Impotente Vokale: Die Umlautunfähigkeit

Von Kristin Kopf

Ich bin mal wieder zufäl­lig in die ale­man­nis­che Wikipedia gelangt, auf der Suche nach Lit­er­atur zur e- und n-Apokope. Es wäre ein­fach zu niedlich, wenn das zitier­fähig wäre 😉 Und wo ich schon mal dabei war, habe ich auch gle­ich geschaut, was sie so zu meinem The­ma, der Plu­ral­bil­dung, zu sagen haben. So weit ganz ordentlich, allerd­ings teil­weise unnötig kom­pliziert. Es wer­den z.B. zwei ver­schiedene Plu­ralarten auf -er genan­nt (Her­vorhe­bung von mir):

  • dur Umlut un Ändung ‑er: Huus (Hous, Hüüs)/Hiiser (Hejser/Hüüser/Hüser), Dach/Dächer (Dech­er), Blatt (Blett)/Bletter usw.
  • dur d Ändung ‑er: Näscht/Näschter, Liächt/Liächter, Fäscht (Fescht)/Fäschter (näbe Fes­cht)

Wenn man sich die Beispiele näher anschaut, bei denen nur -er antritt, aber kein Umlaut durchge­führt wird, fällt schnell etwas auf … die Fälle ohne Umlaut kön­nten auch beim besten Willen keinen besitzen. Sie sind näm­lich “umlau­tun­fähig”.

Ich habe ja schon mal erk­lärt, dass der Umlaut ein Prozess war, bei dem hin­tere und zen­trale Vokale vor i oder j zu vorderen Vokalen wur­den.1

Vokale, die schon immer vorne im Mund gebildet wur­den (e, i), kon­nten aber nicht umge­lautet wer­den, wie sollte das auch gehen? Der Umlaut ist ein Prozess, bei dem die Bil­dung weit­er vorne im Mund erfol­gt, aber für Laute wie e und i gibt es kein “weit­er vorne”. Vordere Vokale sind also “umlau­tun­fähig”.

Ein kurz­er Blick auf Näscht, Liächt und Fäscht zeigt, dass sie alle vordere Vokale enthalten.

Und wenn man noch eine Weile weit­er­sucht, wird man bald fest­stellen, dass es auch son­st keine Sub­stan­tive auf -er gibt, die zwar einen umlaut­fähi­gen Vokal enthal­ten, aber nicht umge­lautet wer­den. Ale­man­nisch nicht und hochdeutsch auch nicht.2

Es ist also völ­lig unnötig, zwei getren­nte Regeln zu for­mulieren, es genügt festzustellen, dass mit der Endung -er Umlaut ein­herge­ht, wenn er möglich ist.

Fußnoten:
1 Dieser Laut­wan­del ist heute nicht mehr aktiv, aber die Beziehung zwis­chen unumge­lautetem und umge­lautetem Vokal beste­ht noch immer. D.h. der Umlaut­vokal von a muss immer ä sein etc. Hier für das Hochdeutsche vere­in­facht dargestellt (a, o und u gibt es als Kurz- und Langvokale):

ohne UL mit UL willkür­lich­es Beispiel
a ä (auch als e geschr.)
Hammer – Hämmerchen
Fahrt – fertig
o ö Lohn – Löhne
u ü ich buk – ich büke
au äu saugen – Säugling

2 Canoo.net ken­nt hochdeutsches OsOser, aber das ist wohl ein Fremdwort.

7 Gedanken zu „Impotente Vokale: Die Umlautunfähigkeit

  1. Holder

    Hal­lo Kristin,

    es gitb dur­chaus ale­man­nis­che Sub­stan­tive mit umlaut­fähigem Vokal, die den Plur­al auf ‑er bilden aber iohne Umlaut.
    Spon­tan fällt mir z. B.
    Stüch, Pl. Stücke ein,
    das meinem Dialekt (Mark­gräfler­land)
    Stuck, Pl. Stuck­er lautet und eben nicht *Stick­er.
    Liebe Grüße,
    Holder
    PS: Ich habe dieses Beispiel jet­zt auch in der Ale­man­nishen Wp ergänzt.

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  2. Kristin Beitragsautor

    Hey Hold­er,

    danke für den Hin­weis! Es war wohl etwas dreist von mir, meine Ergeb­nisse der­art zu verallgemeinern 😉
    Stuck hat ja anscheinend bei Euch gar keinen Umlaut mit­gemacht, oder den Umlaut rück­gängig gemacht. Ist das eine feste Regel?
    Wie ver­hal­ten sich bei Dir denn andere der­ar­tige Wörter? Z.B. Unglück? Gemüt?

    Haben Wörter mit his­torisch kor­rek­tem Sin­gu­lar-u einen Umlaut­plur­al? Also Wurm, Tuch, Buch?

