Wir gedenken an den Tod von Jesus

Von Kristin Kopf

Spiegel online berichtet darüber, dass ein Pfar­rer eine Tode­sanzeige für Jesus geschal­tet hat und zur Gedenk­feier ein­lädt. So weit, so triv­ial. Allerd­ings ist der Text mit einem Bild der Anzeige illus­tri­ert, und das fand ich span­nend. Da heißt es nämlich:

Wir gedenken an den Tod von

Jesus Ben Josef

genan­nt der “König der Juden”
*04 v. Chr. †34 n. Chr.

Das Verb gedenken in der Bedeu­tung ‘sich ehrfurchtsvoll erin­nern an’ geht in meinem Kopf näm­lich nur mit einem Objekt im Gen­i­tiv oder Dativ zusam­men, also Wir gedenken des Todes von … oder Wir gedenken dem Tod von … Let­zteres noch nicht ganz so salon­fähig, aber ich prog­nos­tiziere gute Aus­sicht­en, weil wir generell Gen­i­tivob­jek­te abbauen. (Auch wenn sich der unsägliche Bas­t­ian Sick dabei im Grab umdr darüber geifer­nd ereifert.)

Erster Gedanke also: Man hat hier an denken oder die Wen­dung in Gedenken an gedacht und Kon­se­quen­zen daraus gezo­gen. Zweit­er Gedanke: Stop! Wer weiß, das kann auch alt sein. Die meis­ten sprach­lichen Phänomene erweisen sich ja bei näher­er Betra­ch­tung als viel älter als ver­mutet. Das Lan­guage Log hat dafür die schöne Beze­ich­nung recen­cy illu­sion.

Wo schaut man alte Sachen nach? Ich habe das Grimm­sche Wörter­buch herange­zo­gen und bin tat­säch­lich fündig geworden.

Ein Wort, viele Bedeutungen

Zunächst ein­mal lässt sich gedenken in min­destens drei Teilbe­deu­tun­gen trennen:

  • die Erin­nerungs­be­deu­tung, um die es hier geht,
  • der ein­fache Denkbe­deu­tung, die heute nicht mehr gebräuch­lich ist und
  • die Absichts­be­deu­tung (Ich gedenke nicht zum Gottes­di­enst zu gehen).

Während die Erin­nerungs­be­deu­tung heute ziem­lich stark darauf eingeschränkt ist, Ver­stor­be­nen oder abstrak­ten Ereignis­sen zu gedenken, ist sie im Grimm­schen Wörter­buch noch nicht so speziell erfasst. Unter 6) wird da angegeben: “zurück denken, sich erin­nern, einge­denk sein”.

Ein gar nicht monogames Verb

In dieser Bedeu­tung nimmt das Verb in erster Lin­ie den Genitiv:

aber gedenk mein­er, wenn dirs wol gehet. (1 Mose 40,14)
‘aber erin­nere dich an mich, wenn es dir gut geht’

Nicht gerech­net hat­te ich mit einem blanken Akkusativ, aber seht selb­st (beson­ders beliebt war das wohl mit es):

ich gedenks wol.
‘ich erin­nere mich gut daran’

Und … ja … auch die an-Prä­po­si­tion­alphrase macht mit, früh­este Belege im 16. Jahrhundert:

gedenk an uns.
‘erin­nere dich an uns’

er gedacht an sein heiliges wort (Ps 105,42)
‘er erin­nerte sich an sein heiliges Wort’

Biblische Gedenkereien

Ger­ade das let­zte Beispiel ist super, weil aus der vielfach neu über­set­zten oder aktu­al­isierten Bibel. Ich habe mir diesen Psalm ein­mal genauer ange­se­hen. Von gedenken ist darin dreimal die Rede. In der Luther­bibel (1545) sind zwei der Stellen mit an, eine mit Genitiv:

  1. Gedenck­et sein­er Wun­der­w­er­ck / die er geth­an hat / Sein­er Wun­der vnd seines Worts (Vers 5)
  2. Er gedenckt ewiglich an seinen Bund (Vers 8)
  3. Denn er gedacht an sein heiliges Wort (Vers 42)

Das schre­it danach, die ganze Luther­bibel sys­tem­a­tisch zu durch­suchen (gibt’s ja elek­tro­n­isch), ich verzichte aus Zeit­grün­den mal darauf. Was ich aber stattdessen gemacht habe, ist eine kurze Suche in anderen Bibelüber­set­zun­gen. Die bei­den anderen Bibeln des 16. Jahrhun­derts, die ich gecheckt habe, zeigen eben­falls an-Kon­struk­tio­nen.

So hat die Zürcher Bibel von 1534 (dort ist es Psalm 104):

  1. Gedenck­end an seine grosse wun­derthat­en / an die wun­der die er geth­on hat: vnd an die vrteil die er mitt seinem mund gesprochen hat
  2. & 3. sind anders über­set­zt (mit einge­denk sein)

Und Dieten­berg­er 1534 (aber hier nach ein­er Aus­gabe von 1556, und eben­falls Psalm 104) zeigt die gle­iche Verteilung wie Luther:

  1. Gedenckt sein­er wun­der­w­er­ck / die er geth­an hatt / sein­er wun­der­w­er­ck vnd gericht­en seines munds
  2. Er gedenckt ewiglich an seinen bund
  3. Denn er gedacht an sein heiliges Wort

Mod­ernere Über­set­zun­gen wie die Elber­felder Bibel (1871) haben i.d.R. zugun­sten dem des Gen­i­tivs einge­grif­f­en, alle drei Stellen sind an-frei. Eben­so die Menge-Bibel (1939). Aber das muss nicht immer so sein: In der Schlachter-Bibel (1905) ist alles be-an-t!

Wirk­lich aktuelle Fas­sun­gen haben sich des Verbs dann völ­lig entledigt, denn in keinem der drei Kon­texte würde man heute noch ern­sthaft gedenken benutzen. So nimmt die Ein­heit­süber­set­zung (1970er/80er) denken an, die Gute Nachricht (1997) erin­nern an bzw. ganz andere Formulierungen.

Und heute?

Okay, langer Exkurs, zurück zur Jesus’schen Tode­sanzeige: Der Ver­fass­er ist evan­ge­lis­ch­er Pfar­rer, es kön­nte also gut sein, dass er vom luther­bib­lis­chen an bee­in­flusst wurde. Genau­so kann es sich aber um eine neue, davon unab­hängige Entwick­lung han­deln, oder gar ein­fach um einen Fehler.

Ich habe mal im DWDS-Kernko­r­pus (1900–1999) nach gedenken an gesucht (“gedenken #5 an” und “an #5 @gedenk*” ) und die Tre­f­fer manuell durchkämmt, um zu testen, ob so etwas schrift­sprach­lich vorkommt. Das Ergeb­nis: 5 Stellen, die aktuell­ste von 1955:

1955: In Ehre gedenken wir alle an seinen parteiver­bun­de­nen Charak­ter (Klem­per­er, [Tage­buch] 1955, S. 490)

1922: … wir … fuhren den Nach­mit­tag durch die Dar­d­anellen hin­durch, an Lean­der gedenk­end, … (Deussen, Mein Leben, Leipzig, S. 19074)

1911: Mit jen­em war­men Gefühl aber im Herzen, wom­it wir an Groß­mut­ter und Groß­vater gedenken, ... (Harms, Bei den Vet­er­a­nen der Tech­nik, in: Berlin­er Tage­blatt (Abend-Aus­gabe) 03.03.1911, S. 2)

1907: Grüß mir meinen lieben Andreas und all die Andren, an die ich so gerne gedenke. (Brief von Wil­helm Busch an Grete Thom­sen vom 12.05.1907, S. 5766)

1904: Jeden Abend, wenn ich mein Täßchen trinke, werd ich dabei dankbar an Frank­furt gedenken. (Brief von Wil­helm Busch an Johan­na Keßler vom 15.12.1904, S. 5625)

Alle Belege mit Aus­nahme des Zeitungsar­tikels stam­men aus pri­vat­en Doku­menten – vielle­icht ein Hin­weis darauf, dass die Ver­wen­dung eher mündlich­er Natur war? (Oder darauf, dass das Kor­pus zu klein ist …) Die bei­den Busch-Belege haben mein­er Mei­n­ung nach auch noch nicht den ehren­vollen Zusatz, hier han­delt es sich eher um die weite Erinnerungsbedeutung.

Obwohl das DWDS keine aktuelleren Tre­f­fer liefert, find­en sich auch heute massen­haft Ver­wen­dun­gen von gedenken an, wie eine schnelle Google-Suche mit der Ein­schränkung auf das let­zte Jahr zeigt. Willkür­lich herausgegriffen:

Wir gedenken an die Opfer dieses Unglück­es und hof­fen, dass der Zus­tand sich bald möglichst verbessert. (Quelle)

Wir gedenken an die Toten. (Quelle)

Wir Gedenken an unseren Fre­und und Bekan­nten. (Quelle)

Wir gedenken an all die schö­nen Augen­blicke, die Ihr uns geschenkt habt. (Quelle)

Diese For­men existieren also, und sie wer­den von so vie­len Men­schen ver­wen­det, dass man sie nicht als einzelne Fehler abtun kann. Ob es sich um eine die ganze Zeit bewahrte ältere Vari­ante oder um eine neue Entwick­lung han­delt, oder gar um bei­des, d.h. dass eine sel­tenere Vari­ante an Ver­wen­dung­shäu­figkeit gewin­nt, ver­mag ich momen­tan lei­der nicht zu sagen. Wenn ich nicht für heute genug gedacht hätte, würde ich mir den Spaß noch bei Cos­mas II anschauen und zudem gedenken mit Dativ her­anziehen – so aber ver­ab­schiede ich mich in die Osterfeiertage!

32 Gedanken zu „Wir gedenken an den Tod von Jesus

  1. lukas

    gedenken” mit “an” kan­nte ich nur aus der Sprache evan­ge­lis­ch­er Son­ntagspredigten, ist mir aber schon immer selt­sam vorgekom­men. Inter­es­sant, dass das auf Luther zurückgeht.

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  2. Ludwig Trepl

    Der Ver­fass­er ist evan­ge­lis­ch­er Pfar­rer, es kön­nte also gut sein, dass er vom luther­bib­lis­chen an bee­in­flusst wurde.”
    Das kön­nen wir get­rost auss­chließen. Viel wahrschein­lich­er ist, daß er vom Inter­net­deutschen bee­in­flußt ist.

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    1. Kristin Beitragsautor

      Das klingt mehr nach sprach­pes­simistis­chem Pop­ulis­mus als nach Wis­senschaft — gibt es dafür einen Anhalt­spunkt? Und was ist eigentlich “Inter­net­deutsch”?

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      1. Ludwig Trepl

        Wis­senschaft ist es in der Tat nicht — ich habe von der hier­für zuständi­gen Wis­senschaft nicht die ger­ing­ste Ahnung. Sprach­pes­simistisch ist es; ich sehe für Spra­chop­ti­mis­mus zur Zeit keinen Grund. Aber wieso soll des deshalb pop­ulis­tisch sein? Ist es in Zeit­en ras­an­ter Neuerun­gen nicht eher pop­ulis­tisch, Neuerun­gen zu bejubeln?
        Mit Inter­net­deutsch meine ich den Jar­gon, dem man vor­wiegend auf deutschsprachi­gen (oder sich so nen­nen­den) Inter­net­seit­en begeg­net. Da scheint mir die Wahrschein­lichkeit am größten, auf Wen­dun­gen wie “wir gedenken an den Tod” zu stoßen; das ist natür­lich nicht wis­senschaftlich abgesichert, nur mein Eindruck.
        Daß der Autor nicht von der Luther­bibel-Sprache bee­in­flußt ist, dafür scheint mir sehr zu sprechen, daß er eine Tode­sanzeige für Jesus, noch dazu “Jesus Ben Josef” “schal­tet”.
        Im Übri­gen halte ich es nicht für richtig, die heute massen­hafte (stimmt das denn? mir ist ist ihn Ihrem Blog zum ersten Mal gebeg­net) Ver­wen­dung von “gedenken an” als ein Argu­ment dafür zu nehmen, daß es sich nicht um einen Fehler han­deln kann. Mir und mich wur­den und wer­den wohl noch massen­haft ver­wech­selt, und doch hat nie­mand daraus abgeleit­et, daß das deshalb richtig ist. Auch die Ver­wen­dung in alten Tex­ten macht eine For­mulierung nicht unbe­d­ingt richtig. “Und satzten sich bei die Knechte” (oder heißt es “zu die?”) war zu Luthers und zu Bachs Zeit­en richtig, heute ist es falsch.

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  3. Kristin Beitragsautor

    Vie­len Dank für die lange Antwort! Ich ver­suche mal auf einige Punk­te einzuge­hen und bin ges­pan­nt, was Sie dazu sagen!

