Pluralis avaritiae

Von Anatol Stefanowitsch

Vor dem Landgericht Hildeshiem wurde heute der trau­rige Fall von drei Lot­tospiel­ern ver­han­delt, die jahre­lang gemein­sam in ein­er Tippge­mein­schaft waren. In ein­er Son­derziehung hat­ten sie dann im let­zten Jahr 1,7 Mil­lio­nen Euro gewon­nen. Statt den Gewinn zu teilen, behaupteten dann aber zwei der Spiel­er, der dritte habe just an diesem Spiel nicht teilgenommen.

Der dritte, der zu dem Zeit­punkt der Ziehung im Urlaub war, verk­lagte seine bei­den Mit­spiel­er daraufhin. Er habe den Kol­le­gen seinen Anteil an den Kosten für das Tipp­spiel vor seinem Urlaub gegeben und müsse deshalb auch am Gewinn beteiligt werden.

Wie ich vorhin im Radio gehört habe, führte er als Beweis für seine Sichtweise unter anderem an, dass ihn ein­er der Angeklagten im Urlaub angerufen habe und fol­gen­den Satz gesagt habe: „Wir haben gewon­nen, Sechser mit Zusatzzahl“.

Und hier wird der Fall lin­guis­tisch inter­es­sant. Für den Kläger ist das Tele­fonge­spräch ein klar­er Hin­weis darauf, dass er mit den bei­den anderen am Spiel beteiligt gewe­sen sei.

Das Prob­lem dabei ist aber, dass der Satz Wir haben gewon­nen drei Bedeu­tun­gen hat:

  • A. „Ich und min­destens eine andere Per­son, aber nicht du, haben gewonnen“.
  • B. „Ich und du, und keine andere Per­son, haben gewonnen“.
  • C. „Ich, du, und min­destens eine andere Per­son haben gewonnen“.

Der Kläger behauptet also, die Kläger hät­ten ihm die freudi­ge Botschaft vom gemein­samen Gewinn aller drei Spiel­er mit­teilen wollen. (Bedeu­tung C).

Der Angeklagte behauptet, er habe dem Kläger nur vom Glück der bei­den Angeklagten bericht­en wollen — gemeint gewe­sen sei Bedeu­tung A.

Wer Recht hat, lässt sich anhand dieses Satzes also nicht entschei­den. Wer auch immer hier die Wahrheit sagt, hat das Pech, dass die Angeklagten deutsche Mut­ter­sprach­ler sind. Wären sie Sprech­er des Abcha­sis­chen, des Chamor­ro, des Hixkaryana, des Maori, des Nivkh, des Rapanui, des Taga­log, des War­daman, des Yuchi, des Zoque oder ein­er der vie­len anderen Sprachen gewe­sen, deren Pronom­i­nal­sys­tem sema­tisch fein­er dif­feren­ziert ist als das des Deutschen, wüssten wir genau, was mit dem Satz gemeint wäre.

Denn diese Sprachen haben zwei, manch­mal sog­ar drei ver­schiedene Pronomen wo das Deutsche mit dem über­forderten, vieldeuti­gen wir auskom­men muss.

Nehmen wir als Beispiel das Tok Pisin, eine Kre­ol­sprache, die im neun­zehn­ten Jahrhun­dert ent­stand, als englis­che Mut­ter­sprach­ler (Walfänger, Händler und Plan­ta­genbe­sitzer) in Kon­takt mit Sprech­ern melane­sis­ch­er Sprachen kamen und die heute eine der Amtssprachen von Papua Neuguinea ist. In vie­len dieser Sprachen, die zu ganz unter­schiedlichen Sprach­fam­i­lien gehören, gibt es die Unter­schei­dung zwis­chen der 1. Per­son Plur­al Exk­lu­siv (Bedeu­tung A) und 1. Per­son Plur­al Inklu­siv (Bedeu­tung B/C).

