Guy Deutscher über Sprachkritik

Von Anatol Stefanowitsch

Wol­fang Hömig-Groß macht mich auf einen Beitrag des Lei­den­er Sprach­wis­senschaftlers Guy Deutsch­er in der Süd­deutschen Zeitung aufmerk­sam, in dem der sich auf ruhige und intel­li­gente Weise mit dem eben­so ewigen wie sinnlosen Karus­sell der Sprachkri­tik beschäftigt. Dabei geht er unter anderem auf die beliebte These ein, das Deutsche sei derzeit beson­ders stark bedroht:

Die Deutschen scheinen eine schreck­liche Angst vor der Nor­mal­ität zu haben — sog­ar die Selb­st­di­ag­nose des „Klassen­schlecht­esten“ ziehen sie dem Eingeständ­nis vor, „ganz nor­mal“ zu sein. Nur, in dieser Angst sind sie — Verzei­hung! — ganz nor­mal. Von außen betra­chtet fällt am gegen­wär­ti­gen Zus­tand des Deutschen nichts aus dem Rah­men: wed­er der Wan­del, den es derzeit durch­macht, noch die Heftigkeit der Kri­tik an diesem Wan­del. Die Entwick­lun­gen, die wir in den heuti­gen Sprachen beobacht­en, sind von genau der gle­ichen Art wie die Verän­derun­gen, die alle Sprachen seit Jahrtausenden durch­machen. Genau genom­men sind die Kräfte hin­ter dem heuti­gen Sprach­wan­del nicht von denen zu unter­schei­den, die in grauer Vorzeit die kun­stvollen Struk­turen unser­er Sprachen über­haupt erst geschaf­fen haben. Doch mit nahezu der gle­ichen Beständigkeit, mit der sich die Sprache ändert, wer­den Verän­derun­gen von gelehrten Autoritäten als schädlich, verkehrt und gefährlich gekennzeichnet.

Ich ver­linke nor­maler­weise ungern auf die Süd­deutsche, da deren Beiträge nach ein paar Tagen hin­ter ein­er Bezahlmauer ver­schwinden — eigentlich schade, denn es ste­hen immer wieder mal ganz kluge Sachen zum The­ma „Sprache“ darin. Heute mache ich mal eine Aus­nahme: Wer sich beeilt, kann den Artikel hier lesen.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

9 Gedanken zu „Guy Deutscher über Sprachkritik

  1. Tim

    … von genau der gle­ichen Art wie die Verän­derun­gen, die alle Sprachen seit Jahrtausenden durch­machen” — wirk­lich? Gibt es dazu empirische Stu­di­en? Früher wurde die Schrift­sprache ja von viel weniger Men­schen ver­wen­det als heute. Und das soll keinen Ein­fluß haben?

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  2. Christine A.

    @ Tim: Nein, hat es nicht.

    Sprach­wan­del geschieht mündlich, nicht schriftlich. Und je nach­dem, wann die Schrift fix­iert wurde, kann man das auch sehen.

    Nimm z.B. Englisch: Das wird schon lange nicht mehr so gesprochen, wie es geschrieben wird, das­selbe mit Franzö­sisch. Und deutsch eben­so: Du sagst umgangssprach­lich wir [ham] und schreib­st , die sagst [schyssl] und schreib­st Schüssel.

    Es ist ein irriger Gedanke, dass Ver­schriftlichung Sprach­wan­del aufhält, sie verzögert ihn nur ein ganz kein wenig (wenn überhaupt).

    Es gibt insofern empirische Belege, dass man ver­sucht hat, das “Indoger­man­is­che” zu rekon­stru­ieren und das gibt schon den ein oder anderen Auf­schluss. Oder ver­gle­iche Althochdeutsch mit Mit­tel­hochdeutsch mit Früh­neuhochdeutsch mit Neuhochdeutsch… Zu diesen Sprach­stufen gibt es ja doch ein paar schriftliche Belege, auch wenn sie the­o­retis­che Kon­struk­te sind.

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  3. Frank Oswalt

    Der Text wird auch ger­ade im VDS-Forum, äh, gibt es ein Wort für „über etwas reden, ohne es wirk­lich zu disku­tieren“? Nichtkutieren?

