Latein hier keine her­aus­ge­hobene Rolle: Spanis­chken­nt­nisse helfen beim Franzö­sis­chler­nen genau­so gut, und man kann sie außer­dem dazu ver­wen­den, mit über 300 Mil­lio­nen Men­schen zu sprechen…

    Um das klarzustellen: ich bin keines­falls gegen Latei­n­un­ter­richt, solange ehrlich gesagt wird, wozu der gut sein soll.

    Ruben L., ich weiß wohl, dass das eine der Kon­struk­tio­nen ist, die den Unwillen von Leuten wie Bas­t­ian Sick erre­gen, aber ich kann selb­st unter aus­führlichem Hinzuziehen meines Sprachge­fühls nicht nachvol­lziehen, wieso. Ich muss annehmen, dass es sich um dialek­tale Vari­a­tion han­delt (der Ein­trag im Ber­tels­mann Wörter­buch beze­ich­net die Ver­wen­dung als „land­schaftlich“). Mal sehen, vielle­icht ist das ja ein The­ma für ein zukün­ftiges Posting.

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  7. Daniel

    Als Lin­guis­tik-Stu­dent bin ich in die Ver­legen­heit gekom­men mehrere “komis­che” Sprachen ler­nen zu müssen.

    Irgend­wann ein­mal war auch Latein dabei. Mein­er Mei­n­ung nach ist Latein nur eine Sprache und sich­er kein Heils­bringer zum Sprachenlernen.

    Um ihre oben erwäh­n­ten heils­brin­gen­den Eigen­schaften des Lateins zu erk­lären möchte ich fol­gende Behaup­tung aufstellen:

    Je mehr Sprachen man lernt, desto leichter fällt das Ler­nen von weit­eren Sprachen. 

    Was Latein vielle­icht beson­ders macht ist die “gefühlte Ferne” der Sprache vom Lern­er. Dadurch bleibt die Sprache abstrakt, dies mag das sys­tem­a­tis­che Denken über Sprache vere­in­fachen. Ob das eurozen­trisch-geprägte sys­tem­a­tis­che Denken über Sprache das Ler­nen von weit­eren Sprachen an sich vere­in­facht möchte ich bezweifeln. Die Kom­mu­nika­tion über Sprache (wie sie im Spra­chunter­richt gefordert wird) vere­in­facht dies aber bestimmt. 

    Ob man dafür Latein ler­nen muss? — Lieber was sin­nvolles! Wie wäre es mit Japanisch, Chi­ne­sisch, Türkisch oder Hin­di? Durch den Abstand zum Deutschen ist zu erwarten, dass beim Ler­nen dieser Sprachen eine sys­tem­a­tis­che Strate­gie im Umgang mit Sprache geschult wird.

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  8. David Marjanović

    die Zeit, die man mit der Lek­türe von Cäsars Gal­lis­chem Krieg oder Ovids Meta­mor­pho­sen verbringt

    Ja, wenn es nur das wäre. Aber damit kann man keine 4 Jahre aus­füllen (zusät­zlich zu den zweien, in denen man die Sprache selb­st lernt). Vergil, Sal­lust, und noch ein paar haben wir gele­sen, einen Satz nach dem anderen (…und so unge­fähr drei Sätze pro Stunde). Und ohne 6 Jahre Latein kriegt man in Wien keine 4 Jahre Rus­sisch. Wenn man die let­zten 3 Jahre ersat­z­los weggekürzt hätte, hätte ich genau­so viel gelernt…

    (Und das, obwohl Alt­griechisch fast nir­gends mehr unter­richtet wird.)

    kommt noch ein gesun­der Sock­el an lateinis­chem Vok­ab­u­lar hinzu, so wird man mit dem Ler­nen englis­ch­er Vok­a­beln nicht mehr gar so viel Mühe haben.

    Das stimmt zwar, aber es funk­tion­iert umgekehrt auch.

    die brachte mir damals eine Menge von ‘Auf­dröselspaß’: Vor jedem neuen Satz stand ich wie vorm Anfang der Welt, als erstes wurde das Verb erlegt, um seine Eingewei­de zu beschauen — usw. Kom­bi­na­tion­s­gabe hat das Latein also schon geweckt.

    Schon, aber nach ein paar Jahren wird das auch fad.

    (Äh… lang­weilig.)

    Was Latein vielle­icht beson­ders macht ist die “gefühlte Ferne” der Sprache vom Lerner.

