[Weihnachten] Wie schon die Alten sungen …

Von Kristin Kopf

Heute geht es um ein Lied, dessen Text 1587/88 in Mainz geschrieben wurde: “Es ist ein Ros entsprun­gen”. Lei­der ist das, was ich aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht dazu zu sagen habe, nicht beson­ders kreativ — Frau N. hat die Stelle sog­ar schon für einen Auf­satzti­tel benutzt.1
Aber wer noch keine Ein­führung in die his­torische Sprach­wis­senschaft des Deutschen hin­ter sich hat, wird sich vielle­icht den­noch dran freuen.

Erst­mal der Text der ersten Strophe:

Es ist ein Ros entsprun­gen aus ein­er Wurzel zart,
wie uns die Alten sun­gen, von Jesse kam die Art,
und hat ein Blüm­lein bracht
mit­ten im kalten Win­ter, wohl zu der hal­ben Nacht.

Und dann eine kurze Inhalt­sangabe, für die Athe­istIn­nen unter uns:
Mit­ten im Win­ter und mit­ten in der Nacht erblühte eine Rose (bzw. , nach der Gottes­lob-Inter­pre­ta­tion, ein ganz­er Rosen­stock), und zwar so, wie es im Alten Tes­ta­ment ste­ht (=“die Alten sun­gen”), wo es Jesa­ja (=“Jesse”) vorherge­sagt hat. (Natür­lich hat er die Geburt des Mes­sias vorherge­sagt, nicht die ein­er Rose, aber so iss­es halt mit den Metaphern …)

Und jet­zt der vergnügliche Teil des Abends. Es geht um diese Stelle:

(1) … wie uns die Alten sungen, …

Warum nicht “wie uns die Alten (vor)sangen”? Weil es sich dann nicht mehr auf “entsprun­gen” reimt? Wohl kaum … und hier­mit kom­men wir zum Phänomen der viel­ge­fürchteten Ablautrei­hen.
Wenn wir uns die heuti­gen Ver­ben des Deutschen anschauen, so kann man sie (qua­si) alle in zwei Grup­pen teilen: Schwache Ver­ben vs. Starke Verben.
Zu welch­er Gruppe ein Verb gehört, erken­nt man an seinen Ver­gan­gen­heits­for­men, und zwar am Prä­ter­i­tum (sagte, dachte, schlug, ging) und am Par­tizip II (gesagt, gedacht, geschla­gen, gegan­gen).

Die schwachen Ver­ben sind die, die ein­fach ein -te für’s Prä­ter­i­tum anhän­gen (sag-te) und für das Par­tizip II den Stamm mit ge-…-t umgeben (ge-sag‑t). Das ist sehr ein­fach, deshalb machen wir das mit den aller­meis­ten Ver­ben. Auch mit neuen Ver­ben, die wir z.B. aus dem Englis­chen entlehnen (down­load­ete, gedown­load­et/down­ge­loaded).

Viel älter und kom­pliziert­er sind hinge­gen die starken Ver­ben, die, wenn sie Ver­gan­gen­heit aus­drück­en wollen, ihren Stam­m­vokal ändern: werfenwarfge‑worf-en (das Par­tizip II hat zusät­zlich noch das ge-…-en außenrum.)
Ver­ben, die wir neu ins Deutsche entlehnen, funk­tion­ieren nie nach diesem Prinzip2 — nur die richtig alten Ver­ben haben diesen Vokalwech­sel zwis­chen den ver­schiede­nen Zeit­for­men. Den man Ablaut nen­nt. (Es gibt sog­ar Ver­ben aus dieser Gruppe, die zu den schwachen Ver­ben ent­fliehen — z.B. bellen, dessen Prä­ter­i­tum mal boll war. Oder melken, bei dem momen­tan der molk-melk­te-Kampf tobt.)

Heute unter­schei­den wir bei den starken Ver­ben ja drei For­men: Präsens, Prä­ter­i­tum und Par­tizip II. Das Max­i­mum an Unter­schied ist, wenn jede der drei For­men einen anderen Vokal hat, wie bei wer­fen. Manch­mal sind’s auch nur zwei ver­schiedene, z.B. bei schla­gen. Aber nii­i­i­i­ie sind es vier verschiedene.

Vor langer, langer Zeit (im Alt- und Mit­tel­hochdeutschen, und sog­ar noch vorher) gab es aber nicht drei unter­schiedliche For­men, son­dern vier:
a) Präsens: werfan ‘wer­fen’
b) Prä­ter­i­tum Sin­gu­lar: warf ‘warf’
c) Prä­ter­i­tum Plur­al: wurfun ‘war­fen’
d) Par­tizip II: giworfan ‘gewor­fen’
Es kam also drauf an, ob ein Verb im Prä­ter­i­tum Sin­gu­lar (also der Ein­zahl) oder im Plur­al (also der Mehrzahl) benutzt wurde. Man sagte also so etwas wie *der alto sang (weil’s ja nur ein­er ist) aaaaaber: *diu alton sun­gun (weil’s mehrere sind).

Im Früh­neuhochdeutschen (also ab ca. 1350) begann das Sys­tem zusam­men­zubrechen. Von den bei­den Vokalen im Prä­ter­i­tum set­zte sich jew­eils ein­er durch, bei wer­fen z.B. war es das a aus dem Sin­gu­lar (warf, wur­fun > warf, war­fen), bei reit­en war es das i aus dem Plur­al (reit, rit­un > ritt, rit­ten). Es gab also bei jedem Verb nur noch einen Vokal ins­ge­samt für das Prä­ter­i­tum, keine zwei mehr. Was ja auch irgend­wie prak­tisch ist, weil die Infor­ma­tion über das Prä­ter­i­tum jet­zt klar­er zu erken­nen ist — nicht mehr entwed­er Vokal 1 oder Vokal 2 zeigt, je nach Per­son, Prä­ter­i­tum an, son­dern nur noch ein einziger.
Diese Entwick­lung nen­nt man den Prä­ter­i­tal­en Numerusaus­gle­ich, aber das nur für diejeni­gen unter Euch, die damit angeben wollen.

Wäre also alles mit recht­en Din­gen zuge­gan­gen, müssten wir heute von den Alten sin­gen, die san­gen — aber dann würde es sich ja nicht mehr reimen. Und außer­dem haben alte Lieder meist eine gewisse Narrenfreiheit.

Fußnoten:
1Damaris Nübling (1999): Wie die Alten sun­gen … Zur Rolle von Fre­quenz und Allo­mor­phie beim prä­ter­i­tal­en Numerusaus­gle­ich im Früh­neuhochdeutschen. In: Zeitschrift für Sprach­wis­senschaft 17.2 (1998), 185–203.
2Außer man gehört der Gesellschaft zur Stärkung der Ver­ben an.

Ein Gedanke zu „[Weihnachten] Wie schon die Alten sungen …

  1. Jörg Marwitz

    Kurze Anmerkung: “Von Jesse kam die Art” bezieht sich nicht auf den Propheten Jesa­ja (vgl. 2. Stro­phe), son­dern auf Isai, den Vater von König David. Nach­fahre dessen ist Josef.

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