Kevin allein in der Unterschicht?

Von Anatol Stefanowitsch

Die Vor­na­men-Studie, die ich hier am Sam­stag besprochen habe, hat auch Chris­t­ian Rein­both (Frisch­er Wind/ScienceBlogs.de) beschäftigt. Er über­legt (ähn­lich wie Sprachlogleser Arndt in einem Kom­men­tar zu meinem Beitrag), ob Kinder mit unter­schicht­typ­is­chen Namen möglicher­weise deshalb als weniger leis­tungs­fähig ange­se­hen wer­den, weil sie es im Durch­schnitt eben auf­grund ihrer Schichten­zuge­hörigkeit tat­säch­lich sind. In diesem Zusam­men­hang fragt er, ob es über­haupt schich­t­en­typ­is­che Namen gibt, denn das wäre natür­lich eine Voraus­set­zung für diese Überlegung.

Zu der grund­sät­zlichen Über­legung selb­st kann ich nicht viel sagen. Ich halte sie nicht für grund­sät­zlich unplau­si­bel, wobei ich noch ein­mal darauf hin­weisen muss, dass Lehrer/innen sich von möglichen Vorurteilen gegenüber bes­timmten Namen bei der Notenge­bung eben nicht bee­in­flussen lassen.

Aber die Frage, ob es schicht­en­spez­i­fis­che Vor­na­men gibt, kann ich auf der Grund­lage ein­er aktuellen, sehr aus­führlichen Studie des berlin­er Sozi­olo­gen Jür­gen Ger­hards klar mit „Ja“ beantworten.

Ger­hards stellt (neben vie­len anderen inter­es­san­ten Beobach­tun­gen) zwei Trends bei der Ver­gabe von Vor­na­men fest. Erstens zeigt sich über über das let­zte Jahrhun­dert hin­weg eine klare Ten­denz zur Indi­vid­u­al­isierung von Vor­na­men: Hätte man im Jahre 1894 ein­hun­dert Men­schen zufäl­lig aus­gewählt, so hät­ten die ersten achtund­dreißig von ihnen unter­schiedliche Vor­na­men gehabt, danach hät­ten sich die bere­its vorhan­de­nen Namen wieder­holt. Im Jahre 1994 wären unter hun­dert zufäl­lig aus­gewählten Men­schen ein­un­dachtzig mit unter­schiedlichen Namen gewe­sen, nur für die übri­gen neun­zehn hät­ten sich die Namen wiederholt:

Prozentualer Anteil unterschiedlicher Namen an der Gesamtzahl der Namen (aus Gerhards 2010, S. 109)

Prozen­tualer Anteil unter­schiedlich­er Namen an der Gesamtzahl der Namen (aus Ger­hards 2010, S. 109)

Man kön­nte nun erwarten, dass diese Indi­vid­u­al­isierung bei der Namensver­gabe einem Zusam­men­hang zwis­chen Schicht­en und Vor­na­men ent­ge­gen­wirkt. Wenn Eltern aller Schicht­en bei der Namensge­bung ihrer Kinder weniger an Tra­di­tio­nen und stärk­er an ihrem per­sön­lichen Geschmack ori­en­tieren, kön­nte man erwarten, dass ehe­mals schicht­spez­i­fis­che Namen auch Mit­gliedern der jew­eils anderen Schichen gefall­en und dass neue Vor­na­men in allen Schicht­en gle­icher­maßen vergeben werden.

Ander­er­seits weist Ger­hards darauf hin, dass das Ausleben von Geschmack­surteilen ein­er der Mech­a­nis­men ist, der zur Erzeu­gung von Schicht­en über­haupt erst beiträgt. Aus dieser Per­spek­tive würde man erwarten, dass die zunehmende Indi­vid­u­al­isierung bei der Namensver­gabe die Schichtab­hängigkeit von Namen tat­säch­lich noch ver­stärkt, da die Mit­glieder aller Schicht­en freier in der Äußerung ihrer Geschmack­surteile sind.