    Pop­ulis­tisch finde ich Ihren ersten Kom­men­tar eben deshalb, weil er Pes­simis­mus ver­bre­it­et. Sprache verän­dert sich erst dann nicht mehr, wenn sie nicht mehr gesprochen wird. Das galt schon immer und ich wage zu behaupten, dass es auch immer gel­ten wird. Darin sehe ich kein­er­lei Grund zur Verzweiflung.

    Die weit ver­bre­it­ete Hal­tung, dass ein willkür­lich her­aus­ge­grif­f­en­er Jet­ztzu­s­tand das ide­ale Deutsch darstellt und mit allen Mit­teln erhal­ten wer­den muss, erscheint in diesem Licht seltsam.

    Ich kann gut ver­ste­hen, wie sie zus­tandekommt: Wir besitzen einen schrift­sprach­lichen Stan­dard. Das finde ich abso­lut sin­nvoll und notwendig und ich glaube daran wird auch nie­mand rüt­teln wollen.
    Wo die Sprach­wis­senschaft nun aber vom (scheint mir) Großteil der öffentlichen Mei­n­ung abwe­icht, ist in der Frage, wie unver­rück­bar ein solch­er Stan­dard ist.

    Wenn man sich seinen Ursprung ansieht, wird klar, dass er nicht vom Him­mel gefall­en ist, son­dern in einem lan­gen Aus­gle­ich­sprozess ver­schieden­er Schrift­di­alek­te entstand.
    Und es wird auch schnell klar, dass sich seit der Ein­führung ein­er schrift­sprach­lichen Norm schon wieder vieles daran geän­dert hat. 

    Eine schrift­sprach­liche Norm bildet also den Schrift­sprachge­brauch zu ein­er bes­timmten Zeit ab. Deshalb ist der Duden zunächst ein­mal deskrip­tiv (was Sie ja in ihren Anweisun­gen für Studierende monieren). Was in der Schule als “Regel” ver­mit­telt wird, ist das, was sich aus dem Gebrauch viel­er als das Übliche her­auskristallisiert hat.

    Wenn sich nun sprach­liche Änderun­gen vol­lziehen, so begin­nen sie immer zunächst ein­mal als “Fehler”: Sie fol­gen nicht der beste­hen­den Norm. Manche dieser Fehler haben aber Poten­zial: Sie vere­in­fachen etwas (z.B. die Aussprache oder die Wort­struk­tur), sie machen etwas regelmäßiger, sie machen etwas kürz­er und damit prak­tis­ch­er, sie machen etwas länger und damit deut­lich­er … kurz, sie haben irgen­deinen Vorteil und wer­den deshalb von mehr als nur ein­er Per­son gemacht.
    Und wenn sie irgend­wann von unglaublich vie­len Men­schen gemacht wer­den, ist es schw­er zu recht­fer­ti­gen, noch von Fehlern zu sprechen.
    Sie entsprechen zwar nicht der gel­tenden Norm, wie sie noch in Gram­matiken zu find­en ist — aber das heißt eben, dass die Norm nicht aktuell ist, nicht, dass die Sprech­er alle­samt daneben­liegen. (Das gilt genau­so natür­lich für Dinge, die unge­bräuch­lich wer­den — in der Regel passiert das ja, weil man einen praktischeren/schöneren/… Weg gefun­den hat o.ä.)

    In solchen Fällen wird auf der Seite der Gram­matikschrei­bung meist für einen san­ften Über­gang gesorgt: Die alte Regel wird um die neue Vari­ante ergänzt, ide­al­er­weise mit der Angabe, was davon neuer ist und wie anerkan­nt es schon ist, sodass man sich entschei­den kann, ob die neue Vari­ante z.B. schon in einem offiziellen Schrift­stück erscheinen kann, oder dafür noch nicht genug Akzep­tanz hat.
    Das macht der Gram­matik­du­den so und das macht auf ganz wun­der­volle Weise der Duden­band “Richtiges und gutes Deutsch” so. Der schreibt näm­lich nicht vor, wie man zu schreiben und zu sprechen hat, son­dern er erläutert Zweifels­fälle des Sprachge­brauchs und macht klar, woher sie kom­men und welchen Sta­tus sie haben.

    Die Feind­seligkeit, die Sprach­wan­del oft ent­ge­genge­bracht wird, und zwar ganz beson­ders aus Akademik­erkreisen, ist mein­er Mei­n­ung nach rein­er Bil­dungs­dünkel. Man hat diesen Code der “richti­gen” Sprachver­wen­dung gel­ernt, und nun beste­ht man auf sein­er Ein­hal­tung und gren­zt sich durch die “kor­rek­te” Ver­wen­dung von denen ab, die ihn nicht beherrschen.

    *puh* Okay, weit­er zum “Inter­net­deutsch”:
    Ich würde diesen Sprachge­brauch nicht als Inter­net­phänomen betra­cht­en (Sprach­wan­del im Deutschen ging die let­zten tausend­nochwas Jahre ganz wun­der­bar ohne Inter­net), aber vielle­icht meinen wir ja das­selbe, näm­lich dass dieser Sprachge­brauch durch das Inter­net beson­ders sicht­bar wer­den kann.
    Schrift­sprache gab es vor dem Inter­net eben vor allem als lek­to­ri­erte Schrift­sprache in Zeitun­gen, Büch­ern etc., oder als pri­vate Schrift­sprache in Briefen, Tage­büch­ern etc. Auf diesen pri­vat­en Schrift­sprachge­brauch hat­te man viel weniger Zugriff als heute.
    Das Inter­net als Medi­um zwis­chen gesproch­en­er und geschrieben­er Sprache lässt mehr Vari­a­tion und mehr Umgangssprache zu, es lässt jeden zur Sprache kom­men, der will.
    Entsprechend find­en sich hier viele Phänomene, die vorher “unsicht­bar” waren. 

    Ihr Argu­ment zur Sprache des Pfar­rers ver­ste­he ich nicht so recht. Wollen Sie sagen, dass nur ein inter­net­bee­in­flusster Men­sch eine solche Tode­sanzeige schal­ten würde? Warum? Die Tode­sanzeige ist eine gute alte Textsorte, ich hätte mir hier pro­gres­si­vere Meth­o­d­en vorstellen kön­nen. (Man denke an den Twit­ter-Account von Josef von Nazareth.)

    Okay, ich belasse es ein­mal hier­bei und freue mich auf eine weit­ere Diskussion!

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    1. Ludwig Trepl

      Liebe Kristin,

      meine Antwort wird hof­fentlich nicht noch länger wer­den als Ihre Antwort auf meine.

      Pop­ulis­tisch finde ich Ihren ersten Kom­men­tar eben deshalb, weil er Pes­simis­mus ver­bre­it­et.“ Pop­ulis­mus kann sowohl Pes­simis­mus als auch Opti­mis­mus ver­bre­it­en. Pop­ulis­tis­che Poli­tik­er der 50er und 60er Jahre hat­ten ein Lieblingsar­gu­ment: uns geht es gut und es wird von Tag zu Tag bess­er. – Natür­lich, das gebe ich zu, kann man auch in pop­ulis­tis­ch­er Weise an Min­der­heit­en, etwa an hin­sichtlich des Sprach­wan­dels Kon­ser­v­a­tive, appel­lieren, Pop­ulis­mus muß nicht heißen, sich der „schweigen­den Mehrheit“ anzubiedern.

      Wo die Sprach­wis­senschaft nun aber vom (scheint mir) Großteil der öffentlichen Mei­n­ung abwe­icht, ist in der Frage, wie unver­rück­bar ein solch­er Stan­dard ist.“ Großteil? Das glaub ich nicht. Jed­er weiß doch, daß man vor 300 Jahren anders gesprochen hat als heute und kein­er meint, daß die damals falsch gesprochen haben. Das ist keine Erken­nt­nis der Sprach­wis­senschaft, son­dern Alltagswissen.

      Deshalb ist der Duden zunächst ein­mal deskrip­tiv (was Sie ja in ihren Anweisun­gen für Studierende monieren)“. Welche Anweisun­gen meinen Sie da? Und: Meine Auf­fas­sung ist da schon kom­pliziert­er, siehe http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/03/erhalt-und-erhaltung-teil‑2.html. Ich sage: Der Duden ist nicht nur deskrip­tiv, denn was er für allzu falsch hält, nimmt er nicht auf. Er nimmt aber auch Dinge auf, die er nicht aufnehmen sollte. Selb­st wenn er sich als völ­lig deskrip­tiv ver­ste­hen sollte (was er ja nicht tut), so wirkt er doch präskrip­tiv, das sollte er bedenken und etwas vor­sichtiger sein.

      Wenn sich nun sprach­liche Änderun­gen vol­lziehen, so begin­nen sie immer zunächst ein­mal als „Fehler“: Sie fol­gen nicht der beste­hen­den Norm.“ – Meist, aber nicht immer. Nicht wenige solch­er Änderun­gen sind von vorn­here­in Verbesserun­gen, etwa manche Wörter, die einem Dichter oder ein­er Stammtis­chbe­satzung zu vorg­erück­ter Stunde ein­fall­en und die ein­fach nur genial sind. Aber das bet­rifft nicht nur Wörter. Wie das Genie Regeln in der Kun­st schafft, so oft auch in der Sprache. Diese Regeln müssen nicht falsch sein aus der Sicht dessen, was vorher war (auch wenn sie das wohl meist sind), sie kön­nen auch etwas von vorn­here­in Richtiges sein, auf das bish­er nur kein­er gekom­men ist.

      Sprache verän­dert sich erst dann nicht mehr, wenn sie nicht mehr gesprochen wird. Das galt schon immer und ich wage zu behaupten, dass es auch immer gel­ten wird. Darin sehe ich kein­er­lei Grund zur Verzweiflung.
      Die weit ver­bre­it­ete Hal­tung, dass ein willkür­lich her­aus­ge­grif­f­en­er Jet­ztzu­s­tand das ide­ale Deutsch darstellt und mit allen Mit­teln erhal­ten wer­den muss, erscheint in diesem Licht seltsam.“
      Gewiß. Aber wer aus dem deskrip­tiv­en Satz, daß die Sprache sich ändert, den nor­ma­tiv­en ableit­et, daß das so sein soll oder daß gegen eine bes­timmte Verän­derung deshalb nichts einzuwen­den ist, weil sich die Sprache nun ein­mal verän­dert – eine sehr ver­bre­it­ete Mei­n­ung -, der bege­ht einen Sein-Sollen-Fehlschluß. Wer dage­gen sagt, „dass ein willkür­lich her­aus­ge­grif­f­en­er Jet­ztzu­s­tand das ide­ale Deutsch darstellt und mit allen Mit­teln erhal­ten wer­den muß“, macht nicht einen logis­chen Fehler dieses Kalibers. Er han­delt sich aber doch ein dick­es Prob­lem ein: Er erken­nt an, daß es bessere und schlechtere Zustände der Sprache gibt und ist doch dage­gen, den derzeit­i­gen Zus­tand zu verbessern. Dafür kann er nur Bequem­lichkeit­sar­gu­mente anführen, und die sind etwas schwach. Aber ganz ver­w­er­flich sind sie nicht: Es ist teil­weise sehr berechtigte Notwehr. Ich möchte nicht, daß der Wan­del so schnell geht, daß ich nicht mehr mitkomme. Und ich komme seit etwa einem oder zwei Jahrzehn­ten mit dem Tem­po nicht mehr so recht mit; das bet­rifft nicht nur die Anglifizierung.
      Daß sich die Sprache verän­dert, heißt nicht, daß jed­er Zus­tand gle­ich gut ist. Der Zus­tand der deutschen Sprache, das möchte ich in Übere­in­stim­mung mit den Bil­dungs­bürg­ern, die Sie nicht mögen, behaupten, war zu Beginn des 18. Jahrhun­derts schlechter als gegen Ende. Dem Sprach­wan­del im Ver­lauf des 18. Jahrhun­derts ste­hen wed­er ich noch die von Ihnen ange­führten „Akademik­erkreise“ feind­selig gegenüber. In der Kaiserzeit war der Zus­tand der Zus­tand erbärm­lich, und die Sprache eines Prov­inz- oder Boule­vard­jour­nal­is­ten ist schlechter als beispiel­sweise die eines auch nur durch­schnit­tlichen Zeit-Jour­nal­is­ten. Am derzeit­i­gen Sprach­wan­del stört mich nicht, daß sich die Sprache wan­delt, son­dern wie sie sich wan­delt und warum. Natür­lich, das kann ich nicht leug­nen, gefällt mir manch­es nur deshalb bess­er, weil ich es gewohnt bin.
      Man muß, meine ich, vor allem zwei Dinge beachten:
      (1) Den Unter­schied zwis­chen „Fehlern“, die nur darauf beruhen, daß Kon­ven­tio­nen nicht einge­hal­ten wer­den, und Fehlern, die dies deshalb sind, weil etwas anderes gesagt wird als gesagt wer­den soll. Parade­beispiel für ersteres ist der soge­nan­nte säch­sis­che Gen­i­tiv. Es ist nur Kon­ven­tion, daß da kein Apos­troph zu ste­hen hat, nie­mand muß sich daran hal­ten, es ist dep­pen­haft, den Apos­troph Dep­pe­na­pos­troph zu nen­nen, wie es ja geschieht. Ein Beispiel für let­zteres ist, „Studierende“ zu schreiben, wo „Stu­den­ten“ gemeint ist, denn dann ändert sich der Sinn des Satzes, es ste­ht etwas anderes da, als daste­hen soll. Noch schön­er sieht man’s an der Ver­wech­slung von Erhalt und Erhal­tung (ein sehr ein­drück­lich­es Beispiel siehe http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/02/erhalt-und-erhaltung.html). Natür­lich kann, das schreiben Sie ja auch, ein Fehler irgend­wann ein­mal kein Fehler mehr sein. Allerd­ings ist das nicht bere­its dann der Fall, wenn irgendwelche Mehrheit­en ihn akzep­tieren. Die zählen auf unserem Gebi­et nicht (siehe http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/03/erhalt-und-erhaltung-teil‑2.html).
      (2) Man sollte darauf acht­en, aus welchem Grund vom bish­er Gel­tenden abgewichen wird. Und hier zeigt sich der eigentliche Jam­mer der derzeit­i­gen Verän­derun­gen. Es gibt natür­lich Neuerun­gen, die genial sind und hin­ter denen keine niederen Beweg­gründe zu find­en sind. Aber hin­ter dem Aller­meis­ten steck­en eben niedere Beweg­gründe. Meist geht es darum, sich aufzublähen. Fast alle Anglizis­men, die sich über­schla­gen­den Super-Superla­tive und fast wie alle Beson­der­heit­en des Poli­tik­er­jar­gons erk­lären sich so und nur so. Das vor allem, weniger die Unfähigkeit, den wahren Sinn etwa eines hingerotzten Satzes zu erken­nen, recht­fer­tigt Beze­ich­nun­gen wie Dumm- oder Deppendeutsch.