Im Tok Pisin hat sich diese Unter­schei­dung erhal­ten. Man kann dort auf­grund des trans­par­enten und extrem fein aus­d­if­feren­zierten Pronom­i­nal­sys­tems sog­ar alle drei der oben genan­nten Bedeu­tun­gen unmissver­ständlich aus­drück­en. Der tele­fonierende Angeklagte hätte einen der fol­gen­den drei Sätze sagen müssen:

  1. Mipela win­im (Bedeu­tung A, der Kläger wäre ein­deutig ein Lügner);
  2. Yumi win­im (Bedeu­tung B, der Kläger und der SMS-Schreiber hät­ten zusam­men gespielt, der zweite Angeklagte wäre nicht mit von der Par­tie gewesen);
  3. Yumipela win­im (Bedeu­tung C, die Angeklagten wären im nach­hinein raf­fgierig gewor­den und hät­ten ver­sucht, den Kläger auszubooten).

So, wie die Sache ste­ht, ist nur eins klar: Bei 1,7 Mil­lio­nen Euro ist das Wir-Gefühl schnell unwieder­bringlich dahin.

30 Gedanken zu „Pluralis avaritiae

  1. Stefan

    Das Erste, was mir bei den Beispie­len A, B und C ein­fällt, ist, dass sich der Esel immer selb­st zuerst nen­nt *grins* 😉

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  2. Johannes

    Neben dem sprach­lichen möchte ich nicht wis­sen, welch­es Prob­lem erst Juris­ten daraus machen wür­den. Nehmen wir an, jede der bei­den Parteien hätte auch nur einen davon, und die Sache käme vor einen Richter, also einem weit­eren Juris­ten, ich würde mit Nichtwissen bestre­it­en wollen, ich wüsste, wie die Sache auch nur aus­ge­hen könnte.

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  3. Frank Rawel

    Das “Wir” kann also auch bedeuten: wir alle haben gewon­nen, weil doch Lot­tomit­tel nach jed­er Ziehung in edel, gemein­nützige Pro­jek­te fließen. Allerd­ings möchte ich nicht jedes Mal angerufen werden. 

    Was ich sagen will: Mit “Wir” ist meis­tens noch gar nichts gesagt. “Wer wir?” passt als Frage fast immer. Weswe­gen wohl der Deustche gern “Wir zwei” oder “Wir Deutsche” sagt.

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  4. Jens

    Nach ein­er kurzen Bedenkpause für bei­de Parteien lehnt der Vertei­di­ger der Kläger den Ver­gle­ich ab.” Die Bedeu­tung dieses Satzes erschließt sich mir nicht …

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  5. wakaranai

    Inter­es­sant wären hier Unter­suchun­gen, in welchen Sit­u­a­tio­nen Mut­ter­sprach­ler welche Deu­tung des “wir” (A, B oder C) spon­tan bevorzu­gen. Das hat ver­mut­lich schon­mal irgend­je­mand gemacht, ich habe aber nie danach gesucht und momen­tan sind meine Möglichkeit­en sehr beschränkt. Für Lesetipps wäre ich da sehr denkbar (nicht zwangsweise nur für die Deutsche Sprache).

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  6. Christian

    @ Jens:

    Der Vertei­di­ger der Kläger” ist auch blühen­der Unsinn. Der Jour­nal­ist berichtet aus einem Zivil­prozess, da gibt es keine Vertei­di­ger, nur Prozessvertreter.

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  7. Achim

    @ Johannes (#3): Die Sache ist bere­its vor einen Richter gekom­men, siehe den ver­link­ten Spiegel-Artikel.

    @ Jens (#6): Wenn man im zitierten Satz “Vertei­di­ger” durch “Anwalt” erset­zt, gibt es einen Sinn. Vor allem, wenn man den nach­fol­gen­den Satz hinzu­nimmt. Seit Bas­t­ian Sick sich seine Späss­chen mit den Tippfehlern und Rechtschreibprob­le­men ander­er Leute erlaubt, hat der Spiegel offen­bar einen Schlussredak­teur zu wenig.

    Anson­sten fiel mir spon­tan eine Hausar­beit zur Sprachty­polo­gie ein, für die ich mit viel Vergnü­gen Uni­ver­sals of Lan­guage durchgepflügt habe 😉

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  8. Achim

    Ach so, noch eins: wakaranai (#7) fragt nach ein­er präferierten Deu­tung von wir durch deutsche Mut­ter­sprach­ler. In der geschilderten Sit­u­a­tion (langjährige Tippge­mein­schaft unter Kol­le­gen, Anruf im Urlaub) hätte ich an Stelle des sich aus­ge­bootet füh­len­den Drit­ten auch an eine Beteili­gung am war­men Regen geglaubt. Anson­sten wäre doch min­destens ein “Ätschbätsch und du nicht” fäl­lig gewesen.