Und tat­säch­lich lässt lässt sich eine klare Ten­denz zur stärk­eren Schicht­en­ab­hängigkeit von Vor­na­men erken­nen. Zu Beginn des 20 Jahrhun­derts wur­den 46 Prozent aller vergebe­nen Vor­na­men in allen Bil­dungschicht­en (Unter­schicht, Mit­telschicht und Ober­schicht) vergeben. Am Ende des 20. Jahrhun­derts waren es in West­deutsch­land noch ca. 32 Prozent, in Ost­deutsch­land nur noch ca. 24 Prozent:

Prozentualer Anteil der Namen, die von allen Schichten vergeben wurden (aus Gerhards 2010, S. 119)

Prozen­tualer Anteil der Namen, die von allen Schicht­en vergeben wur­den (aus Ger­hards 2010, S. 119)

Ger­hards’ Buch beschäftigt sich nicht mit der Schichten­zuord­nung einzel­ner Namen, sodass ich nichts dazu sagen kann, ob speziell die in den derzeit disku­tierten Vor­na­men­stu­di­en aus Old­en­burg tat­säch­lich für die Unter­schicht typ­isch sind. Bei eini­gen der Namen würde ich das auf der Grund­lage mein­er eige­nen Erfahrung bezweifeln — Kevin und Chan­tal haben ihr Image wohl eher auf­grund medi­aler Repräsen­ta­tio­nen von Unter­schicht erhal­ten, als dass sie tat­säch­lich in der Unter­schicht beson­ders häu­fig vergeben wer­den, und Namen wie Mandy und Cindy sind eher für Ost­deutsch­land typ­isch als für irgen­deine bil­dungs­ferne Schicht. Ger­hards zeigt, dass „transna­tionale“ Namen in der zweit­en Hälfte des 20. Jahrhun­derts bei der Mit­telschicht etwas beliebter waren als bei der Ober­schicht, aber bei der Unter­schicht, mit der ger­ade Namen aus dem englis­chen Sprachraum beson­ders stark assozi­iert wer­den, sind solche transna­tionalen Namen nur unwesentlich häu­figer als bei der Ober­schicht (wom­it natür­lich nichts über einzelne Namen gesagt ist).

Wer sich inten­siv­er mit Namen­stra­di­tio­nen in Deutsch­land befassen möchte, dem kann ich Ger­hards’ Buch nur empfehlen. Es ist ein the­o­retisch anspruchsvolle sozi­ol­o­gis­che Studie, aber sie ist (für mein zugegeben­er­maßen möglicher­weise etwas akademisch verz­er­rtes Empfind­en) in einem angenehm les­baren Stil geschrieben, sodass auch inter­essierte Laien etwas damit anfan­gen kön­nen müssten.

Außer­dem möchte ich hier endlich ein­mal die Web­seite beliebte-vornamen.de empfehlen, auf der sich aus­führliche Sta­tis­tiken zur Namensge­bung in Deutsch­land find­en, die sich sowohl nach Jahren als auch nach einzel­nen Namen darstellen lassen und die ein Genuss für jeden Vor­na­men­fan sind. Aktuelle Dat­en zur geografis­chen Verteilung von Vor­na­men sind dort lei­der nur für aus­gewählte Namen zu find­en. Die Web­seite www.gen-evolu.de bietet detail­lierte Karten für sehr viele Namen, aber lei­der sehr ver­al­tet, auf der Grund­lage des Tele­fon­buchs von 1998.

 

GERHARDS, Jür­gen (2010) Die Mod­erne und ihre Vor­na­men. Eine Ein­ladung in die Kul­tur­sozi­olo­gie. Wies­baden: VS Ver­lag. [Google Books (Voran­sicht)]

REINBOTH, Chris­t­ian (2010) Kinder­na­men und Schul­noten — eine Zwis­chen­frage. ScienceBlogs.de, 29. August 2010. [Link]

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

Dieser Beitrag wurde unter Altes Sprachlog abgelegt am von .

Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

9 Gedanken zu „Kevin allein in der Unterschicht?

  1. Frischer Wind

    Kinder­na­men und Schul­noten — eine Zwis­chen­frageD­erzeit wird ja die Fol­low-Up-Studie zur Bew­er­tung von Kinder­na­men durch Lehrer heiß in den Medi­en disku­tiert. Haben Kevin und Chan­tal wirk­lich auf­grund ihres Namens schlechtere Karten in der Schule als Alexan­der und Elis­a­beth? Oder steckt etwas anderes dahinter?

  2. Marco

    Schicht­en­spez­i­fis­che Vornamen
    Im englis­chsprachi­gen Raum find­et sich dazu auch einiges inter­es­santes in “Freako­nom­ics” von Stephen Levitt, bzw. dessen Quellen. Dort wird eine Studie zitiert, die auch die Zirku­la­tion von Namen zeigt. Namen, die vor einiger Zeit als “Ober­schicht­na­men” gel­ten kon­nten, wer­den nun von Eltern der weniger priv­i­legierten Schicht­en ver­wen­det. Für mich war das ein sehr inter­es­santes Kapi­tel in dem Buch 😉
    [Ger­hards befasst sich in sein­er Studie eben­falls mit der Frage, ob neue Namen zuerst von der bil­dungsna­hen Schicht einge­führt wer­den und dann von den bil­dungs­ferneren Schicht­en über­nom­men wer­den. Er find­et für den deutschen Sprachraum zu einem sehr schwachen Imi­ta­tion­sef­fekt. Tat­säch­lich wer­den neue Namen tat­säch­lich häu­figer von den Hochqual­i­fizierten einge­führt, die durch­schnit­tlich Qual­i­fizierten übernehmen diese Namen dann und über­holen die Hochqual­i­fizierten sog­ar in der Häu­figkeit der Ver­gabe dieser Namen, allerd­ings ist der prozen­tuale Unter­schied nicht sehr hoch: Die Hochqual­i­fizierten ver­wen­den die neuen Namen max­i­mal 20 Prozent häu­figer als die durch­schnit­tlich oder gar nicht Qual­i­fizierten und die nor­mal Qual­i­fizierten liegen am Ende nur etwas mehr als 10 Prozent über den Hochqual­i­fizierten. Vor allem fällt aber auf, dass die Unqual­i­fizierten (also die „bil­dungs­ferne Schicht“) neu einge­führte Namen der Hochqual­i­fizierten erst sehr spät übernehmen und in der Ver­wen­dung­shäu­figeit deut­lich hin­ter diesen zurück­bleiben. Grob gesagt ist es also vor allem die Mit­telschicht, die die (bil­dungsmäßige) Ober­schicht imi­tiert, die Unter­schicht lässt sich von den Namen und der damit poten­ziell ver­bun­de­nen Image-Aufw­er­tung wenig beein­druck­en. Ger­hards erwäh­nt, dass amerikanis­che Stu­di­en teil­weise zu anderen Ergeb­nis­sen kom­men, weist aber darauf hin, dass diese Stu­di­en gewis­sen method­is­che Unge­nauigkeit­en aufweisen. — A.S.]

  3. Kai

    Mandy und Cindy
    “Namen wie Mandy und Cindy sind eher für Ost­deutsch­land typ­isch als für irgen­deine bil­dungs­ferne Schicht”
    Gibt es dafür Belege? Es kommt mir so vor, daß englis­che Namen mehr von der Unter­schicht benutzt wer­den und Mandy und Cindy passt doch in diese Vermutung.

  4. Patrick Schulz

    @Kai
    Hier ein Anhalt­spunkt, zumin­d­est für Mandy und Ron­ny (und Adolf…) (via fefe)
    Ich hab im Moment keine Zeit, die angegebene Quelle zu sicht­en, vielle­icht find­en sich dort weit­ere Erhebungen.
    Ich kann nur aus eigen­er Beobach­tung bestäti­gen, dass in den 80er und frühen 90er Jahren im Osten englis­chsprachige Vor­na­men in Mode waren (und auch aus eigen­er Erfahrung…)