      Was in der Schule als „Regel“ ver­mit­telt wird, ist das, was sich aus dem Gebrauch viel­er als das Übliche her­auskristallisiert hat.“ Nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Auch das Übliche ist oft falsch, und nur wenige merken das.
      Ich glaube, Sie unter­schätzen die Rel­e­vanz der Objek­tiv­ität der Sprache. In http://deutsche-sprak.blogspot.com/2011/03/erhalt-und-erhaltung-teil‑2.html habe ich einen Ver­gle­ich mit der Math­e­matik gebracht. Das ist natür­lich über­zo­gen, aber das Wesentliche kann man daran gut sehen: Was richtig ist, ist keine Sache der Kon­ven­tion (auch wenn die Kon­ven­tion dabei mit­spielt), wed­er der informellen durch „das Übliche“ noch der formellen durch ein autorisiertes Gremi­um wie in Frankre­ich. Kaum eine Kon­ven­tion dieser oder jen­er Art, die nicht bei ihren Fes­tle­gun­gen bemüht ist (lei­der nicht sel­ten verge­blich), das Richtige zu tre­f­fen, also der Idee fol­gt, daß es die sprach­liche Richtigkeit als etwas Objek­tives gibt und daß man das Richtige erken­nen muß – fast wie in der Math­e­matik oder der Naturwissenschaft.

      Zur Inter­net­sprache. An ihr ärg­ert mich vor allem fol­gen­des: Sie schreiben: „Entsprechend find­en sich hier viele Phänomene, die vorher „unsicht­bar“ waren.“ – Ja, gewiß. Es kann dur­chaus sein, daß früher das Niveau des Geschriebe­nen nicht so viel unter dem heuti­gen lag, wie man im all­ge­meinen meint, daß das nur nicht zu sehen war, weil der bei weit­em größte Teil des Geschriebe­nen in pri­vat­en Briefen stand. Aber das ist es eben: Wer sich öffentlich schriftlich äußerte, bemühte sich wenig­stens um einen einiger­maßen kor­rek­ten Gebrauch der Lan­dessprache, und meist gelang das in den Briefen ja auch recht gut. Seit es das Inter­net gibt, sind alle Hem­mungen wegge­fall­en. Man schreibt da nicht ein­fach Umgangssprache. Ich kenne nie­man­den, der so spricht, wie man da schreibt. Es ist zum Großen Teil ein­fach nichts als Gegrunze. 

      Damit es nicht gar zu lang wird, hebe ich mir einige Punk­te auf für die Antwort auf Ihre Antwort, die hof­fentlich bald kommt. Nur noch eine Bemerkung zu dem Pfar­rer: Ich meine diesen Typus zu ken­nen. Natür­lich, „die Tode­sanzeige ist eine gute alte Textsorte“, aber eine Tode­sanzeige für Jesus nicht. Ich kann mir ein­fach nicht vorstellen, daß ein Pfar­rer klas­sisch-protes­tantis­chen Zuschnitts, der in der Luther­sprache denkt, auf eine solche Idee kommt.

      Beste Grüße

      Lud­wig Trepl

      Antworten
      1. Marlene

        Sehr geehrter Herr Trepl,

        ich ver­spüre ger­ade das Bedürf­nis, mich in Ihre Diskus­sion mit Kristin einzuschal­ten, weil mich die deutsche Sprache schon immer sehr fasziniert hat — auch wenn ich keine studierte Ger­man­istin bin.
        Bevor ich Ihnen in eini­gen Punk­ten wider­spreche, gebe ich Ihnen recht, wenn Sie schreiben: “Seit es das Inter­net gibt, sind alle Hem­mungen wegge­fall­en. Man schreibt da nicht ein­fach Umgangssprache. Ich kenne nie­man­den, der so spricht, wie man da schreibt. Es ist zum Großen Teil ein­fach nichts als Gegrun­ze.” Auch mir ist aufge­fall­en, dass in der elek­tro­n­is­chen Kom­mu­nika­tion die Grun­dregeln der deutschen Sprache oft schmer­zlich ver­nach­läs­sigt wer­den. Das hat sehr wahrschein­lich mit der Schnel­ligkeit der Kom­mu­nika­tion zu tun, die das Medi­um ermöglicht und die zu ein­er “Ver­let­zung der Sorgfalt­spflicht mit der deutschen Sprache” führen kann.
        Nun zu Ihrer Kri­tik: Sie sagen, dass der “Duden […] nicht nur deskrip­tiv [ist], denn was er für allzu falsch hält, nimmt er nicht auf. Er nimmt aber auch Dinge auf, die er nicht aufnehmen sollte.” An dieser Stelle argu­men­tieren Sie ein­deutig nor­ma­tiv. Das ist nicht schlimm, doch finde ich es zumin­d­est sehr prob­lema­tisch, eine Unter­schei­dung zwis­chen “guter” und “schlechter” Sprache zu tre­f­fen: “Der Zus­tand der deutschen Sprache, das möchte ich in Übere­in­stim­mung mit den Bil­dungs­bürg­ern, die Sie nicht mögen, behaupten, war zu Beginn des 18. Jahrhun­derts schlechter als gegen Ende. Dem Sprach­wan­del im Ver­lauf des 18. Jahrhun­derts ste­hen wed­er ich noch die von Ihnen ange­führten ‘Akademik­erkreise’ feind­selig gegenüber. In der Kaiserzeit war der Zus­tand der Zus­tand erbärm­lich, und die Sprache eines Prov­inz- oder Boule­vard­jour­nal­is­ten ist schlechter als beispiel­sweise die eines auch nur durch­schnit­tlichen Zeit-Jour­nal­is­ten. Am derzeit­i­gen Sprach­wan­del stört mich nicht, daß sich die Sprache wan­delt, son­dern wie sie sich wan­delt und warum.” Welche Kri­te­rien benutzen Sie denn, um zwis­chen “guter” und “schlechter” Sprache zu unter­schei­den zu können?
        Ich ver­mute, die Antwort zu dieser Frage haben Sie bere­its selb­st gegeben: “Am derzeit­i­gen Sprach­wan­del stört mich nicht, daß sich die Sprache wan­delt, son­dern wie sie sich wan­delt und warum. Natür­lich, das kann ich nicht leug­nen, gefällt mir manch­es nur deshalb bess­er, weil ich es gewohnt bin.” Ich glaube, dass wir vieles “verurteilen” oder als “schlecht” kat­e­gorisieren, weil es neu ist und gegen unsere Gewohn­heit­en ver­stößt. Der Men­sch ist eben ein Gewohnheitstier!
        Falls Sie andere Kri­te­rien ver­wen­den als ihr per­sön­lich­es Empfind­en, lasse ich mich aber gerne von Ihnen umstimmen.

        Beste Grüße,
        M. Wienold

        Antworten
        1. Ludwig Trepl

          Liebe Mar­lene Wienold
          Nur zu einem der von Ihnen genan­nten Punk­te: „…doch finde ich es zumin­d­est sehr prob­lema­tisch, eine Unter­schei­dung zwis­chen „guter“ und „schlechter“ Sprache zu tre­f­fen“. Die haben Sie aber eben selb­st getrof­fen. Sie ist unver­mei­dlich. Sie haben sich­er auch schon gesagt: Da habe ich mich nicht gut aus­ge­drückt, lassen Sie es mich noch ein­mal ver­suchen. Immer, wenn man sich bemüht, etwas angemessen, schön, richtig zu sagen, macht man diese Unter­schei­dung. Die Frage ist nur: wie unter­schei­det man richtig zwis­chen guter und schlechter. Kristin hat schon recht, wenn sie diejeni­gen kri­tisiert, die ein­fach die derzeit­ige für die gute hal­ten, und dem stim­men Sie ja auch zu, wenn Sie kri­tisieren, daß das als schlecht gilt, „was neu ist und gegen unsere Gewohn­heit­en ver­stößt“. Jedem unter­läuft das, man sollte es sich bewußt machen und bekämpfen. Aber es gibt auch andere, objektiv(er)e Kri­te­rien, ich habe in mein­er Rep­lik auf Kristin welche angedeutet, siehe dort. Weit­ere wären z. B.: schlecht ist das Ver­schwinden von Wörtern mit präzis­er Bedeu­tung zugun­sten von Wörtern, die alles und nichts bedeuten. Und es gibt natür­lich ästhetis­che Kri­te­rien. Das typ­is­che Amts­deutsch ist auch deshalb zu kri­tisieren, weil es sich wegen der unzäh­li­gen Sub­stan­tivierun­gen ein­fach graus­lig anhört.
          Viele Grüße
          Lud­wig Trepl

  4. janwo

    Warum, warum nur wollen eigentlich immer wieder Leute anderen Leuten vorschreiben, wie sie ihre Mut­ter­sprache zu gebrauchen haben? Das erin­nert mich vom Absur­ditäts­grad an die im Krieg liegen­den Liliputan­erre­iche aus “Gul­liv­ers Reisen”, wo aufs Erbit­tert­ste darum gestrit­ten wurde, welch­es die einzig richtige Art sei, ein Früh­stück­sei zu öffnen. 

    Her­rgot­nochmal! Sprache ist ein Gebrauchs­ge­gen­stand, ein Werkzeug, und das mag jed­er bitte ein­set­zen dür­fen, wie es ihm beliebt! Der eine unbe­holfen, der andere kün­st­lerisch, der eine salopp, der andere akku­rat. Diese Vari­a­tions­bre­ite ist eine der gar nicht zu unter­schätzen­den Stärken men­schlich­er Sprache. Und: “kaputt” gegan­gen ist das Deutsche trotz eines schon über Jahrhun­derte währen­den Lamen­tos des ange­blichen Nieder­gangs immer noch nicht.

    Antworten
    1. Ludwig Trepl

      Warum, warum nur wollen eigentlich immer wieder Leute anderen Leuten vorschreiben, wie sie ihre Mut­ter­sprache zu gebrauchen haben?“ Dann soll­ten Sie aber kon­se­quent sein und die Abschaf­fung der Deutschlehrer fordern. Doch das würde auch nicht viel helfen. Nach wie vor würde der Richter zum Angeklagten sagen: „Gemeint mögen Sie das ja haben, aber was Sie geschrieben haben, bedeutet lei­der etwas anderes und zwar etwas, was den Tatbe­stand des Betrugs erfüllt.“ Dann bleibt dem Angeklagten nichts übrig als zu antworten: „Ich bin lei­der nicht in der Lage, meine Mut­ter­sprache richtig zu ver­wen­den.“ Das müßte Sie eigentlich bere­its im Rah­men Ihrer Auf­fas­sung, Sprache sei „ein Gebrauchs­ge­gen­stand, ein Werkzeug“, die ich ganz und gar nicht teile, überzeugen.
      Übri­gens ist das mit den „über Jahrhun­derte währen­den Lamen­tos des ange­blichen Nieder­gangs“ nicht ganz richtig. Bis vor etwa 200 Jahren über­wog bei weit­em die Auf­fas­sung, daß es mit der deutschen Sprache stetig bergauf gehe.

