Kaum zu glauben

Von Anatol Stefanowitsch

Gestern habe ich in meinem Beitrag zum Wort empfind­lich Fol­gen­des geschrieben:

wenn ein bes­timmter Verb­stamm (oder auch Sub­stan­tivs­tamm) nicht bere­its mit dem Suf­fix -lich in der Sprache existiert, kön­nen wir das entsprechende Wort nicht ein­fach erfind­en: vorstell-lich oder glaublich gibt es eben­sowenig wie esslich/verschlinglich oder spür­lich, obwohl wir die bedeu­tungsver­wandten Wörter unglaublich, köstlich und eben empfind­lich haben. Das Suf­fix -lich ist sprachgeschichtlich sehr alt und nicht länger produktiv.

Das war natür­lich eine sehr absolute Aus­sage über einen Phänomen­bere­ich, in dem es nichts Absolutes gibt.

Selb­stver­ständlich sind Sprech­er in der Lage, auch nicht-pro­duk­tive Wort­bausteine zu erken­nen und — bewusst oder unbe­wusst — kreativ zu ver­wen­den. Es würde mich deshalb nicht wun­dern, wenn sich für die zitierten Beispiele vere­inzelte Belege find­en ließen. In der Wer­bung stößt man ja auch immer wieder auf kreative Wort­bil­dun­gen — vom Klas­sik­er unka­put­tbar bis zum totalst-pro­bierig­sten Mit­telschar­fen der Welt“ mit dem Löwensenf kür­zlich seine neueste Kreation bewarb (bei unka­put­tbar haben wir einen Fall, wo ein eigentlich pro­duk­tives Suf­fix an einen Stamm der falschen Wor­tart ange­fügt wird, bei pro­bierig wird das nicht oder nur sehr eingeschränkt pro­duk­tive Suf­fix -ig an das Verb pro­bieren angehängt).

Aber — Sprach­blogleser Bern­hard hat in seinem Kom­men­tar zum let­zten Beitrag darauf hingewiesen — bei glaublich liegt die Sache ein wenig anders.

Zunächst ist klar, dass es das Adjek­tiv glaublich zu irgen­deinem Zeit­punkt gegeben haben muss, son­st hätte man ja das Adjek­tiv unglaublich nicht daraus ableit­en kön­nen. Bern­hard bestätigt, dass die Tre­f­fer für die Form glaublich im DWDS-Kernko­r­pus alle vom Anfang des let­zten Jahrhun­derts stam­men. Eine Suche bei Google Books bestätigt den Ein­druck, dass dieses Adjek­tiv zwar altehrwürdig, aber auch deut­lich anges­taubt ist.

Aber was mich völ­lig über­rascht hat, war Bern­hards Hin­weis, dass sich auch im Deutsch des Inter­net­zeital­ters Ver­wen­dun­gen für die Form glaublich find­en, und zwar fast zwanzig­tausend. Ein großer Teil davon stammt wiederum aus alten Tex­ten und ein weit­er­er großer Teil ist etwas völ­lig anderes, auf das ich gle­ich zurück­kom­men muss, aber ein Teil stammt aus der aktuellen Umgangssprache, wie die fol­gen­den Beispiele zeigen:

  • Kaum glaublich aber wahr. Die Umweltkosten entste­hen nicht auf dem Weg in den deutschen Han­del son­dern auf dem Weg vom Han­del nach Hause! [Link]
  • Kaum glaublich! Bitte? Wie soll das funk­tion­iert haben? [Link]
  • Das klingt sicher­lich kaum glaublich für einen, der in einem Land lebt, wo man die Idee ein­er geset­zlichen Kranken­ver­sicherung für Sozial­is­mus hält [Link]
  • Das eigentliche Prob­lem ist ja dass du sel­ber kaum noch was weist bzw. nicht glaublich klings da du ja anscheinend getrunk­en hast [Link]
  • Noch immer finde ich es nur schw­er glaublich, dass wir unseren Kleinen bald im Arm hal­ten wer­den…!!! [Link]
  • wo ist diese domain einge­tra­gen, bei der der fehler auftritt? in $mydes­ti­na­tion? unwahrschein­lich. in vir­tu­al oder trans­port? auch wenig glaublich. [Link]