  5. Anatol Stefanowitsch

    @Kai
    Sie ver­muten einen Zusam­men­hang zwis­chen A und B, find­en Fälle von B, ord­nen diese Auf­grund Ihrer Ver­mu­tung A zu und sehen das als Bestä­ti­gung. Das ist ein klas­sis­ch­er Zirkelschluss.
    Es gibt keine Stu­di­en, die bele­gen, dass englis­chsprachige Vor­na­men in der Unter­schicht häu­figer vergeben wer­den als in in den anderen Schichten.
    Namen wie Mandy und Cindy (und weit­ere Kurz­for­men nach dem­sel­ben Muster, z.B. Peg­gy und Sandy) waren dage­gen nach­weis­lich dom­i­nant in der ehe­ma­li­gen DDR, wie Sie sehen, wenn Sie meinem oben angegebe­nen Link auf gen-evolu.de fol­gen und sich dort Karten für die geografis­che Verteilung der Namen anzeigen lassen.

  6. Christian Reinboth

    Vie­len Dank…
    …für das Auf­greifen der Frage nach den “Prekari­at­sna­men” und die inter­es­sante Antwort. Das Buch von Ger­hards kommt auf jeden Fall auf meine Leseliste — bere­its im von Kom­men­ta­tor Mar­co ange­sproch­enen Buch von Levitt hat mich das Kapi­tel über die Verteilung von Vor­na­men auf soziode­mographis­che Schicht­en mit am meis­ten fasziniert, wenn es auch aus der — leicht eingeschränk­ten — Per­spek­tive des Ökonomen geschrieben wurde.

  7. Marga

    Hal­lo,
    mir ist vor allem in der Schule(ich unter­richte an einem Gym­na­si­um) aufge­fall­en, dass beson­ders Schüler mit soge­nan­nten “Unter­schicht­en-Namen” schlechter abschnei­den, als solche mit “Nicht-Unter­schicht­en-Namen”.
    Beim Kor­rigieren der Klasse­nar­beit­en hab ich mir immer die Frage gestellt “wieso”. Jet­zt bin ich schlauer. Vie­len Dank!

  8. Gregor

    Was ist mit Mittelschichtsnamen?
    Asl Vater ein­er jet­zt sech­sjähri­gen Tochter, der an der Gren­ze zwis­chen einem eher teurem und einem gün­stigem, ländlichem Wohnge­bi­et lebt, ist mir aufge­fall­en: wenn wir wir in den ländlichen Raum hineinkom­men (Bal­lettschule mein­er Tochter) dominieren die Chan­tals und Michelles, in den teur­eren Regio­nen (Musikschule mein­er Tochter) sind es Jonas, Noah und Sahrah.
    Let­ztere Namen sind für mich nicht weniger stereo­typ, näm­lich für eine Mit­telschicht, die bes­timmte Abi­tio­nen hat, aber den­noch einem Main­stream fol­gt. In mein­er Kindheit(*1965) wäre Noah für uns wohl als Kinder­name wesentlich komis­ch­er gewe­sen als Kevin, was wir damals wohl ehere als cool emp­fun­den hätten.
    Und die Chan­tals die wir in der Bal­lettschule sehen, gehören dur­chaus nicht zum Prekari­at, son­dern eher zur auft­stieg­sori­en­tierten Land­bevölkerung. Deren Eltern haben oft mehr Geld als die der Jonasse und Sahrahs, aber eine gerin­gere for­male Bildung.

  9. Marcus

    Klasse Bericht
    Es ist mein erster Besuch auf dieser Seite, eins lässt sich aber jet­zt schon sagen es wird nicht mein let­zter sein! Ich kann jedem auch die emp­fohle­nen Web­sites empfehlen. Nur eins noch: Damals ver­gab man christliche Vor­na­men heutzu­tage sind es Namen von Stars wie z.Bsp.: Sarah wo der Name ja mit der Con­ner in Verbindung gebracht wird usw.! Auch find ich unter den Top Plazierten die Namen der GZSZ usw.- Schaus­piel­er wieder, dum­mer Zufall?
    LG

Kommentare sind geschlossen.