      Antworten
      1. janwo

        > Dann soll­ten Sie aber kon­se­quent sein und die Abschaf­fung der Deutschlehrer fordern.

        Das ist so ein unsach­lich­er Schmar­rn, dass ich gar nicht weiß, ob ich darüber lachen oder weinen soll.

        Antworten
        1. Ludwig Trepl

          Wenn Sie der Mei­n­ung sind, daß jed­er die Sprache „ein­set­zen“ dür­fen soll, „wie es ihm beliebt“, dann ist die unauswe­ich­liche Kon­se­quenz, daß es keine Leute braucht, die anderen beib­rin­gen, wie man sie richtig ein­set­zt, also Lehrer. Das ist eine völ­lig „sach­liche “ Fest­stel­lung. Es ist auch gar nicht so abwegig: Man macht es dann halt so wie es früher war: Die Kinder lern­ten sprechen dadurch, daß sie auf­nah­men, was sie ist ihrem Dorf so hörten, es gab keine Insti­tu­tion, die darüber wachte. Kann ja auch ganz gut sein, nur glaube ich nicht (das war mein Richter-Argu­ment), daß damit das Prob­lem mit der Richtigkeit aus der Welt wäre. Haben Sie dage­gen ein Argu­ment (nicht nur einen flot­ten Spruch)?

        2. JJ

          Die Kinder lern­ten sprechen dadurch, daß sie auf­nah­men, was sie ist ihrem Dorf so hörten, es gab keine Insti­tu­tion, die darüber wachte.

          Wie hast du* denn sprechen gel­ernt? Mit 6, im Deutschunterricht?

          ———
          * Das fol­gt den Kon­ven­tio­nen der Internetkommunikation.

      2. Patrick Schulz

        Deutschunter­richt ist an sich nichts schlecht­es, solange er sich auf Lit­er­atur (im weitesten Sinne) und die Aspek­te von Sprache beschränkt, die nicht natürlchen Prinzip­i­en und Geset­zmäßigkeit­en unter­liegen (Rechtschrei­bung, z.B.). Zwar sollte man auch Gram­matik lehren, allerd­ings nicht wie bish­er präskrip­tiv, son­dern auss­chließlich deskrip­tiv („Bei ‚Wegen dem…’ regiert wegen den Kasus, den wir ‚Dativ’ nen­nen und das wird eben­so ver­wen­det wie ‚wegen des…’, wo ‚wegen’ den Kasus, den wir als ‚Gen­i­tiv’ beze­ich­nen, regiert.“ statt „,Wegen dem’ ist schlecht, da ‚wegen’ Gen­i­tiv zu regieren hat“).

        Sie wer­den lachen, aber tat­säch­lich sind der­ar­tige Forderun­gen in Lin­guis­tikkreisen recht weit verbreitet.

        Auch ihr let­zter Punkt gehört wider­sprochen: Bere­its 1617 wurde die „Frucht­brin­gende Gesellschaft“ gegrün­det, die sich dem Kampf gegen den Nider­gang der deustchen Sprache (vor dem Franzö­sis­chen) ver­schrieben hat und immer­hin heute noch vorhan­dene Wörter wie Abstand (für Dis­tanz) oder Augen­blick (für Moment) her­vorge­bracht hat. Hät­ten die Leute dort tat­säch­lich nur eine Min­der­heit repräsen­tiert, hät­ten sich weit weniger der­er Vorschläge durchge­set­zt und bis heute gehalten.

        Auf der anderen Seite gebe ich Ihnen Recht, es gibt tat­säch­lich Bere­iche, in denen eine Kod­i­fizierung von Sprache ihre Berech­ti­gung hat. Allerd­ings wird dann diese Normierung nicht der Sprache wegen vorgenom­men, son­dern beispiel­sweise um Recht­sklarheit zu schaf­fen. Wären die Sprech­er des Deutschen nur eine Min­der­heit in ein­er Gesellschaft mit ein­er andern Amts-/Gerichtssprache, würde sich der Bedarf an ein­er Kod­i­fizierung verlieren.

        Antworten
        1. Ludwig Trepl

          Lieber Patrick Schulz,
          Sie schreiben: „statt „,Wegen dem’ ist schlecht, da ‚wegen’ Gen­i­tiv zu regieren hat“ sollte man auss­chließlich deskrip­tiv Gram­matik lehren.
          Ja, kann man machen; aber ändert das viel? Sie lehren das Sys­tem der Sprache rein deskrip­tiv, aber sie ist nun mal ein präskrip­tives Sys­tem. Es ist so, als würde man nicht lehren: Du sollst nicht betrü­gen usw., son­dern ganz deskrip­tiv die Recht­slage beschreiben: Man unter­liegt den Geset­zen dann aber immer noch. Der Unter­schied ist vielle­icht, daß man nun eher denkt: gut, so ist das Gesetz, ich hab die Wahl es zu befol­gen oder es zu brechen.
          Ihr Hin­weis auf die „Frucht­brin­gende Gesellschaft“ wider­spricht nicht dem, was ich sagte. Es war doch so: Zu Anfang des 17. Jahrhun­derts begann sich die franzö­sis­che Sprache in den höheren Stän­den auszubre­it­en. Das mocht­en manche nicht, die wur­den mehr und immer mehr, das Franzö­sis­che wurde zurückge­drängt und im 18. Jahrhun­dert trat ein Zus­tand ein, der von der Mehrheit (der gebilde­ten Stände wenig­stens) als ein Auf­blühen des Deutschen gese­hen wurde.
          Ihren let­zten Satz (Gerichtssprache) habe ich nicht verstanden.

        2. Patrick Schulz

          Nur zur Klärung: Präskrip­tiv heist: „Etwas muss so sein (damit es richtig ist)“, während deskrip­tiv bedeutet: „Etwas ist so (egal, ob ich es als richtig empfinde oder nicht)“. Sprache ist kein präskrip­tives Sys­tem: Es gibt nie­man­den, der uns verbindlich vorschreibt, dass „wegen“ mit Gen­i­tiv zu ver­wen­den ist oder dass „Die Katze aus dem Sack lassen“ nicht wörtlich zu ver­ste­hen ist. 

          Was andres ist Rechtschrei­bung, die ist tat­säch­lich präskrip­tiv fest­geschrieben, also amtlich. Allerd­ings hat die auch nichts mit (dem Sys­tem) Sprache zu tun. Oder anders: es gibt keine amtlich fest­geschriebene Gram­matik des Deutschen. Und das ist auch gut so, weil son­st die Sprache tat­säch­lich ster­ben würde.

  5. Pierpaolo Frasa

    Sehr geehrter Herr Trepl,

    Sie machen hier ein riesiges Faß auf und ich weiß nicht, ob Ihnen das bewußt ist.
    Mech­a­nis­men des Sprach­wan­dels sind hochkom­plex und eigentlich von keinem Wis­senschaftler meines Wis­sens in ihrer Gänze ver­standen. Natür­lich dür­fen Sie Ihre sub­jek­tive Mei­n­ung zu Sprach­wan­delphänome­nen haben, dabei gilt es aber zu unter­schei­den zwis­chen: i) rein sub­jek­tiv­en Ansicht­en der Form “ich finde die Schreib­weise ‘Majonäse’ häßlich” oder “die Adelungsche ß‑Schreibung ist schön­er” (bei­des würde ich so unter­schreiben), die man nun ein­mal so ste­hen­lassen kann und muß und ii) zwis­chen objek­tivier­baren Fak­ten und in Wahrschein­lichkeit­en zu fassende Voraus­sagen zum Zus­tand und der Funk­tion­al­ität von Sprache, für die es uner­läßlich ist, die Wis­senschaft zu Rate zu ziehen. Sie dür­fen selb­stver­ständlich auch in diesem Fall Ihre Mei­n­ung vertreten, soll­ten sich dann allerd­ings von Experten auf dem Gebi­et auch belehren lassen kön­nen (auch das hat mit gutem Stil zu tun, genau so wie manche sprach­liche Wen­dun­gen, für die sie sich starkmachen).

    Ich bin erst ein­mal froh drum, daß Sie (zumin­d­est aus Ihrer per­sön­lichen Sicht, die andere wohl nicht uneingeschränkt Teilen) etwas Licht in die teil­weise etwas dif­fuse Argu­men­ta­tion von “Sprach­wan­delkri­tik­ern” (ich werde diesen Begriff jet­zt man­gels eines besseren ver­wen­den) bringen.
    Sie haben in der Tat zum einen Recht, daß viele Sprach­wis­senschaftler einen Sein-Sollen-Fehlschluß bege­hen — und daß aus der Tat­sache, daß Sprache sich wan­delt, sich erst ein­mal gar nichts ergibt: wed­er daß dieser gut, noch schlecht ist und auch nicht, daß es egal ist.
    Auf der anderen Seite bedeutet das aber, daß für eine “Eval­u­a­tion” des Sprach­wan­dels irgen­deine Meßlat­te her­beige­zo­gen wer­den müßte. Hier ver­lassen Sie sich gän­zlich auf Ihre sub­jek­tiv­en Ein­drücke, die Ihnen wie gesagt unbenom­men sind, aber nichts über eine objek­tive Qual­ität der Sprache aus­sagen. Woll­ten Sie diese beurteilen, müßten Sie erst ein­mal ver­suchen, sprach­liche Kon­struk­tio­nen mit bes­timmten (uner­wün­scht­en) sozialen oder anderen Fak­toren zu kor­re­lieren, was etwas schwierig sein dürfte. Tat­säch­lich ist es nor­maler­weise eher so, daß eine Sprache genau das aus­drückt, was ihre Gemein­schaft auch aus­drück­en will. Die kom­mu­nika­tive Funk­tion von Sprache kann nicht ver­lorenge­hen, solange die Gemein­schaft noch ein Inter­esse an Kom­mu­nika­tion hat (das unter­stelle ich unser­er Gesellschaft ein­fach ein­mal). Ver­schwinden einzelne Unter­schei­dun­gen aus dem Sys­tem, zeigt das nicht, daß diese nicht mehr aus­ge­drückt wer­den kön­nen, son­dern nur, daß diese sys­te­mex­tern — also durch Umschrei­bun­gen, etc. — aus­ge­drückt wer­den — oder daß neu geschaf­fene Mehrdeutigkeit­en so oder so nor­maler­weise durch den Kon­text desam­bigu­iert wer­den. An der Bre­ite der kom­mu­nika­tiv­en Hand­lun­gen ändert das an sich nichts, höch­stens daran, daß manch­es durch län­gere Aus­drücke geäußert wer­den muß. Hier zeigt sich aber, daß oft gebrauchte und in der Gesellschaft wichtige Begriffe und Konzepte ohne­hin verkürzt wer­den. Die Sprachökonomie (als natür­liche Kraft) führt also dazu, daß die Sprache let­zten Endes mehr oder weniger auf die Gesellschaft zugeschnit­ten ist. Kri­tisieren Sie das Fehlen gewiss­er Unter­schei­dun­gen, ist das eigentlich eher ein gesellschaftlich­es als ein sprach­lich­es Prob­lem, was mit Sprach­poli­tik eigentlich kaum behoben wer­den kann. (Sofern Sprach­poli­tik sowieso über­haupt irgend­was bewirken kann, außer dicke Büch­er zu füllen und irgendwelche armen Beamten zu drangsalieren. Ein weit­eres objek­tivier­bares Fak­tum, das Sprach­wan­delkri­tik­er meist entwed­er nicht ken­nen oder ignori­eren, ist daß (Alltags-)Sprache sich nicht verord­nen läßt.)
    Der Ver­gle­ich mit Math­e­matik ist aus min­destens zwei Grün­den unpassend: Zum einen ist Math­e­matik ein von Men­schen bewußt aufge­bautes Sys­tem, um sich auf exak­te Art und Weise über kom­plexe Sachver­halte aus­tauschen und diese analysieren zu kön­nen, während Sprache in erster Lin­ie ein Mit­tel der sozialen Inter­ak­tion ist und auch stets indi­vidu­ell wan­del­bar sein MUSS; zum anderen ist selb­st Math­e­matik nicht so “exakt” wie sie es darstellen: Es gibt über­haupt keinen Grund, wieso unsere Math­e­matik, so wie sie jet­zt ist, “richtig” sein sollte. Sie beschreibt viele Phänomene sehr gut, aber andere Sys­teme hät­ten wom­öglich das­selbe auf Grund­lage ganz ander­er Axiome erk­lären kön­nen. Nicht umson­st gibt es ja auch neben der euk­lidis­chen die hyper­bolis­che Geome­trie usw. Sowohl Math­e­matik als auch Sprache sind men­schlich geschaf­fene Kon­struk­te und sich in dem Sinne darin ähn­lich, daß es kein “richtiges” oder “falsches” Sys­tem gibt, aber darin unter­schiedlich, daß sie ganz anderen Zweck­en dienen und demzu­folge andere Anforderun­gen an sie gestellt wer­den müssen.