Nun haben diese Beispiele eines gemein­sam, Bern­hard hat darauf hingewiesen: sie treten alle in negierten Zusam­men­hän­gen auf — für die über­wiegende Zahl aller Tre­f­fer ist das kaum glaublich, aber auch nicht glaublich und wenig glaublich kom­men vere­inzelt vor. Für ein nicht-negiertes glaublich finde ich keine echt­en Tre­f­fer, die nicht aus alten Tex­ten stam­men. Es scheint also, dass Sprech­ern klar ist, dass das Wort glaublich nicht existiert. Wenn sie es doch ver­wen­den, dann in Analo­gie zu unglaublich nur in verneinen­den Zusam­men­hän­gen — als ob sie eine Art Schema der Form [NEG glaublich] im Kopf haben. Ob dieses Schema eine zeit­genös­sis­che Neu­bil­dung ist oder ob es sich aus der Zeit erhal­ten hat, in der glaublich noch ver­wen­det wurde, kann ich nicht beurteilen. Allerd­ings fällt bei ein­er Google-Books-Suche auf, dass auch in Büch­ern älteren Datums mehr als die Hälfte der Ver­wen­dun­gen von glaublich in verneinen­den Zusam­men­hän­gen ste­hen. Dies spräche dafür, dass eine Spezial­isierung auf diese Zusam­men­hänge stattge­fun­den hat, bevor das Adjek­tiv glaublich sich aus der Sprachver­wen­dung ver­ab­schiedet hat.

Das Ver­schwinden ein­er Grund­form, bei dem nur abgeleit­ete oder kon­textuell beschränk­te Ver­wen­dun­gen zurück­bleiben, zeigt übri­gens noch ein­mal das, was ich in meinem let­zten Beitrag beschrieben habe: abgeleit­ete For­men wer­den, bei aus­re­ichen­der Häu­figkeit in der Sprachver­wen­dung, als eigene Ein­träge in unserem men­tal­en Wörter­buch gespe­ichert und kön­nen sich dann unab­hängig weiterentwickeln.

So span­nend das alles ist, noch span­nen­der fand ich etwas ganz anderes (ich habe es oben angedeutet). Die über­wiegende Mehrzahl der Google-Tre­f­fer für glaublich scheint über­haupt keine Bil­dung aus glaub(en) und -lich zu sein. Es sind Tre­f­fer wie die folgenden:

  • Nachrück­er sind glaublich der Sepp Schroll und der Hans Gschwend­ner [Link]
  • Sarah Reinewald träumt aber vom Schloß und das ist glaublich nicht zum Gemein­de­saal Preis zu haben. [Link]
  • Die AMAP ist glaublich die amtliche Karte des BEV, dass die Kom­pass-Karte in dieser Form auch vom BEV stam­men soll, halte ich für ein Gerücht. [Link]
  • Das ist glaublich umgekehrt, die Engine wan­delt TGA Dateien automa­tisch in. TEX Dateien um. [Link]

An diesen Stellen würde ich glaub(e) ich sagen: Das ist, glaube ich, nicht zu diesem Preis zu haben. Oder, wahrschein­lich­er noch, glaubich oder sog­ar nur glaub: Die AMAP ist glaubich die amtliche Karte des BEV, Das ist glaub umgekehrt. Denn aus dem ursprünglichen Ein­schub glaube ich ist in der Umgangssprache eine Diskurspar­tikel wie wohl oder wahrscheints geworden.

Was aber bei diesen Sprech­ern passiert zu sein scheint, ist, dass sie die Diskurspar­tikel glaubich nicht als verkürzte und laut­lich abgeschlif­f­ene Form von glaub(e) + ich analysiert haben, son­dern als gen­uines Adverb ana­log zu wirk­lich, eigentlich oder tat­säch­lich (Das ist wirk­lich nicht zu diesem Preis zu haben; Die AMAP ist eigentlich die amtliche Karte des BEV; Das ist eigentlich umgekehrt). Deshalb haben sie das l einge­fügt und so eine Art volksmor­phol­o­gis­che Ableitung geschaf­fen. Hier­bei kön­nte es eine Rolle gespielt haben, dass das Adjektiv/Adverb glaublich im Sprach­sys­tem fehlte und die Reanalyse von glaub ich als glaublich diese Lücke geschlossen hat.