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  9. TMP

    Wollte nur sagen das ich diesen Beitrag sehr inter­es­sant fand und genossen habe.

    Es wird ja all­ge­mein viel zu wenig gelobt. :>

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  10. S

    Ich kann mich nur den Vor­lobern anschließen. Ich freue mich, dass im Sprach­blog endlich mal ein The­ma aus der Sprach­wis­senschaft (und dann auch noch mit außereropäis­chen Sprachen, wenn auch nur am Rande) besprochen wird und nicht immer nur lei­di­ge Diskus­sio­nen über Anglizismen…

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  11. ramses101

    Der Vertei­di­ger der Kläger …” passt doch, immer­hin hat erst der eine die bei­den verk­lagt (die sich daraufhin einen Anwalt genom­men haben). Erst danach haben die bei­den anderen gegen die Pfän­dung geklagt. Ver­mut­lich mit ihrem Vertei­di­ger als Anwalt. Bis­serl hol­prig ist das natürlich.

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  12. Wentus

    Hil­f­skon­struk­tio­nen zur Unter­schei­dung zwis­chen in- und exk­lu­sivem “wir” gibt es allerd­ings auch in anderen Sprachen, wie schon Frank Rawel erwäh­nt. Schließlich wird auch im Tok Pisin nur eine Kom­bi­na­tion der Wörter einge­set­zt. Im Deutschen ste­ht für das inklu­sive “wir” das Wort “man”, das im Franzö­sis­chen als “on” noch viel klar­er für eine kleine Anzahl von Per­so­n­en benutzt wird.

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  13. Frank Oswalt

    @Wentus: “Man hat gewon­nen” wäre in diesem Kon­text aber extrem merk­würdig gewe­sen. Wenn ich das richtig ver­ste­he, bedeutet inklu­sives Wir, dass der Sprech­er und der Zuhör­er gemeint sind. Das ist bei “man” doch höch­stens in Aus­nah­men der Fall?

    @Anatol Ste­fanow­itsch: Mir hat der Beitrag auch gefall­en, aber ich finde auch die lei­di­gen Diskus­sio­nen über Anglizis­men gut…

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  14. Robert Jäger

    ist übri­gens im mala­y­sis­chen und indone­sis­chen sehr ähnlich:

    kita: wir incl. des Sprechers

    kami: wir excl. des Sprechers

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  15. Carsten aus Hannover

    Robert: Wie funk­tion­iert denn ein “wir excl. des Sprech­ers”? Ist hier “wir excl. des Ans­ge­sproch­enen” gemeint, oder bin ich gedanklich auf dem Holzweg?

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  16. ralf

    Im Indone­sis­chen schließt “kami” den Ange­sproch­enen aus, “kita” dage­gen nicht.

    kami: wir ohne dich

    kita: wir und du auch

    Also wird nicht der Sprech­er, son­dern der Hör­er aus- bzw. eingeschlossen.

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  17. wakaranai

    @Peer: Ich würde da wider­sprechen, es kann dur­chaus ein wir geben, daß den Sprech­er selb­st nicht mitein­schließt, so in der Art ein­er “Ingroup” (sozi­ol­o­gis­ch­er Ter­mi­nus). Man stelle sich nur ein­mal fol­gen­des vor:

    Es existiert eine Lern­gruppe von Stu­den­ten, bei ein­er Sitzung fehlen zwei der Teil­nehmer. Ein­er der fehlen­den frägt danach den anderen, wie weit man gekom­men sei. Da der andere zufäl­lig auch nicht dabei war, antwortet er: “Was ich gehört habe, sind wir bis XY gekom­men.” (Und damit ver­wen­det er ein “wir”, daß ihn als Sprech­er selb­st nicht einschließt)

    Es bestün­den fre­lich auch andere Antwort­möglichkeit­en, aber wäre diese Antwort denkbar? Für mich zumin­d­est schon.