    Ein weit­er­er Punkt, der Lin­guis­ten an den meis­ten Sprach­wan­delkri­tik­ern ärg­ert, ist die man­gel­nde Dif­feren­zierung von Sprach­wan­delphänome­nen bzw. die Beschränkung auf lexikalis­chen Wan­del, wie auch die Unken­nt­nis der Relationen.
    Lexikalis­ch­er Wan­del ist aus lin­guis­tis­ch­er Sicht ver­gle­ich­sweise unin­ter­es­sant. Die Mech­a­nis­men von Entle­hung usw. kön­nen studiert wer­den, aber let­zten Endes hat das Lexikon eine unglaublich zufäl­lige Kom­po­nente, die sich nicht wirk­lich mit Ver­all­ge­meinerun­gen beschreiben läßt. Wörter kom­men und gehen in jed­er Sprache und viele Wörter, die wir heute über­haupt nicht mehr ken­nen, waren ein­mal genau so Mod­ewörter wie heute “pub­lic view­ing” und haben es let­zten Endes dann doch nicht geschafft, dauer­haft ins Lexikon aufgenom­men zu wer­den. Andere sind geblieben. So wird das auch mit heuti­gen Fremd­wörtern der Fall sein, und so war das in der Sprachgeschichte schon immer. Unsin­nige Kreatio­nen, die ger­ade “in” sind, wer­den ihren Einzug kurzzeit­ig find­en und dann gehen, wenn man für sie keine wirk­liche Ver­wen­dung find­et. Ger­ade im Fall von Wörtern ist Kri­tik beson­ders unsin­nig, weil es keine inhärent “besseren” oder “schlechteren” Wörter für Dinge gibt und man in der deutschen Sprache auch ein­fach alle Wörter durch andere Wörter erset­zen kön­nte — die deutsche Sprache würde gle­ich gut funktionieren.
    Den einzi­gen Punkt, den Sie gel­tend machen kön­nen, ist daß lexikalis­ch­er Wan­del für diejeni­gen neg­a­tive Auswirkun­gen hat, die das “alte Sys­tem” ken­nen. Da sind Sie nicht die ersten, die das fest­stellen. Schon seit man Sprach­wan­del ken­nt, wurde dieser stets neg­a­tiv beurteilt, weil er der all­ge­meinen Ver­ständi­gung abträglich ist — das ist eine objek­tive Tat­sache (die wüsteren Beschimp­fun­gen mußte sich allerd­ings eher der Laut­wan­del als der lexikalis­che Wan­del anhören). Allerd­ings ist das gewiss kein neues und schon gar kein aufhalt­bares Phänomen. Und die Imp­lika­tio­nen, die Sie ziehen, sind auch viel zu weit gegrif­f­en. Wie gesagt ist der Wan­del, den Sie beobacht­en, lexikalisch. Das heißt, daß nur Wörter aus­ge­tauscht wer­den — an der Struk­tur der Sprache hinge­gen ändert sich nur sehr, sehr, sehr langsam etwas. Wenn Sie mich fra­gen, was heute in Europa ein DRINGENDES Prob­lem von “Sprach­wan­del” ist, dann würde ich Ihnen sagen, daß Sie sich eher um das Dialek­t­ster­ben Sor­gen machen soll­ten. Die deutsche Sprache wird näm­lich eher immer stärk­er stan­dar­d­isiert und auf einen Nen­ner gebracht, was früher mal über­haupt nicht der Fall war.

    Und der let­zte Punkt ist ein­er, wo ich Ihnen und anderen Sprach­wan­delkri­tik­ern zum Teil Recht gebe und zum Teil nicht: Ich bin mit Ihnen ein­ver­standen, daß die sprach­liche Kom­pe­tenz viel­er Leute heutzu­tage zu Wün­schen übrig läßt.
    Dabei han­delt es sich allerd­ings strenggenom­men wieder nicht um ein lin­guis­tis­ches, son­dern um ein gesellschaftlich­es Prob­lem: Es ist nicht das Prob­lem, daß die Sprache all­ge­mein “schlechter” würde (was ja — wie gesagt — eine objek­tiv kaum halt­bare These ist), das Prob­lem beste­ht darin, daß in unser­er Sprache viele ver­schiedene Reg­is­ter beste­hen, die sehr unter­schiedlichen Geset­zen gehorchen, und die man als kom­pe­ten­ter Sprech­er beherrschen sollte, um sich in der Gesellschaft gut bewe­gen zu kön­nen. Nun ist es aber so, daß die Beherrschung bes­timmter Reg­is­ter nicht bei allen gle­ich aus­geprägt ist, was zu Prob­le­men und Ver­stim­mungen in der Kom­mu­nika­tion führt — ähn­lich wie wenn sich ein Schwabe mit einem Plattdeutschsprech­er unter­hal­ten würde.
    Eben­so beste­ht ein Prob­lem im Lesev­er­ständ­nis heutiger (ger­ade auch junger) Leute: das hat wiederum aber nichts damit zu tun, wie diese Leute reden, son­dern daß sie a) nicht alle Reg­is­ter und b) nicht alle (zumin­d­est die jün­geren) his­torischen Stufen (zB das Deutsch eines Goethe) ken­nen; und c) zu wenig darüber ler­nen, wie Texte aufge­baut sind, wie man konzen­tri­ert liest, wie Argu­men­ta­tio­nen funk­tion­ieren, etc. etc. — das sind eher lit­er­arisch-philosophis­che Fähigkeit­en und keine linguistischen.
    Reg­is­ter­be­wußt­sein und Lesev­er­ständ­nis zu fördern hat nichts damit zu tun, Sprach­wan­del aufhal­ten zu wollen. In der Tat wurde schon unter­sucht (meines Wis­sens von David Crys­tal), daß das Benutzen von SMS-Jar­gon u.ä. keine Aus­sagen über die Beherrschung des stan­dard­sprach­lichen Aus­drucks erlaubt — sofern sie bei­des gel­ernt haben, sind Jugendliche dur­chaus in der Lage, hier zu dif­feren­zieren. Das­selbe kann ich im Übri­gen auch aus eigen­er Erfahrung berichten.

    Das führt generell zu einem Haup­tkri­tikpunkt aus lin­guis­tis­ch­er Sicht an den meis­ten Sprach­wan­delkri­tik­er-Argu­menten: Die Nicht-Unter­schei­dung von sta­bil­er Vari­a­tion (oder gar ein­fach spon­tan­er Kreativ­ität) und tat­säch­lichem Wandel.
    Daß viele Poli­tik­er, Wer­beleute, usw. Begriffe ver­wen­den, die Sie (und ich oft auch) als unglück­lich empfind­en, hat mit Sprach­wan­del eigentlich nichts zu tun, da es sich um einzelne sprach­liche Hand­lun­gen han­delt, die das Gesamt­sys­tem der Sprache in kein­er Weise bee­in­flussen. Erst wenn sich ein Lex­em wirk­lich durch­set­zt und auch über Jahre hin­weg Ver­wen­dung find­et, kön­nen Sie wirk­lich von Wan­del sprechen. Die meis­ten Dinge, die Sie kri­tisieren, wer­den ver­mut­lich irgend­wann kein The­ma mehr sein.

    Jet­zt ist diese Rep­lik doch furcht­bar unstruk­turi­ert gewor­den, aber damit werde ich wohl leben müssen.

    Mit fre­undlichen Grüßen
    P. Frasa

    Antworten
  6. Ludwig Trepl

    Lieber Herr Frasa,

    wenn ich auf alles antworten sollte, was Sie ansprechen, bräuchte ich Wochen; ich bin nicht vom Fach und mir fließen Sätze zu diesem The­ma nicht so leicht aus der Fed­er. Darum nur ein paar unzusam­men­hän­gende und unge­ord­nete Bemerkungen.

    Sie machen hier ein riesiges Faß auf und ich weiß nicht, ob Ihnen das bewußt ist.
“ Doch, das ist mir schon bewußt. Aber es gibt kaum einen Satz im all­ge­meinen intellek­tuellen Diskurs (ich hoffe, man ver­ste­ht, was ich meine, mir fällt jet­zt keine bessere For­mulierung ein), der nicht aus der Sicht ein­er für das jew­eilige Detail zuständi­gen wis­senschaftlichen Diszi­plin ein riesiges Fach auf­macht. Den­noch sind diese Sätze nicht über­flüs­sig, und es kann für die Fachgelehrten sehr nüt­zlich sein, sich an diesem Diskurs zu beteili­gen. Ich kön­nte Ihnen Fälle nen­nen, in denen ganze Denkge­bäude, die im Panz­er des Par­a­dig­mas für die Ewigkeit gefügt erscheinen, bei der leis­es­ten Berührung mit diesem all­ge­meinen Diskurs zusam­men­fall­en, weshalb diese Berührung auch gemieden wird. Das nur dazu, warum ich mich, als Laie, hier über­haupt äußere, obwohl ich, als Wis­senschaftler, wenn auch auf ganz anderem Gebi­et, gewohnt bin, solch lock­eres Daherre­den ohne Ken­nt­nis der ein­schlägi­gen Diskus­sio­nen den Stu­den­ten nicht durchge­hen zu lassen. – Sie schreiben, ich „darf“ meine Mei­n­ung äußern. Natür­lich, juris­tisch darf ich das, aber darum geht es hier nicht. Ich „darf“ meine Mei­n­ung nur haben, solange man sie mir nicht wider­legt. Darauf warte ich, die Antworten sind die Prüfin­stanz in diesem all­ge­meinen intellek­tuellen Diskurs.

    Sie schreiben: „…dabei gilt es aber zu unter­schei­den zwis­chen: i) rein sub­jek­tiv­en Ansicht­en der Form „ich finde die Schreib­weise ‘Majonäse’ häßlich …“. Da muß man, meine ich, weit­er unter­schei­den: zwis­chen dem Pri­vat­geschmack, wo jed­er den seinen haben mag (das gehört sich­er die Majonäse hin, die Schreib­weise des Wortes wie die damit beze­ich­nete Sache), und dem Geschmack, der im Schön­heit­surteil im Kantschen Sinn am Werk ist, dem Urteil, das „Anspruch auf die Beis­tim­mung von jed­er­mann macht“ (oder so ähn­lich). Kann es sein, daß dieser Unter­schied unter Lin­guis­ten ver­nach­läs­sigt wird? Daß damit auch ver­nach­läs­sigt wird, daß ein beträchtlich­er Teil von Sprachkri­tik, und zwar der, wo man mit Ästhetik argu­men­tiert, und zwar mit objek­tivem Anspruch, gar nicht in das Gebi­et des wis­senschaftlich Demon­strier­baren fällt, son­dern von der Art der Kun­stkri­tik ist? Wo es a) zwar um das einzelne, je eigene Geschmack­surteil geht und dabei b) doch nicht um die Frage geht, was gefällt, son­dern was objek­tiv gefall­en sollte? – Ich habe den Ein­druck, Sie haben, wenn Sie von Sprach­wan­delkri­tik­ern reden, Leute wie B. Schick im Auge. Lesen Sie „Sprach­wan­delkri­tik­er“ von Rang, Karl Kraus oder Hen­scheid z. B., da sieht es in dieser eben genan­nten Hin­sicht gle­ich ganz anders aus.