Es kann natür­lich auch sein, dass es sich bei dem überzäh­li­gen l um einen Tippfehler han­delt, aber bei zwanzig­tausend Google-Tre­f­fern ist das unwahrschein­bar. Da halte ich meine Analyse für deut­lich glaublicher.

7 Gedanken zu „Kaum zu glauben

  1. Sven Türpe

    Mir gefällt das Wort glaublich so ganz ohne Nega­tion recht gut. Vielle­icht ver­wende ich es in Zukun­ft gele­gentlich in dieser Weise. 

    Gibt es in der Sprach­wis­senschaft eigentlich Unter­suchun­gen zum eige­nen Störe­in­fluss auf die beobachteten Xys­teme, d.h. dazu, welche unbe­ab­sichtigten Rück­wirkun­gen die Beobach­tung und Beschrei­bung solch­er Phänomene auf die Sprache hat?

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  2. Dierk

    Kön­nte es nicht auch sein, dass ‘unglaublich’ nicht von ‘glaublich’ abgeleit­et ist, son­dern direkt von ‘Unglaube’? Das erk­lärte die offen­bar vorhan­dene innere Regel NEG glaublich eben­so wie die geringe Ver­bre­itung von glaublich.

    Ich sehe da auch einen Hin­weis auf die Entwick­lung, möglicher­weise fällt es uns leichter — bzw. fiel es unseren Altvorderen leichter -, ein pos­i­tives Glaubens­beken­nt­nis mit uns selb­st als Agens anzugeben als umgekehrt. ‘Das glaube ich nicht!’, wird in den meis­ten Sit­u­a­tion doch zumin­d­est als sehr unhöflich ange­se­hen, beze­ich­net es doch das Gegenüber entwed­er als naiv oder sog­ar Lügn­er. Somit wäre ein neu­traleres Adjek­tiv wie ‘unglaublich’ sozial notwendig, um den Gegen­stand selb­st ver­ant­wortlich zu machen, nicht den Ver­bre­it­er oder den Hörer.

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  3. Christian

    Wenn ich “glaublich” höre, muss ich an “glaub­haft” denken. Das ver­wen­den u.a. Juris­ten, um Zeu­ge­naus­sagen zu bew­erten. In vie­len Beispie­len würde “glaub­haft” meinem sub­jek­tiv­en Sprachge­fühl nach “bess­er” klin­gen. Wofür mir für das “bess­er” ehrlich gesagt eine tragfähige Begrün­dung fehlt.

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  4. Paulus

    Ich habe keine wirk­lich Ahnung, was die Sprach­wis­senschaft ange­ht. Aber dieses “glaublich” für “glaube ich” kön­nte doch ein­fach der automa­tis­chen Rechtschreibprü­fung geschuldet sein, oder? 

    Jeden­falls bietet das Fire­fox Plu­g­in für “glaubich” das Wort “glaublich” an — warum auch immer. Wenn jemand dann automa­tisch kor­rigieren lässt, kön­nte das doch zu den beobachteten Tre­f­fern führen, oder? Nur so ne fixe Idee, weil’s mir sehr merk­würdig vorkam.

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  5. Anatol Stefanowitsch

    Paulus, das ist ein guter Hin­weis. Ich nehme an, das ist die richtige Erk­lärung. Um das abschließend zu kläre, müsste man über­prüfen, seit wann die Form glaublich zu find­en ist. Wenn die Rechtschreibkon­trolle von Fire­fox Schuld hat, dann dürfte es die Form erst seit 2006 geben.

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  6. Guido Lenz

    zu #4 und #5:

    Beim Lesen des Blogs ist mir auch gle­ich die Möglichkeit von Dik­tier­soft­ware durch den Kopf gegan­gen. Ein ver­schlif­f­enes „glaub ich“ kön­nte von solchen Pro­gram­men dur­chaus als „glaublich“ inter­pretiert werden.

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  7. Ulf Runge

    Es ist glaublich so, dass es sich bei den nicht negierten “glaublichs” wohl um Wum­ba­ba-Opfer han­delt. Anal­pha­beten, des Lesens und Schreibens nicht wirk­lich mächtig, ich würde sie mal Phonetik­er nen­nen. Die The­o­rie des einge­fügten “l” halte ich für sehr nahlich.

    Danke für diesen schö­nen Artikel. So wird Sprache wahrbar authentlich erleblich.

    Liebe Grüße,

    Ulf

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