    Sehr ges­pan­nt:
    Kristin.

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    1. Holder

      Hal­lo Kristin,

      Stuck” gehört zu ein­er ganzen Rei­he von Wörtern, in denen mhd. u nicht umge­lautet ist:
      bucke “bück­en”, Bruck “Brücke”, Chrucke “Krücke”, Chuchi “Küche”, drucke “drück­en”, Huft “Hüfte”, Luug “Lüge”, Mucke “Fliege” (vgl. dt.“Mücke”), murb “mürb”, Rucke “Rück­en”. Es gibt da auch eine laut­ge­set­zliche Regel, die ich aber ger­ade nicht lit­er­atur­mäßíg griff­bere­it habe, irgen­deine umlau­thin­dernde Kon­so­nanz. Diese Regel gilt für viele alman­nis­che Dialek­te nördlich der Alpen.

      Unglück wird bei uns als “Ung­g­ligg” gesprochen,
      Gemüt als “Gmi­et” (aus mhd. üe!).

      Wuurm hat den Plur­al “Wiirm”.

      Tuch und Buch gehören zu mhd. uo und wer­den bei uns als Döech bzw. Böech (Pl. Diech­er, Biech­er) gesprochen.

      Du kannst gerne weit­ere Fra­gen stellen, ich ste­he gerne als Gewährsper­son zur Verfügung 😉

      Liebe Grüße,

      Hold­er

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  3. Kristin Beitragsautor

    Hey Hold­er,

    vie­len Dank für Deine Rück­mel­dung! Ja, diese Sache mit dem unumge­lauteten u ist cool — die meis­ten Dein­er Wörter sagen meine Gewährsleute auch.
    Nur Huft und murb kenne ich nicht, was aber nichts heißen muss, vielle­icht wur­den sie ein­fach noch nie in mein­er Gegen­wart benutzt.
    Lûg finde ich sehr span­nend, das ist bei meinen Leuten näm­lich maskulin, der Lug.

    Aber zurück zur Sache mit dem er-Umlaut: Gibt es unter den u-Wörtern noch weit­ere, die er ohne Umlaut nehmen?

    Ich habe kür­zlich auch Beispiele aus anderen (nicht ale­man­nis­chen) Dialek­ten gehört, in denen der Umlaut bei er-Plur­al abge­baut wird, weiß aber nicht mehr genau, wo das war.
    Sobald ich wieder ein bißchen mehr Zeit habe, recher­chiere ich da noch mal.

    Von der Markierung her ist es ja gar kein Prob­lem, den Umlaut wegzu­lassen, -er markiert ja wirk­lich deut­lich genug — aber den­noch scheint es kaum zu passieren. Umso span­nen­der, wenn doch!

    Liebe Grüße,
    Kristin.

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  4. Holder

    Hal­lo Kristin,

    einen Beleg habe ich noch gefun­den: Schuck m., Pl. Schuck­er “Stoß, Schups”, aber anson­sten kenne ich keine weiteren.

    In vie­len ale­man­nis­chen Dialek­ten wird der Umlaut als Pural­mark­er ja sog­ar eher mehr ver­wen­det als in der Stan­dard­sprache, vgl. z. B. Hund, Pl. Hind “Hund”, Dok­ter, Pl. Dek­ter “Arzt”, Huffe, Pl. Hiffe “Haufen”.

    Lug” ist in meinem Dialekt feminin.

    LG, Hold­er

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  5. Kristin Beitragsautor

    Hal­lo Holder, 

    ich habe gestern einen Hin­weis auf das Phänomen gefunden!
    Und zwar bei Renate Schram­bke (1997): “Die Sprach­land­schaft der Orte­nau” in “Klein­er Dialek­tat­las. Ale­man­nisch und Schwäbisch in Baden-Würt­tem­berg” (Hg. von Klaus­mann, Kun­ze, Schrambke).

    Die Umlau­tung von u vor ck, ch und pf scheint, wo sie durchge­führt wurde, durch fränkischen Ein­fluss erfol­gt zu sein.
    Eigentlich hin­dern die genan­nten Kon­so­nan­ten das u am Umlauten.

    Die Über­gangs­land­schaft befind­et sich in der Ober­rheinebene, erste Umlau­tun­gen find­en sich auf elsäs­sis­ch­er Seite nördlich von Molsheim/Straßburg und auf badis­ch­er nördlich/östlich der (groben) Lin­ie Offenburg-Bühl-Forbach.

    Das bedeutet für Stuck­er, dass es in den Gebi­eten ohne fränkischen Ein­fluss als umlau­tun­fähig gilt. Meine Behaup­tung ist also so halb­wegs “gerettet” 😉

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