    Auf der anderen Seite bedeutet das aber, daß für eine „Eval­u­a­tion“ des Sprach­wan­dels irgen­deine Meßlat­te her­beige­zo­gen wer­den müßte. Hier ver­lassen Sie sich gän­zlich auf Ihre sub­jek­tiv­en Ein­drücke“. Nein, das mache ich aus­drück­lich nicht, mit denen fange ich nur an, bzw. wo ich es mache, dann im Bere­ich des Ästhetis­chen und dann mit dem eben ange­sproch­enen objek­tiv­en Anspruch („sub­jek­tive All­ge­mein­heit“ des Urteils). Hier kann kri­tisiert wer­den wie in der Kun­stkri­tik üblich, und die Kri­tik an mein­er Kri­tik irri­tiert mich dann vielle­icht, und ändert vielle­icht ändert sich dann auch mein Urteil.
    Aber davon abge­se­hen ver­lasse ich mich nicht auf sub­jek­tive Ein­drücke, son­dern argu­men­tiere, ver­suche also zu objek­tivieren. Daß das über­haupt möglich ist, wird gewöhn­lich mit kon­ven­tion­al­is­tis­chen Argu­menten bestrit­ten. Ich weiß nicht, ob Sie das auch tun. Ich meine dazu: Die Sprache ist natür­lich im Gebrauch ent­standen und ändert sich durch Änderung irgendwelch­er Kon­ven­tio­nen, aber zu jedem Zeit­punkt ist sie ein Sys­tem mit meist ziem­lich bis sehr strenger „Logik“. Man kann einen bes­timmten Gedanken so aus­drück­en und nicht so, bzw. wenn, nicht, dann ist es eben ein ander­er Gedanke als der, der es sein soll. „Die Studieren­den in diesem Raum“ sind die, die studieren, nicht die Stu­den­ten im Raum, die schlafen. Es sind aber von denen, die so reden, alle Stu­den­ten gemeint. Das ist ein Fehler.
    Aber ger­ade jet­zt ist eben dieser Fehler dabei, kein­er zu wer­den; es ist sich­er nicht damit zu rech­nen, daß die „Studieren­den“, so, wie das Wort zur Zeit im Jar­gon der Politko­r­rek­tler gebraucht wird, wieder ver­schwinden wer­den. Nun sagen Sie, wenn ich es richtig ver­ste­he, daß der Kon­text schon dafür sorgt, daß die Sprache weit­er funk­tions­fähig bleibt, man „Studierende“ so ver­ste­ht, wie es die Sprech­er haben wollen. Ja, jet­zt bere­its von denen, die es mit der Wortbe­deu­tung nicht genau nehmen und auch denen, die gle­ich riechen, daß hier die polit­i­cal cor­rect­ness am Wirken ist. Und irgend­wann von allen, näm­lich wenn die Umstel­lung vol­l­zo­gen ist, dann kann man, die neue Wen­dung gebrauchen, ohne daß da irgend­was knirscht oder schlicht falsch, sin­nverz­er­rend wird. Aber erst mal ist sie falsch. Oder nehmen Sie das sog. Dep­pen­leerze­ichen. Es gibt fast immer dem Satz einen völ­lig anderen Sinn als den, den er haben soll, oder es zer­stört jeden Sinn. Um hier wieder Ver­ständlichkeit und Ein­deutigkeit herzustellen, ist, darüber schreiben Sie ja auch, ein ganz­er Rat­ten­schwanz von Verän­derun­gen an ander­er Stelle nötig. Dieses Leerze­ichen wird sich, wie ich meine Deutschen kenne, wohl durch­set­zen, und dann wird entwed­er die Sprache gewaltig an Dif­fusität gewon­nen haben (also tat­säch­lich objek­tiv schlechter gewor­den sein) oder jen­er Rat­ten­schwanz an notwendi­gen Umstel­lun­gen wird Real­ität wer­den, der Sinn wird „sys­te­mex­tern – also durch Umschrei­bun­gen, etc. – aus­ge­drückt wer­den“ oder „neu geschaf­fene Mehrdeutigkeit­en“ wer­den „durch den Kon­text desam­bigu­iert“ und alles ist wieder in Ord­nung. – Sie schreiben: „Die meis­ten Dinge, die Sie kri­tisieren, wer­den ver­mut­lich irgend­wann kein The­ma mehr sein.
“ Das glaub ich gern, aber weniger, weil sie wieder ver­schwinden wer­den – das allerd­ings auch; das inter­essiert mich aber nicht: jet­zt haben wir sie. Son­dern mehr deswe­gen: Sie sind noch da, aber nicht mehr zu kri­tisieren, sie sind keine Fehler mehr.

    Ich springe. Wenn ich meinen Ver­dacht in einem Satz zusam­men­fassen darf: Sie unter­schei­den mir zu wenig zwis­chen dem, was die Sprache in jedem Moment fordert (hier gilt im all­ge­meinen richtig-falsch, gut-schlecht, schlau-däm­lich; und es ist ziem­lich egal, wie die Leute reden: vielle­icht reden sie alle falsch, das entschei­den nicht die Leute) und dem, was diachron passiert, in dem Prozessen, die das Sys­tem der Sprache erzeu­gen: Da wirken Kon­ven­tio­nen, da gibt es eine Macht der Mehrheit, da wird der Begriff „Fehler“ prob­lema­tisch. Ich durchschau’s noch nicht ganz, aber irgend­wie scheint mir da eine Vari­ante der Gen­e­sis-und-Gel­tung-Prob­lematik ihr Unwe­sen zu treiben.

    Das ist das eine: Es geht mir nicht nur um sub­jek­tive Ein­drücke, son­dern um Fehler, und „Fehler“ ist etwas mehr als nur ein Abwe­ichen von Konventionen.
    Der andere mir wichtige Punkt ist sozusagen ein moralis­ch­er. Sie schreiben: „Unsin­nige Kreatio­nen, die ger­ade „in“ sind, wer­den ihren Einzug kurzzeit­ig find­en und dann gehen, wenn man für sie keine wirk­liche Ver­wen­dung find­et.“ Offen­bar sind Sie der Mei­n­ung, daß das Gute pos­i­tiv aus­ge­le­sen wird. Ich glaube, da täuschen Sie sich sehr; die dar­win­sche Selek­tion liest nicht das „Gute“ pos­i­tiv aus, son­dern das, was unter bes­timmten Umweltbe­din­gun­gen zu mehr Nachkom­men führt. Die Mehrzahl der sich neu in den Vorder­grund drän­gen­den Wörter tut das, weil sie dem Sprech­er hil­ft, sich aufzublähen, Min­der­w­er­tigkeit­skom­plexe zu verdeck­en und ähn­lich­es. Fast alle Anglizis­men haben diesen Hin­ter­grund; wer das leugnet, ist naiv oder macht sich was vor.
    Gewiß, diese Funk­tion haben viele der Neuwörter irgend­wann nicht mehr (man wirkt nicht mehr welt­män­nis­ch­er dadurch, daß man seit langem übliche Wörter englis­ch­er Herkun­ft wie Sport oder Jeans benutzt), aber diese Funk­tion scheint doch – beim derzeit­i­gen See­len- und Geis­teszu­s­tand der Deutschen wenig­stens – weit­er­hin wichtig, und dann wer­den halt andere, funk­tion­stüchtige Bläh­wörter an die Stelle ver­schlis­sener treten. Aber bei vie­len ist die mit solchen niederen Beweg­grün­den ver­bun­dene Funk­tion ziem­lich dauer­haft; der Wortschatz des Jar­gons der Eigentlichkeit ist heute noch wei­thin in Gebrauch. Kurz: die „wirk­liche Ver­wen­dung“, die die „unsin­ni­gen Kreatio­nen“ find­en, kann auch in etwas Schlechtem beste­hen. – Das ist es, was mir am derzeit­i­gen Sprach­wan­del am meis­ten auf die Ner­ven geht: daß in ihm ein moralis­ch­er, so muß man’s wohl nen­nen, Ver­fall (keine Sorge, ich weiß, wohin man sich mit diesem Wort stellt und passe auf) zu Aus­druck kommt. Wo man auch hin­sieht und hin­hört, man sieht sich von Leuten umwin­selt, die einem durch ihre Wort­wahl zu ver­ste­hen geben wollen, daß sie gar nicht solche Würstchen sind wie sie scheinen. 

    Nun wer­den Sie sagen: War das nicht immer so? War es in dieser Hin­sicht denn zur Kaiserzeit mit ihrem Ober­lehrer- und Ober­feld­we­bel­jar­gon bess­er? Hörte man da nicht jedem Wort den moralis­chen Tief­s­tand der Epoche an? Unge­fähr so war es vielle­icht in der Tat zu jed­er Zeit oder wenig­stens in Wellen, die Sprach­wan­delkri­tik in der eben ange­sproch­enen Hin­sicht ist vielle­icht eine ewige Auf­gabe, aber sie ändert sich doch auch immer wieder. Man hat ja heute nicht das zu kri­tisieren, was Adorno am Jar­gon der Eigentlichkeit oder Karl Kraus an dem der zeit­genös­sis­chen Jour­nal­is­ten kri­tisiert hat, son­dern anderes.
    Nun wer­den Sie vielle­icht sagen: Mag sein, aber das ist kein Prob­lem der Sprache, es ist eines der Gesellschaft. Ich habe den Unter­schied, den Sie hier machen, nicht richtig ver­standen. Sie schreiben: „Ger­ade im Fall von Wörtern ist Kri­tik beson­ders unsin­nig, weil es keine inhärent „besseren“ oder „schlechteren“ Wörter für Dinge gibt“. Mag sein, kommt darauf an, was Sie mit inhärent meinen. Mich inter­essiert nur daß die Zahl der Wörter ras­ant zunimmt, die deshalb benutzt wer­den, weil ihr Gebrauch einen „schlecht­en Sinn“ hat, z. B. Ange­berei. Wenn Sie nun meinen, daß das ein gesellschaftlich­es Prob­lem sei (vielle­icht mit dem Neolib­er­al­is­mus und der Verpflich­tung von allem und jedem auf seine Kar­ri­ere­tauglichkeit zu tun hat), dann würde ich sagen: Aber dieses gesellschaftliche Prob­lem bringt doch eine Flut von sprach­lichen Neuerun­gen her­vor und insofern ist es auch ein sprach­lich­es. Sie wür­den dann wohl sagen: aber das ist ja nur die lexikalis­che Ebene, die ist für Lin­guis­ten nicht beson­ders inter­es­sant. Für mich aber schon. Die Lin­guis­ten (Sie sind der einzige, der mir je begeg­net ist, und daß ich einen Text von einem Lin­guis­ten gele­sen habe, ist Jahrzehnte her, ich muß mich also auf Sie ver­lassen) scheinen mit „Sprach­wan­del“ ein­fach etwas anderes zu meinen als die deutsche Nor­mal­sprache. Daß die Rund­funksprech­er in den 50er Jahren aufge­hört haben zu brüllen, dürfte für Sie mit Sprach­wan­del nichts zu tun haben; es ist ein sozialpsy­chol­o­gis­ches Phänomen und kein lin­guis­tis­ches, wür­den Sie wohl sagen. Aber für unsere­inen ist es ein beträchtlich­er (pos­i­tiv­er) Wan­del der Sprache: Sie wird leis­er, weniger aggressiv.

    Ihre Auf­fas­sung vom Wesen der Math­e­matik teile ich nicht, ich denke nicht so kon­ven­tion­al­is­tisch und funk­tion­al­is­tisch. Aber das ist hier egal. Ich benutzte den Ver­gle­ich mit der Math­e­matik auf ein­er viel sim­pleren, eher all­t­agsprak­tis­chen Ebene, die durch das, was Math­e­matik let­ztlich ist, gar nicht berührt wird: Man kann nicht beschließen, daß 2 x 2 = 5 ist, son­dern man hat zu erken­nen, daß 2 x 2 = 4 ist. Und so ist es mit der Sprache meist auch: Man kann nicht beschließen, daß Erhalt und Erhal­tung Syn­onyme sind, son­dern hat zu erken­nen, daß sie ver­schiedenes bedeuten (obwohl sie zu Syn­ony­men wer­den kön­nen; jet­zt sind sie es noch nicht). Ich wollte damit auf den Aspekt der Sprache hin­weisen, den sie zweifel­los hat: daß sie, so sehr sie in gewis­sem Sinne auch Pro­dukt und Werkzeug sein mag, nicht unserem Belieben unter­liegt, son­dern daß es in jedem Moment primär eine Frage der Erken­nt­nis ist, wie etwas aus­ge­drückt zu wer­den hat.

    Sie schreiben, daß wir uns „eher um das Dialek­t­ster­ben Sor­gen machen soll­ten.“ Darum soll­ten wir uns in der Tat Sor­gen machen, es ist trau­rig, aber da ist wirk­lich nichts mehr zu machen. Es ist ja kaum mehr etwas übrig. Allerd­ings spricht vieles dafür, daß es der deutschen Sprache bald so gehen wird wie ihren Dialek­ten. Doch das ist hier nicht mein The­ma, auch wenn ich sehr darunter zu lei­den habe – als Wis­senschaftler lebt man ja in ein­er Welt, in der das Deutsche schon so gut wie gestor­ben ist. Im All­t­ag wird aber noch deutsch gesprochen, doch wie, das ärg­ert mich, und ich schreibe auf, was mich ärg­ert, ohne irgen­deinen Anspruch auf Wis­senschaftlichkeit, aber mit dem Anspruch, daß mein Ärg­er nicht ein­fach sub­jek­tives Unbe­ha­gen ist. Schon gar nicht habe ich den Anspruch, eine These vom Nieder­gang der deutschen Sprache oder ähn­lich­es zu beweisen oder zu wider­legen, ich habe zu dieser Frage nur einige vage und recht unzusam­men­hän­gende Gedanken. Ob sie richtig sind, ist mir nicht so wichtig, ich bin ja Laie. Aber daß ich im Einzelfall recht habe, das bedeutet mir schon etwas. Man müßte mir darum im Einzelfall zeigen, daß ich nicht recht habe, d. h. daß hier gar kein Grund beste­ht, sich zu ärgern.
    Ich höre jet­zt ein­fach mal auf, lasse viele Fra­gen offen für später.

