Meine Tasse hat keinen Henkel und heißt Becher

Von Susanne Flach

Wenn jemand sagen würde: “Zeichne ein Möbel­stück!”, wie groß ist die Wahrschein­lichkeit, dass ich ikonisch ein Bett oder einen Stuhl zeichne und nicht einen Spiegel oder ein Side­board? Und warum denkt man bei Stuhl eher an einen Stuhl in der Küche und nicht an einen Stuhl in der Zah­narzt­prax­is? Abge­se­hen von biol­o­gis­chem Experten­wis­sen — ist der watschel­nde Pin­guin wirk­lich eher ein Vogel, als die flugfähige Fle­d­er­maus? Und wer kann genau sagen, wo die Gren­ze zwis­chen Blau und Lila ist? Wenn ein Kind einen Hund sieht, wird es ver­mut­lich wed­er rufen “Schau mal, ein Tier” noch “Schau mal ein Pekinese!”

Wir teilen unsere kom­plexe Umwelt in Kat­e­gorien, um sie ver­ständlich­er und erfass­bar­er zu machen. Dabei gibt es Oberkat­e­gorien, MÖBEL, TIERE oder PFLANZEN. Darunter befind­en sich die Basic Lev­el-Kat­e­gorien, also STUHL, HUND oder BAUM. Diese kön­nen noch weit­er spez­i­fiziert wer­den, beispiel­sweise in Schreibtis­chstuhl, Dack­el oder Apfel­baum. Die Perzep­tion unser­er Umwelt geschieht aber haupt­säch­lich auf der (hier) mit­tleren Ebene der Basic Lev­el-Kat­e­gorien: zeigt ein Deutschlern­er auf einen Teller, wird man ihm sagen, dass das Ding Teller heißt; es ist nur unter bes­timmten Voraus­set­zun­gen ange­bracht, ihm zu sagen, dass es möglicher­weise ein Früh­stück­steller ist — und am wenig­sten ist ihm geholfen, wenn ich ihm sage, dass es Geschirr ist.

Die Basic Lev­el-Begriffe (z.B. Bett, Stuhl, Tisch) teilen sich hor­i­zon­tal untere­inan­der und ver­tikal mit ihrer über­ge­ord­neten Kat­e­gorie MÖBEL einige Attribute, beispiel­sweise dass man sie typ­is­cher­weise in der Woh­nung hat. Allerd­ings tren­nen ihre jew­eili­gen Attribute die Gegen­stände klar voneinan­der ab: ein Bett und ein Stuhl haben MÖBEL-Attribute, sind aber anson­sten klar voneinan­der unter­schei­d­bar. Diese Unter­schei­dung ist inner­halb ein­er Basic Lev­el-Kat­e­gorie und ihren unter­ge­ord­neten Begrif­f­en nicht mehr gegeben: inner­halb der Kat­e­gorie STUHL sind Küchen­stuhl, Schreibtis­chstuhl oder Essz­im­mer­stuhl nicht notwendi­ger­weise klar trennbar. Sie teilen sich alle die Eigen­schaft, dass sie Beine haben (typ­is­cher­weise vier, möglich sind aber auch ein­beinige Stüh­le mit Spinne, wie am Schreibtis­chstuhl, drei Beine an Design­er­stück­en oder Quer­stan­gen an Ikea-Klapp­stühlen), dass sie zum Sitzen gebraucht wer­den oder dass man auf ihnen sel­ten schläft. So gese­hen sind die Basic Lev­el-Kat­e­gorien STUHL, BETT oder HUND max­i­mal infor­ma­tiv — sie lassen sie lassen sich untere­inan­der bess­er unter­schei­den, als die Mit­glieder ihrer jew­eili­gen Sub­kat­e­gorien. Deshalb sprechen wir von Schreibtis­chstuhl auch nur dann, wenn der Kon­text eine Spez­i­fizierung erfordert, die der Stuhl alleine nicht liefern kann.

Die Zuge­hörigkeit zu ein­er Kat­e­gorie bemisst sich auch nicht notwendi­ger­weise an der reinen An- oder Abwe­sen­heit von Eigen­schaften. Stellt euch eine Tasse vor. Natür­lich haben Tassen typ­is­cher­weise Henkel und Unter­tassen. Aber ist ein Gefäß, aus dem ich Kaf­fee trinke, nur deshalb kat­e­gorisch keine Tasse, weil es keinen Henkel hat? Wo begin­nt eine Tasse und wo hört eine Schale auf? Oder muss man Men­schen, die keinen essen­tiellen Unter­schied zwis­chen Tasse oder Bech­er sehen, darauf aufmerk­sam machen — und wenn ja, auf welch­er Grund­lage eigentlich? (Meine beschei­dene Stu­den­ten­bude hat beispiel­sweise keine “typ­is­chen” Tassen, die man auf Unter­tassen stellt, son­dern streng genom­men nur Bech­er [mit Henkel]; aus der Erfahrung gesprochen mag diese Kat­e­gorisierung ein Gen­er­a­tio­nen­prob­lem sein: meine Oma kan­nte Bech­er nur pas­siv, meine Mut­ter macht eine Unter­schei­dung zwis­chen Bech­er und Tasse und ich nutze bei­de Begriffe weit­ge­hend syn­onym, ziehe gegen­ständlich den Bech­er aber der Tasse vor.)