    Trotz­dem ist es nahe genug, dass man die Gram­matik — mit Vere­in­fachun­gen — allen Sprachen unter­stellen kann, die man als Nor­mal­sterblich­er son­st so lernt. Für Rus­sisch hil­ft das z. B. (“ah, schon wieder ein Instru­men­tal, wie prak­tisch”). Für Chi­ne­sisch hil­ft es über­haupt nicht…

    Ich erin­nere zum Beispiel, dass kurz nach Veröffentlichung […]

    Ah, da ist es. Das habe ich als “ich erin­nere daran” gedeutet — und zwar mit uns als Objekt, nicht reflex­iv (“ich erin­nere mich”). War das nicht gemeint?

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  9. Uwe Spörl

    Als Lit­er­atur­wis­senschaftler, der an einem human­is­tis­chen Gym­na­si­um seine Schul­lauf­bahn absolviert (mit Latein, Englisch und Griechisch als Pflicht­fremd­sprachen) und der neben deutsch­er Lit­er­atur noch Philoso­phie und klas­sis­che Philolo­gie studiert hat, erlaube ich mir zur Bedeu­tung des Lateinis­chen für eine wün­schenswerte Bil­dung (die Lit­er­atur ein­schließt) eine etwas, um nicht zu sagen deut­lich andere Ansicht als Ana­tol Ste­fanow­itsch. Die Standard-“Phrasen” der “Latin­is­ten” bleiben aber natür­lich großteils Unsinn.

    Den­noch kön­nte der Latei­n­un­ter­richt (zumal mit sein­er Aus­rich­tung auf Schriftlichkeit) vielle­icht auch Effek­te fürs Sprachen­ler­nen und auf die Sprach­be­wuss­theit haben. Jeden­falls sprechen ger­man­is­tis­che Lin­guis­ten immer wieder davon, dass diese (ins­bes. im Bere­ich Gram­matik) bei Studieren­den sehr viel aus­geprägter ist, wenn sie an der Schule Latei­n­un­ter­richt hatten.

    Und natür­lich ist — wie der Snob im Bil­dungs­bürg­er weiß — das Griechis­che dem Lateinis­chen natür­lich in jed­er Hin­sicht vorzuziehen.

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  10. dirk

    Auch ich bin ein Gewin­ner des lateinis­chen Gram­matikun­ter­richts, vor allem aber schätze ich den gesellschaftlichen Nutzen viel höher ein. Kein ern­sthafter Hochsta­pler kann hierzu­lande auf Latein verzicht­en. Den Resten des deutschen Bürg­er­tums dienen das Lateinis­che und Griechis­che neben dem Klavier­spiel als Ausweis der Dazuge­hörigkeit in einem Aus­maß, das Nicht­dazuge­hörige gar nicht bemerken. Selb­stver­ständlich braucht man Englisch und Franzö­sisch, gewiss ist Latein kaum ein­er Kar­riere wirk­lich hil­fre­ich, aber es ist noch sehr viel Geld bei net­ten Men­schen, die wenig auf Kar­riere geben und viel auf Cat­ull. Ger­ade die Nichtver­w­ert­barkeit ist der Wert. “Wenn man seine Klas­sik­er um sich ver­sam­melt hat, kann man sog­ar in Neukölln wohnen”, wurde mir erst neulich ver­sicht, damit ich mich ja nicht fürchte, die exzen­trische Res­i­denz kön­nte zur Aus­gren­zung führen. Als Lyrik­er ist mir allerd­ings das Alt- und Mit­tel­hochdeutsche wichtiger.

    Übri­gens habe ich seit etwa zwei Jahren den Ein­druck, dass in den USA neuerd­ings das Deutsche für Dis­tink­tion sorgt, in Ablö­sung teil­weise des Franzö­sis­chen. Lei­der beschränkt sich die Beobach­tung auf Feuil­leton, Lit­er­aturzeitschriften und Lyrik­blogs, da aber stoße ich fast täglich auf deutsche Wörter und Redewen­dun­gen, Niet­zschi im Orig­i­nal, the Dop­pel­gangers usw.

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  11. Stephan

    Sehr geehrter Herr Stefanowitsch,

    zuerst schreiben Sie, dass alle skan­di­navis­chen Sprachen zu den ger­man­is­chen Sprachen gehört, dann heißt es, finnisch gehöre ganz wo anders hin. Wie passt das zusammen?