    Ich finde den Deutsch­ers Text aber ins­ge­samt auch nicht soo überzeu­gend. Ich habe ger­ade fol­gen­den Kom­men­tar dazu im VDS-Forum hinterlassen:

    Man kann Guy Deutsch­er vielle­icht vor­w­er­fen, dass er (in dem hier zitierten kurzen Text) sehr unter­schiedliche Tra­di­tio­nen der Sprach­be­tra­ch­tung ver­rührt: All­ge­mein­er Deutsch­er Sprachvere­in, Schopen­hauer, Grimm — das ist schon eine wüste Mis­chung. Aber ihm geht es ja um etwas anderes: seine These ist doch, dass jede Sprachge­mein­schaft glaubt, ger­ade sie sei beson­ders stark von anderen Sprachen bedro­ht. Ich weiß nicht, ob ich das hun­dert­prozentig überzeu­gend finde. Ich habe selb­st einige Jahre in den USA gelebt und hat­te den Ein­druck, die Angst vor dem Spang­lish, die Deutsch­er erwäh­nt, ist völ­lig anders motiviert als die deutsche Angst vor dem Denglisch. In den USA find­et sich die Feind­seligkeit beson­ders bei Men­schen, die generell ein­wan­der­erfeindlich sind, also Angst vor ein­er „gesellschaftlichen Über­frem­dung“ haben. In Deutsch­land sehe ich eher die Angst vor „kul­tureller Über­frem­dung“. Das hat auch Kon­se­quen­zen für die Art der sprach­puris­tis­chen Diskus­sion: In den USA gren­zt sie häu­fig an unan­genehme iso­la­tion­i­sis­che und frem­den­feindliche Ideen, in Deutsch­land wird sie eher in einem kul­tur­poli­tis­chen Zusam­men­hang ausgetragen.

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  4. Wentus

    In diesem Zusam­men­hang kön­nte man sarkastisch auch den Sprachver­fall des Lateinis­chen im Vatikanstaat bekla­gen: Wie kön­nen sich die Hüter dieser altehrwürdi­gen Sprache erdreis­ten, Wörter wie “aero­planum” neu einzuführen? Ist das nicht ein Anglizis­mus? Oder umgekehrt? Man kön­nte doch ein­fach The­men ver­mei­den, in denen das mod­erne Leben beschrieben wird! Gute Sprache ist doch schließlich ein höher­er Wert als sim­ple Kom­mu­nika­tion, oder?

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  5. P.Frasa

    @Tim & Chris­tine A: Doch, ich würde schon behaupten, daß die Schrift­sprache einen erhe­blichen Ein­fluß auf eine Sprache (und Kul­tur) ausüben kann. Die Schrift­sprache ist auch — ger­ade heute — nicht NUR ein mar­ginales Phänomen ein­er Über­tra­gung dessen, was gesprochen wird.

    Trotz­dem ändert das nichts an den grundle­gen­den Prinzip­i­en des Sprach­wan­dels, die in weit­en Zügen für ver­schriftlichte Sprachen gel­ten wie für nicht ver­schriftlichte. Das (nicht geschriebene) Cam­ling ist z.B. durch­set­zt mit Wörtern vom Nepali (und im Übri­gen auch vom Ausster­ben bedroht).

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  6. Jens

    @2. In der „nor­malen“ Umgangssprache spricht sich [∫ysl] mit nur einem s, Kon­so­nan­tengem­i­nat­en gibt’s vor allem im süd­west­deutschen Raum (Schweiz!)

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  7. Christine A.

    @ Jens: Upsi, das ist mir in der Tran­skrip­tion ein zuviel reingerutscht, das ist wahr. Ich wollte eigentlich darauf aufmerk­sam machen, dass das nicht mehr gesprochen wird, nicht mal als Schwa. 😉

    Und wenn ich schon dabei bin, kann ich auch meinen anderen Fehler ausmerzen:

    Und deutsch eben­so: Du sagst umgangssprach­lich wir [ham] und schreib­st <wir haben>, du sagst [∫ʏsl] und schreib­st <Schüs­sel>” (Das hab ich tran­skip­torisch unko­r­rekt geschrieben, in Erman­gelung des Wis­sens, wie ich an das Son­derze­ichen komme…)

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