    Viele Grüße

    Lud­wig Trepl

    Antworten
  7. Pierpaolo Frasa

    Sehr geehrter Herr Trepl,

    vie­len Dank für Ihre aus­führliche Antwort.
    Ich werde ver­suchen, im einzel­nen auf einige Punk­te einzugehen:

    i) der Diskurs zwis­chen Fachgelehrten und der öffentlichkeit ist zwar wichtig; ich denke jedoch nicht, daß es beson­ders häu­fig vorkommt, daß Laien­mei­n­un­gen wis­senschaftliche Tat­sachen wider­legen. Allerd­ings gehen wir auch von anderen Zie­len aus: Die Wis­senschaft stellt Tat­sachen fest, sie dient kaum dazu, moralis­che Urteile zu fällen — das bleibt Pri­vat­per­so­n­en über­lassen; Ihre bew­er­tenden Ansicht­en kann ich also nicht entkräften, ich (bzw. ein kom­pe­ten­ter­er Lin­guist als ich sicher­lich noch mehr) kann Ihnen Fehler in der Beurteilung von Fak­ten und Ten­den­zen aufzeigen.
    ii) die Auf­fas­sung, es gäbe eine “objek­tive Ästhetik” lehne ich ab; es mag Ver­all­ge­meinerun­gen geben, Dinge, die von den sta­tis­tisch gese­hen von vie­len Din­gen gemocht wer­den, aber das ist wohl auch biol­o­gis­chen und/oder sozialen Zufäl­ligkeit­en geschuldet und mit genü­gend Gegen­beispie­len verse­hen; moralisch finde ich es beden­klich, seine Auf­fas­sung von Ästhetik anderen Leuten aufok­troyieren zu wollen.
    iii) Ihr Beispiel mit der Kun­stkri­tik ist nur beze­ich­nend: In der Kunst­wissenschaft (wobei ich hier Kun­st stel­lvertre­tend nehme für alle Kün­ste, also auch Musik, Lit­er­atur, The­ater, Film, und so weit­er) gibt es schon längst keinen Kon­sens mehr darüber, was gute Kun­st ist (falls es den jemals gab — daß wir heute sowohl Brahms als auch Liszt als gute Kun­st betra­cht­en, ist his­torisch etwas schwierig zu recht­fer­ti­gen). Natür­lich gibt es irgend­wodurch einen halb­wegs objek­tivier­baren Unter­schied zwis­chen einem Grund­schü­lergedicht und dem Erlkönig — die Diskus­sion ist aber kom­plex­er als sie sie darstellen. Wichtiger für die Diskus­sion hier ist allerd­ings, daß sich Kun­st nur schw­er mit Sprache ver­gle­ichen läßt. Sprache kann als Mit­tel der Kun­st einge­set­zt wer­den — dann ließe sich über Ästhetik wieder disku­tieren; nor­maler­weise erschaffe ich beim Sprechen jedoch keine Kunst­werke. Das Anset­zen des­sel­ben Maßstabs erscheint mir dann also rel­a­tiv fragwürdig.
    iv) Wie Sie selb­st anmerken, ver­ste­hen Sie den Zusam­men­hang zwis­chen der syn­chro­nen und der diachro­nen Ebene schlecht: das ist auch ein­er der Punk­te, an dem Ihre Argu­men­ta­tion­slin­ie meines Eracht­ens scheit­ert. Im Gegen­satz zu Sys­te­men wie der Math­e­matik oder Stan­dards wie DIN-Nor­men ist Sprache nicht ein­deutig fest­gelegt. Nie­mand kon­sul­tiert vor dem Sprechen oder Schreiben ein dick­es Hand­buch, auch Sie oder ich nicht. Zudem ist ein sprach­lich­es Sys­tem zu jedem Zeit­punkt mit sta­bil­er Vari­a­tion verse­hen, d.h. es gibt immer regionale, sozioökonomis­che, altersmäßige, geschlechtsspez­i­fis­che Unter­schiede in der Ver­wen­dung der Sprache — die meis­ten dieser Unter­schiede bleiben auch sehr lange beste­hen. Eben­so ist die Sprache in kon­tinuier­lichem Wan­del. Manche dieser Wan­del­prozesse geschehen zwar eher sprung­haft (z.B. Laut­wan­del), aber das, wovon Sie hier ja ständig sprechen — lexikalis­ch­er wan­del — funk­tion­iert über Dif­fu­sion und ist also ein stetig voran­schre­i­t­en­der Prozess. Wür­den Sie diesen aufhal­ten wollen, müßten Sie gle­icher­maßen die Dif­fu­sion von Ideen generell unterbinden wollen; ich hoffe, daß Sie das nicht im Sinne haben.
    v) In dem Sinne gilt, was ich schon sagte. Da es zu keinem Zeit­punkt ein sta­tis­ches Regel­w­erk gibt, ist der Sprach­wan­del nicht in dem Sinne für die Sprache ein Prob­lem son­dern für einzelne Sprech­er. Wie Sie bei der Lek­türe der Merse­burg­er Zauber­sprüche fest­stellen kön­nen, min­dert der Sprach­wan­del unser Ver­ständ­nis für frühere Vari­anten unser­er Sprache wie sie das auch für zukün­ftige tut. Daran kann aber nun ein­mal nichts geän­dert wer­den: so wie die Jahreszeit­en sich abwech­seln, so wan­delt sich auch die Sprache. Ob man sich anpaßt oder nicht, bleibt dann jedem selb­st überlassen.
    vi) Im Übri­gen, wür­den Sie davon aus­ge­hen, daß es zu einem Zeit­punkt X ein festes Regel­sys­tem für eine Sprache gibt, so frage ich mich, wer dieses Sys­tem definiert. Sie behaupten ja, daß dies “nicht die Mehrheit” der Sprech­er tue, son­dern nur “die Min­der­heit, die die Sprache auch beherrscht”. Diese Aus­sage ist allerd­ings tau­tol­o­gisch. Da sta­bile Vari­a­tion in der Sprache immer beste­ht, ist es sowieso ver­fehlt anzunehmen, es gäbe einen Kon­sens darüber was “richtige Sprache” sei; den gibt es vielle­icht ger­ade mal in sehr eng begren­zten Kon­tex­ten — daß jed­er (ger­ade auch wis­senschaftliche) Ver­lag seine eige­nen sprach­lichen (und typographis­chen) Regeln hat ist hier­für doch bezeichnend.
    vii) Zu Ihrem Beispiel mit den “Studieren­den”: Aus sub­jek­tiv­er Sicht stimme ich Ihnen zu, daß der Aus­druck unschön und wenig logisch ist. Allerd­ings, wie Sie richtig erken­nen, ist das nur für uns Sprech­er, die wir den “alten” Aus­druck ken­nen, ein Prob­lem, die Sprache funk­tion­iert mit diesem Aus­druck genau­so gut wie mit dem anderen. Im Übri­gen verken­nen Sie hier allerd­ings auch die tat­säch­lichen Ver­hält­nisse: Während der Aus­druck in öffentlichen Ansprachen, offiziellen Mit­teilun­gen und im Amt­s­jar­gon Einzug gehal­ten hat, kenne ich per­sön­lich nie­man­den, der umgangssprach­lich so spricht. Mein Prob­lem mit dem Aus­druck ist insofern genau auch der, daß man ver­sucht, etwas zu verord­nen (und arme Beamte zu quälen), was in der Sprache eigentlich gar nicht wirk­lich benutzt wird: Also eben Sprach­poli­tik, die, wie ich schon fest­stellte, zu nichts wirk­lich nutze ist.
    viii) All­ge­mein ist Ihr Anspruch, daß Sprache “logisch” sein soll, etwas ver­messen. Zum einen gibt es bere­its heute in jed­er Sprache tausende von Beispie­len, ob jet­zt in Lex­e­men oder in gram­ma­tis­chen Regeln (was z.B. ist an den zig Dek­li­na­tion­sklassen deutsch­er Nomen, die für Nicht-Mut­ter­sprach­ler teil­weise fast nicht erlern­bar sind “logisch”?), die solch­er “Logik” wider­sprechen. Zum anderen funk­tion­ieren kom­mu­nika­tive Sit­u­a­tio­nen eben viel bess­er darüber, daß man Assozi­a­tio­nen, Analo­gien und Vere­in­fachun­gen benutzt und nicht nach einem strik­ten logis­chen Prinzip: denn keine logisch aufge­baute Ontolo­gie kann alle Aspek­te men­schlich­er Kom­mu­nika­tion (bzw. des Lebens im all­ge­meinen) über­haupt erfassen. Im Übri­gen gibt es sog­ar in der Math­e­matik “unl­o­gis­che” Ver­wen­dun­gen. The­o­retis­che Infor­matik­er schreiben z.B. oft genug über die Kom­plex­ität eines Algo­rith­mus “T(n)=O(log n)”, obwohl die O‑Notation eine Menge definiert, also eigentlich das Ele­ment-Zeichen erforder­lich wäre. Kon­ven­tion hat in diesem Fall allerd­ings diese Regel weit­ge­hend außer Kraft geset­zt. Ähn­liche Beispiele gibt es zuhauf. (Bei Ableitun­gen u.ä. gibt es auch zig Notationen.)
    ix) Wo wir bei Math­e­matik sind: Wenn ich das richtig ver­ste­he — würde ich eine alge­brais­che Struk­tur definieren, in der die Verknüp­fung “x” so definiert wird, daß sie das Paar (2,2) auf das Ele­ment 5 abbildet, so wäre der Aus­druck “2x2=5” sog­ar kor­rekt. Es ist also alles Frage der Kon­ven­tion (wobei natür­lich ein Math­e­matik­er diese Kon­ven­tion eher nicht ein­fach so über­schreiben würde, da dies für Ver­wirrung sor­gen würde). Wie gesagt ist Math­e­matik aber sowieso ein anderes Ding als Sprache, da sie a) andere Anforderun­gen zu erfüllen hat und b) zwar nicht zu 100% aber doch zu weit­en Teilen sta­tisch ist und sie sich nur punk­tuell ab und an verän­dert (und selb­st das eher dadurch, daß auf Beste­hen­des aufge­baut wird und weniger, daß Beste­hen­des umdefiniert wird); Sprache ist das genaue Gegenteil.

    Ich muß aufhören, weil ich keine Zeit mehr habe, ich werde zu einem späteren Zeit­punkt mehr schreiben.

    Antworten
    1. Ludwig Trepl

      Lieber Herr Frasa,

      hier einige Antworten, wie gehabt völ­lig durcheinander.

      (1) „ich denke jedoch nicht, daß es beson­ders häu­fig vorkommt, daß Laien­mei­n­un­gen wis­senschaftliche Tat­sachen widerlegen.“
      Das kommt heutzu­tage wirk­lich kaum, wenn über­haupt vor, aber das meinte ich auch nicht. Ich sprach vom „all­ge­meinen intellek­tuellen (!) Diskurs“. Da macht kein­er mit, der nicht auf irgen­deinem Gebi­et wis­senschaftlich (im weitesten Sinn) aus­ge­bildet ist. Da tre­f­fen Fachgelehrte der Geo­gra­phie auf Fachgelehrte der Poli­tolo­gie und Sozi­olo­gen auf Reli­gion­sphilosophen. Die Diskurs­the­o­retik­er haben ein Fach­wort dafür, aber das fällt mir jet­zt nicht ein. Und da wird in der Tat viel an Fach­wis­senschaftlichem wider­legt, allerd­ings weniger Tat­sachen­be­haup­tun­gen, son­dern vor allem Theorien.

      (2) „Wis­senschaft stellt Tat­sachen fest, sie dient kaum dazu, moralis­che Urteile zu fällen – das bleibt Pri­vat­per­so­n­en über­lassen“. Kommt darauf an, was Sie unter Wis­senschaft ver­ste­hen. Wenn Sie „sci­ence“ meinen, haben Sie recht. Wenn Sie den deutschen Sprachge­brauch nehmen, wo die „human­i­ties“ auch „Wis­senschaften“ heißen und die Philoso­phie die Köni­gin der Wis­senschaften – nun, vor­sicht­shal­ber sag’ ich lieber, war, dann haben Sie nicht recht. Die Wis­senschaft der Ethik unter­sucht Behaup­tun­gen moralis­ch­er Art im Hin­blick darauf, ob sie objek­tiv berechtigt sind. Damit fällt sie moralis­che Urteile.

      (3) „die Auf­fas­sung, es gäbe eine „objek­tive Ästhetik“ lehne ich ab; es mag Ver­all­ge­meinerun­gen geben, Dinge, die von den sta­tis­tisch gese­hen von vie­len Din­gen gemocht wer­den, aber das ist wohl auch biol­o­gis­chen und/oder sozialen Zufäl­ligkeit­en geschuldet und mit genü­gend Gegen­beispie­len versehen“.
      Das bezieht sich auf eine ganz andere Ebene als die, um die es bei der Frage der „objek­tiv­en Ästhetik“ geht und auf die sich eine nun­mehr 200 oder auch, wenn man die Anfänge in den Auseinan­der­set­zun­gen zwis­chen empiris­tis­chen und ratio­nal­is­tis­chen Ästhetik­the­o­rien ein­rech­net, 300 Jahre alte, Bib­lio­theken fül­lende Diskus­sion bezieht. Es hat aber wenig Sinn, hier darüber weit­erzud­isku­tieren, wenn Ihnen die nicht bekan­nt ist (obwohl für den Zweck, nicht aneinan­der vor­beizure­den, wohl schon die Lek­türe des Orig­i­nals, des eigentlichen Start­punk­ts, d. h. der Kri­tik der Urteil­skraft, reichen würde).