Der Punkt ist, dass eine Tasse mit Henkel (und aus Porzel­lan) eine pro­to­typ­is­chere Tasse ist, als ein Bech­er oder eine Schale. Sie wäre also ein besseres Beispiel eines Vertreters der Kat­e­gorie TASSE, als ein Trinkge­fäß aus Plas­tik, was aus dem Kaf­feeau­to­mat­en fällt. Aber wie man sieht, ist es schw­er zu sagen, was denn eine pro­to­typ­is­che Tasse aus­macht — es ist offen­bar erst die Summe ihrer Attribute, die uns ein Trinkge­fäß als Mit­glied der Kat­e­gorie TASSE kat­e­gorisieren lässt. Und so lässt sich auch sagen, dass der Spatz ein pro­to­typ­is­cher­er Vogel ist, als ein Pin­guin. Man kön­nte sog­ar behaupten, dass im weitesten Sinne die Fle­d­er­maus ein Vogel ist, da sie einige Attribute aufweist, die wir typ­is­cher­weise Vögeln zuschreiben.

Pro­to­type­n­ef­fek­te sind real mess­bar: es wird uns schneller gelin­gen, Rot als gutes Bespiel der Kat­e­gore FARBE zu erken­nen, als Türk­islil­ablass­blau. Und bis die Telekom Magen­ta in den Raum warf, war es schließlich ein­fach Pink. Pro­to­type­n­ef­fek­te lassen sich sog­ar in Kat­e­gorien nach­weisen, die gar keine offe­nen oder vari­ablen Gren­zen haben, wie es bei Tassen oder Möbeln der Fall ist: die Zuge­hörigkeit zur Kat­e­gorie GERADE ZAHL ist auch ohne Experten­wis­sen eine klare entwed­er-oder-Geschichte. Und den­noch ist Zwei ein besseres Beispiel ein­er ger­aden Zahl als Dre­itausendzwei­hun­der­tachtund­fün­fzig.

Ich bin übri­gens im Nichtlin­guis­ten­leben sehr dafür, dass man der Unsitte, in Cafés Kaf­fee in Müs­lis­chalen zu servieren, mal ein geset­zlich­es Ende bereitet.

5 Gedanken zu „Meine Tasse hat keinen Henkel und heißt Becher

  1. Lukas

    In Öster­re­ich gibt’s neben Tasse und Bech­er noch Häferl, das ist für mich eher das Wort der Wahl; “Tasse” hätte ich nicht expliz­it als “mit Unter­tasse” verstanden.

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    1. suz Beitragsautor

      Dass “Tasse” nicht typ­is­cher­weise eine Unter­tasse hat, mag in der Tat eine Gen­er­a­tio­nengeschichte sein — mir fiel das Attrib­ut “Unter­tasse” auch erst auf, als ich einen entsprechen­den Artikel dazu las. Dadurch kam ich auf die Anek­dote, die bei uns zu Hause seit jeher für Ver­wirrung sorgt. Wenn ich beim Kaf­feekränzchen die Tasse wieder in die Küche trage und mit einem Bech­er wieder komme und sage: “Mama, du weißt doch, ich will ne richtige Tasse!” — dann schwirren Frageze­ichen durch den Raum. (Ist mit­tler­weile aber n Run­ning Gag.) Die Ver­mu­tung liegt nahe, dass mit dem Gen­er­a­tio­nen­wech­sel sich auch die Tra­di­tion des Kaf­fee- bzw. Teetrinkens aus liebevoll verzierten Porzel­lan­tassen (mit Henkel und Unter­tasse) ändert. Ich kenne ältere Friesen, die daraus ne Wis­senschaft machen und ihren Tee auch grund­sät­zlich nur aus ein­er bes­timmten Art Tasse zu sich nehmen. Die wür­den ums Ver­reck­en nicht aus einem Bech­er trinken. Ander­er­seits trinkt der wahre Ken­ner ja auch nur Tan­nen­zäpfle (0,33l) und kein Rothaus (0,5l).

      Der Autor aus dem ich die Unter­tasse habe, gab noch ein Übungs­beispiel an: Wenn die Warn­hin­weise im Cen­tral Park in New York aus den 1890ern sagen, dass das Betreten des Parks mit vehi­cles ver­boten sei, darf ich dann mit mein­er Ves­pa durchrauschen, auf der Grund­lage, dass 1890 eine Ves­pa kein pro­to­typ­is­ches Gefährt war?

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