    Mit fre­undlichen Grüßen

    Stephan

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  12. Anatol Stefanowitsch

    David Mar­janović, „Das habe ich als “ich erin­nere daran” gedeutet — … War das nicht gemeint?“

    Nein, ich hat­te es so gemeint, dass ich mich daran erin­nere. Ich hätte gedacht, dass der Satz die andere Bedeu­tung gar nicht haben kann, aber jet­zt habe ich ihn zwanzig­mal vor mich hinge­sagt und mir dabei vorgestellt, ich wolle jemand anderen an etwas erin­nern, und jet­zt kom­men mir bei­de Bedeu­tun­gen richtig vor…

    Uwe, der Lateinunter­richt kann in der Tat pos­i­tive Auswirkun­gen auf das metasprach­liche Wis­sen der Schüler haben, aber ich denke, das liegt an der Art des Unter­richts. Wie eine Kol­le­gin heute anmerk­te: „Irgend­wo müssen die Schüler halt ler­nen, was ein Adjek­tiv ist, und der Deutschlehrer sagt es ihnen nicht…“. Das Alt­griechis­che ist — ger­ade für Puz­zler — um ein Vielfach­es inter­es­san­ter als das Lateinis­che, da stimme ich völ­lig zu.

    dirk, an die Hochsta­pler hat­te ich nicht gedacht. Unter diesem Aspekt muss ich natür­lich alles zurück­nehmen… Das Alt- und Mit­tel­hochdeutsche schienene mir tat­säch­lich eine sin­nvolle Ergänzung des Stun­den­plans darzustellen, nicht nur für Lyrik­er. Wenn mehr Men­schen mit älteren Sprach­stufen des Deutschen ver­traut wären, wür­den sie nicht so leicht auf die Sicks dieser Welt here­in­fall­en, die Vari­a­tion grund­sätlich für einen durch die Glob­al­isierung und das Wer­be­fernse­hen bed­ingten Sprachver­fall halten.

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  13. Thomas Müller

    @Stephan

    Finnisch ist keine skan­di­navis­che Sprache, son­dern eine finno-ugrische. Übri­gens liegt Finn­land auch nicht in Skan­di­navien, auch wenn einem das nie­mand glauben will. 🙂

    @Erinnern

    Darüber bin ich auch gestolpert. Das dürfte weniger mit Tran­si­tiv­ität als vielmehr mit Reflex­iv­ität zu tun haben. Es gibt noch mehr reflex­ive Ver­ben, die manch­mal ohne Reflex­ivpronomen ver­wen­det wer­den, aber dum­mer­weise fällt mir ger­ade keines ein. So oder so stellt sich die Frage, ob man Reflex­ivver­ben ohne Reflex­ivpronomen ver­wen­den kann. Ich finde das selt­sam, weil es zu implizieren scheint, daß Ver­ben wie “erin­nern” auch nicht-reflex­iv gebraucht wer­den könnten.

    (1) Ich erin­nere mich an XY

    (2) Ich erin­nere dich an XY

    In (2) ist “dich”, meine ich, ein Per­son­al­pronomen, “erin­nern” also nicht reflex­iv gebraucht. Aber mE sind die bei­den Ver­ben in (1) und (2) ver­schiedene Ver­ben, nicht das­selbe “erin­nern”. (“remem­ber” vs “remind”)

    Ob man nun beim reflex­iv gebraucht­en “erin­nern” das Reflex­ivpronomen ver­wen­den muß, weiß ich nicht. Aber meine Intu­ition ist, daß man, wenn man es wegläßt, schlicht das falsche Verb verwendet.

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  14. mawa

    Klar hil­ft jede roman­is­che Sprache beim Erler­nen ander­er roman­is­ch­er Sprachen. Aus dem Uni­ver­sität­sall­t­ag weiß ich aber, dass es ger­ade zwis­chen Franzö­sisch und Spanisch bzw. Ital­ienisch auch zu unge­woll­ten Syn­ergieef­fek­ten in Form von Ver­mis­chung kom­men kann; da wird dann im Franzö­sis­chen per­ma­nent “y” und “aqui” statt “et” und “ici” gesagt, ohne dass es jemand merkt. Latein hat als Aus­gangs­ba­sis den Vorteil, dass es auf Grund seines Tot­seins zwar die Stämme und Struk­turen liefert, aber keine Ver­wech­slungs­ge­fahren aufkom­men lässt. Und wie gesagt, es hat noch den net­ten Neben­ef­fekt, unge­heuer viele Vok­a­beln fürs gehobene Englisch mitzuliefern.