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  18. Kris

    @ralf

    Zwar stimmt es, daß im Indone­sis­chen stan­dard­sprach­lich “kami” exk­lu­siv und “kita” inklu­siv aufz­u­fassen sind. Aber in der pop­ulären Umgangssprache (auch Jakar­ta-Indone­sisch genan­nt, jedoch auf­grund seines Pres­tige auch außer­halb von Jakar­ta weitver­bre­it­et) ist in let­zter Zeit ein Trend zu beobacht­en, “kita” auch in exk­lu­siv­er Bedeu­tung zu ver­wen­den, auf Kosten von “kami”. In so einem Fall wäre dann das­selbe Prob­lem wie im Deutschen gegeben.

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  19. Kris

    @ralf

    es gibt bei­de Vari­anten von kita”? Das ver­ste­he ich nicht ganz. In so einem Fall müßte man sagen, daß inkl. und exkl. zusam­menge­fall­en sind, und wir u.U. eine Sit­u­a­tion ähn­lich wie im Man­darin vorfind­en, wobei auch hier erhe­bliche regionale Schwankun­gen das Bild erschweren.

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  20. Achim

    @ wakaranai (21): Wenn jemand wie in diesem Beispiel “wir” benutzt, schließt er sich als Sprech­er dur­chaus ein: “Die Gruppe, zu der ich auch gehöre, hat einen bes­timmten Stand erre­icht.” Dass der Sprech­er bei ein­er Sitzung nicht dabei war, heißt ja noch nicht, dass er nicht mehr zur Gruppe gehört. In der gle­ichen Sit­u­a­tion kön­nte der Sprech­er sagen: “Ich war auch nicht da, aber die anderen sind bis S. 234 gekommen.”

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  21. ralf

    @kris

    Je nach Sprach­vari­ante ist kita inklu­siv oder so wie unser wir. Im Jakar­ta­di­alekt wird nur noch kita ver­wen­det, aber in anderen Gegen­den Indone­siens wird es nur als inklu­siv­form ver­standen und kami auch ver­wen­det. Deshalb meinte ich es gibt 2 Vari­anten von kita. Sie haben recht mit ihrem Vergleich.

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  22. Kris

    @ralf

    Ein­ver­standen. Wobei ich denke, daß im Jakar­ta-Indone­sis­chen kita zum all­ge­meinen Pronomen gewor­den ist, aber falls die Notwendigkeit beste­ht, auf das EXKL. zurück­ge­grif­f­en wer­den KANN, denn schließlich ist kami durch die Stan­dard­sprache auch im Jakar­ta-Indone­sis­chen ver­füg­bar. Und da die regionalen Vari­anten des Indone­sis­chen auch durch das Jakar­tain­done­sis­che bee­in­flußt wer­den (Stich­wort cinetron), würde es mich nicht wun­dern, wenn sich dieses Phänomen aus­bre­it­et. Ich werde bei Gele­gen­heit weit­ere Nach­forschun­gen betreiben.

    Strenggenom­men ist es im Chi­ne­sis­chen ander­sherum, hier scheint die EXKL-Form zum Nor­mal­fall gewor­den zu sein: im Peking-Chi­ne­sis­chen ste­ht 我们 wǒmen für exk­lu­siv und 咱们 zán­men für inklu­siv. Jedoch wird außer­halb von Peking in der Regel auss­chließlich 我们 wǒmen ver­wen­det, weswe­gen auch in Peking 我们 wǒmen als default angenom­men wer­den kann. Allerd­ings scheint dies auch sprach­his­torisch nicht ganz mit dem indone­sis­chen Fall ver­gle­ich­bar zu sein.

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  23. wakaranai

    @Achim (25): Ich stimme ihnen teil­weise zu. Der Sprech­er zählt sich zur sel­ben Gruppe, bei der ange­sproch­enen Tätigkeit ist er aber nicht mit­ge­meint. Er kann sagen “Wir haben xy gemacht.”, aber nicht “Ich habe nicht xy gemacht.”. Das scheint mir genau ein “wir” zu sein, daß den Sprech­er ausnimmt.

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  24. Peer

    @wakaranai Ich bin da eher der Mei­n­ung von Achim. Wenn “wir” im Fuss­ball gewin­nen, sind wir ja auch nicht dabeigewe­sen, oder? Ein­schließen tun wir uns den­noch irgendwie…

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