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  15. David Marjanović

    Nein, ich hat­te es so gemeint, dass ich mich daran erinnere.

    Das muss dann wirk­lich niederdeutsch sein. Kein Wun­der in Mbremn, natürlich.

    Wie eine Kol­le­gin heute anmerk­te: „Irgend­wo müssen die Schüler halt ler­nen, was ein Adjek­tiv ist, und der Deutschlehrer sagt es ihnen nicht…“.

    Mir hat man das in der Volkss­chule beige­bracht. *protz* Scheint sich aber auch aufzuhören.

    (Ken­nen alle “sich aufhören”, oder ist das jet­zt ein südlich­er Regionalismus…?)

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  16. Jens

    Ein Nachteil des Gram­matikun­ter­richts für Latein ist aber auch, daß man eben tat­säch­lich nur die spez­i­fisch lateinis­che Gram­matik lernt. Da ken­nt man dann zwar sechs Fälle (von denen man zwei für’s Deutsche gar nicht braucht), aber kann mit stark­er und schwach­er Adjek­tivflex­ion oder Ablautrei­hen nichts anfangen.

    Ich bin für einen eige­nen Abschnitt “(Sprach-)Typologie” im Lehrplan für den Deutschunter­richt. Dafür hätte ich gern auf die ein oder andere Lek­türe und auch auf den Latei­n­un­ter­richt verzicht­en können.

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  17. Detlef Guertler

    Nach gen­er­a­tio­nenüber­greifen­d­em famil­iärem Selb­stver­such mit dem Erler­nen von a) Latein und b) roman­is­chen Sprachen bin ich inzwis­chen um fol­gende Erken­nt­nisse reicher:

    1. Latein gel­ernt zu haben hil­ft sehr dabei, Texte in roman­is­chen Sprachen zu lesen bzw. zumin­d­est halb­wegs zu ver­ste­hen. Wer Latein kann, wird sich in Spanien oder Ital­ien schon irgend­wie zurechtfinden.

    2. Latein gel­ernt zu haben hil­ft ver­flucht wenig dabei, eine roman­is­che Sprache sprechen zu ler­nen. Eben weil man das Lateinis­che nie sprechen musste bzw. durfte.

    3. Zuerst eine roman­is­che Sprache zu ler­nen hil­ft unge­mein dabei, hin­ter­her Latein zu ler­nen. Meine älteste Tochter (12) spricht fließend spanisch und musste jet­zt wegen Schul­wech­sels das kom­plette erste Jahr Latein nach­holen. Das war in den Som­mer­fe­rien ohne allzu große Anstren­gung erledigt.

    4. Zuerst eine roman­is­che Sprache zu ler­nen, hil­ft unge­mein dabei, danach noch eine weit­ere roman­is­che Sprache zu lernen.

    5. Latein wird richtig char­mant, wenn man es so ausspricht, als wäre es Spanisch. 

    6. Latein ler­nen kann für alles mögliche ver­wen­den. Aber es ist nicht wirk­lich das Erler­nen ein­er Sprache, son­dern eher so etwas wie Math­e­matik. Es sei denn natür­lich, man hätte einen Lehrer, der das Lateinis­che so behan­delt, als wäre es Spanisch.

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  18. David Marjanović

    5. Latein wird richtig char­mant, wenn man es so ausspricht, als wäre es Spanisch.

    Das hil­ft aber natür­lich nicht dabei, den Stabreim in ceterum censeo Karthaginem (esse delen­dam) auszu­graben, nicht zu erwäh­nen die Herkun­ft von Kirsche (Frz. cérise), Kiste und Keller (BrE cel­lar).

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  19. Detlef Guertler

    Och, für mich war es ger­adezu ein Erweck­ungser­leb­nis, als ich Jahrzehnte nach dem an der Schule aus­ge­tra­ge­nen Stre­it, ob es nun Zäsar und Zize­ro oder Käsar und Kikero heißt, von mein­er Tochter ganz beiläu­fig darauf gebracht wurde, dass man ja auch ßäsar und ßißero sagen kann, und das man Cicero auch nicht auf dem i beto­nen muss, son­dern genau­so gut auch das e nehmen kann: ßißéro — find’ ich gut!

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  20. FB

    Mag spät sein, aber: Ver­ben dek­lin­ieren? Habe ich in mein­er Schüler­lauf­bahn etwas nicht mit­gekriegt, oder kann man Ver­ben eben doch nur knojugieren?

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