      (4) „moralisch finde ich es beden­klich, seine Auf­fas­sung von Ästhetik anderen Leuten aufok­troyieren zu wollen“.
      Das ist ein Trick: „aufok­troyieren“ ist natür­lich moralisch beden­klich. Doch darum geht es nicht. Wir behaupten ständig, daß etwas, etwa ein Kunst­werk, „schön“ sei und stre­it­en mit anderen um die Berech­ti­gung dieses Urteils. Wenn dies nicht – als Anspruch – möglich wäre, wäre Kun­stkri­tik nicht möglich. Es kön­nte immer nur gesagt wer­den: Ich fand die Insze­nierung gut, du fan­d­est sie schlecht, Punkt. Mit der Frage, ob es unter Wis­senschaftlern oder wem auch immer einen Kon­sens gibt, „was gute Kun­st ist“, hat das nicht das Ger­ing­ste zu tun. – Klar, die empiris­tisch-pos­i­tivis­tis­chen Philosophen haben mit der „objek­tiv­en Ästhetik“ seit 300 Jahren ein Prob­lem, aber „als Men­schen“ müssen selb­st sie sie doch anerken­nen: Sie stre­it­en, wenn sie aus dem Konz­ert kom­men, sie sagen nicht: du hast halt deinen Geschmack, ich hab meinen. Zusam­menge­faßt: was Sie in Ihren Punk­ten (ii) und (iii) sagen, ist falsch oder geht am The­ma vor­bei, und hier kann aus­nahm­sweise ich mal zu Ihnen sagen: Da sind Sie nicht Fach­mann genug, daran liegt’s.

      (5) „Wichtiger für die Diskus­sion hier ist allerd­ings, daß sich Kun­st nur schw­er mit Sprache ver­gle­ichen läßt.“
      Da haben Sie recht, ich hab da nur eine dumpfe Ahnung for­muliert. Aber an ihr muß doch was dran sein. Man set­zt ja Sprache nicht nur als Mit­tel der Kun­st ein, wenn man Gedichte schreibt. Son­dern bere­its immer dann, wenn man auf den Stil achtet – und das tut man selb­st in wis­senschaftlichen Tex­ten, in Stammtis­chre­den und sonst­wo – set­zt man das, was man von sich gibt, vorher dem eige­nen ästhetis­chen Urteil aus bzw. beachtet das mögliche ästhetis­che Urteil der anderen, d. h. man behan­delt seine eige­nen Erzeug­nisse als eine Art Kunst­werk. Dann muß man aber auch in der dafür angemesse­nen Art über sie reden: Kunstkritik. 

      (6) „Im Gegen­satz zu Sys­te­men wie der Math­e­matik oder Stan­dards wie DIN-Nor­men ist Sprache nicht ein­deutig festgelegt.“
      Gewiß, aber das tang­iert meine Argu­men­ta­tion­slin­ie, anders als Sie meinen, gar nicht. Die Zwänge, von denen ich rede, sind ander­er Art, als Sie ver­muten. Sie bestäti­gen das indi­rekt auch: „Zudem ist ein sprach­lich­es Sys­tem zu jedem Zeit­punkt mit sta­bil­er Vari­a­tion verse­hen, d.h. es gibt immer regionale, sozioökonomis­che, altersmäßige, geschlechtsspez­i­fis­che Unter­schiede in der Ver­wen­dung der Sprache“. Genau so ist es. Es gibt altersmäßige Unter­schiede. Das ist aber nicht ein­fach ein Tatbe­stand, den man in deskrip­tiv­er Ein­stel­lung festzustellen hat, son­dern eben das schafft Zwänge nor­ma­tiv­er Art: Ein 70jähriger „darf“ nicht so reden wie ein 17jähriger, er macht sich lächer­lich, nicht nur vor anderen, auch vor sich selb­st. – Sie kri­tisieren weit­er unten, daß ich von der stren­gen Logik der Sprache gesprochen hätte. Ich habe aber Logik bewußt in Anführungsze­ichen geset­zt. Ich meine Zwänge wie den eben genan­nten, oder Zwänge der Art, daß halt unter 9 Wörtern mit ähn­lich­er Bedeu­tung, die man im The­saurus find­et, drei gehen, aber schlecht, und ein ganz bes­timmtes das beste ist, so daß einem nichts anderes übrig bleibt, als eben dieses Wort zu wählen – wer ein anderes wählt, dem wird, im modis­chen Jar­gon, „man­gel­nde Sprachkom­pe­tenz“ bescheinigt. Über­haupt meine ich mit „Logik“ eher etwas von der kom­plex­en Art, die Fou­cault in Diskursen ihren Zwang ausüben sieht (Sys­tem­logik, sagen auch manche), als das, was man son­st mit „Logik“ meint.

      (7) “…lexikalis­ch­er wan­del – funk­tion­iert über Dif­fu­sion und ist also ein stetig voran­schre­i­t­en­der Prozess. Wür­den Sie diesen aufhal­ten wollen, müßten Sie gle­icher­maßen die Dif­fu­sion von Ideen generell unterbinden wollen“.
      Ich habe den Ein­druck, Sie glauben, ich würde den Wan­del aufhal­ten wollen. Auch äußern Sie den Ver­dacht, ich wäre für „Sprach­poli­tik“. Wie kom­men Sie darauf? Ich beste­he nur darauf, daß es richtig und falsch, gut und schlecht gibt (wenn es auch ab und zu in dieser Beziehung Neu­trales geben mag), und daß es gar nicht anders geht, als für das Richtige und das Gute zu sein. Jed­er macht das ständig mit sich und anderen. Und ich suche mir halt bes­timmte beson­ders knalltüten­re­iche Gegen­den der Gesellschaft aus (Poli­tik­er, Man­ag­er, .…) und mache mir meine Gedanken darüber, warum die so reden wie sie reden, und teile die anderen mit. Ein Amt wie das, das sich sein­erzeit „Anschrift“ aus­gedacht hat (und damit den Sprach­wan­del förderte), scheint mir nicht weniger lächer­lich als ein Amt, das „Team“ für „Mannschaft“ einzuführen befielt (soll es geben, in der Schweiz) oder eines, das anord­net, „Team“ wieder aus dem Wortschatz zu stre­ichen, weil es ein Fremd­wort ist. Aber daß es Satirik­er gibt, die über Leute herziehen, die „Team“ statt „Mannschaft“ schreiben aus Angst vor der fem­i­nis­tis­chen Auf­passerin in ihrem eige­nen Kopf, und die keineswegs deshalb über sie herziehen, weil Sie den Sprach­wan­del aufhal­ten wollen deshalb, weil Sprach­wan­del nur sich schlecht ist, son­dern weil ihnen diese Leute auf die Ner­ven gehen: das finde ich in Ord­nung. Nur wenn das für Sie auch Sprach­poli­tik ist, dann bin ich für Sprachpolitik.
      Das zu Sprach­poli­tik und zum Sprach­wan­del. Mich inter­essiert dieser nicht so sehr, mich inter­essiert viel mehr, was z. B. die studierten Betrieb­swirte und die Manger und deren Berater für eine selt­same Men­schen­sorte sein müssen, da sie doch so über­aus putzig reden. Sie ver­muten, glaub ich, zu recht: mich inter­essieren die Sprech­er, nicht die Sprache. Aber, und da scheinen Sie ander­er Mei­n­ung zu sein: ein Prob­lem der Sprache ist das doch; da die Man­ag­er heutzu­tage der­art über­hand­nehmen, lei­det auch die Sprache (Sie sagen: die erholt sich schon wieder, aber das ist mir völ­lig egal, ich muß sie jet­zt ertragen).

      (8) „Während der Aus­druck (‚Studierende’) in öffentlichen Ansprachen, offiziellen Mit­teilun­gen und im Amt­s­jar­gon Einzug gehal­ten hat, kenne ich per­sön­lich nie­man­den, der umgangssprach­lich so spricht.“
      Sie Glück­lich­er! Ich kenne viele, man kann schon von Massen reden. In mein­er bish­eri­gen Umge­bung (eine Tech­nis­che Uni­ver­sität) sagt fast kein­er der Stu­den­ten mehr Stu­dent. Ich hätte wohl doch Lin­guist wer­den sollen.

      (9) „…so frage ich mich, wer dieses Sys­tem definiert. Sie behaupten ja, daß dies „nicht die Mehrheit“ der Sprech­er tue, son­dern nur „die Min­der­heit, die die Sprache auch beherrscht“. Diese Aus­sage ist allerd­ings tautologisch.“
      Natür­lich war mir beim Schreiben bewußt, daß sie tau­tol­o­gisch ist, aber ich hätte nicht gedacht, daß man nicht in der Lage ist, sie (eine übliche Wen­dung in solchen Zusam­men­hän­gen) richtig zu lesen. Soll ich das im Ernst erklären??
      Es geht nicht darum, das Sys­tem Sprache zu definieren, son­dern im Hin­blick auf Aus­sagen (Sätze? For­mulierun­gen? Wie nen­nt man das?) Urteile über ihre Richtigkeit oder auch Schön­heit und … zu tre­f­fen. Da ist es ein­fach so wie son­st meist auch: Die Frage zu beant­worten, wie lang ein bes­timmtes Auto noch fahren wird, über­läßt man bess­er den Auto­mechanikern, die kön­nen das bess­er als die Mehrheit der Autobe­sitzer. Und wenn ich in ein­er Klasse bin und wis­sen will, wie man etwas richtig schreibt, dann frage ich bess­er den Lehrer und nicht die Schüler, obwohl die die Mehrheit sind. (Übri­gens, so wie Sie mich zitieren, kann ich das nicht gesagt haben, außer in einem Anfall geistiger Umnach­tung; nie­mand, der Karl Kraus gele­sen hat, wird je vom „Beherrschen“ der Sprache sprechen.)

      (10) „ … so wäre der Aus­druck „2×2=5″ sog­ar kor­rekt. Es ist also alles Frage der Konvention …“
      Es ist für den Zweck, für den ich den Ver­gle­ich mit der Math­e­matik gebracht habe, vol­lkom­men, aber auch so was von vol­lkom­men egal, was die Math­e­matik nach Frege oder nach Hilbert oder nach son­st wem alles so ver­anstal­ten kann und über sich selb­st denkt. Nur auf diese ganz all­t­agsprak­tis­che Sache kommt es an: Der Verkäufer kann nicht sagen: 2 Pfund Mehl kosten 2 Euro, also kosten 4 Pfund 5 Euro, denn für mich ist 2 x 2 = 5. Son­dern er hat zu erken­nen, daß 2 x 2 = 4 ist. Ich hätte auch sagen kön­nen: Eine Kuh ist eine Kuh und kein Pferd, wer sagt, sie sei ein Pferd, unter­liegt einem Irrtum. Natür­lich kann z. B. eine Fachge­meinde beschließen, für den Begriff, den man gemein­hin mit „Kuh“ beze­ich­net, ab jet­zt die Buch­staben­folge „Pferd“ einzuführen; da sind wir in dem Bere­ich, wo es um Kon­ven­tio­nen geht und nicht um die Erken­nt­nis objek­tiv­er Sachver­halte. Und ich wollte damit eben sagen, daß der Anteil, der beim Sprechen „Erken­nt­nis objek­tiv­er Sachver­halte“ ist, viel größer ist als die Lin­guis­ten (wie ich mir sie vorstelle, wie gesagt: ich kenne keinen) sich das so denken. Ich ver­mute, ihre ständi­ge Beschäf­ti­gung mit dem Sprach­wan­del läßt sie über­all nur Kon­ven­tio­nen sehen und ver­schafft ihnen eine pro­fes­sions­be­d­ingte Blind­heit im Hin­blick auf die Frage, was richtiges Sprechen ist.

      So, jet­zt mach ich erst mal Schluß, son­st wird es so lang, daß es kein­er lesen mag.

      Viele Grüße

      Lud­wig Trepl

      Antworten
  8. Kristin Beitragsautor

    Lieber Herr Trepl,

    ich denke Ihre Überzeu­gung, dass es eine objek­tive Ästhetik gibt und dass diese auf Sprache anwend­bar ist, ist der Grund dafür, dass wir nicht so recht eine Gesprächs­ba­sis find­en, son­dern bei­de Seit­en auf ihrer eige­nen Ebene argumentieren.

    Ich will nicht bestre­it­en, dass es per­sön­lichen Geschmack gibt — obwohl ich als Sprach­wis­senschaft­lerin da sehr tol­er­ant gewor­den bin, weil ich alle Phänomene zunächst ein­mal als tolle Unter­suchung­sob­jek­te sehe und mich daran freue, habe ich auch einen solchen. (Ich drehe z.B. fast durch, wenn Lin­guis­ten der Kor­pus statt das sagen, oder Worte, wo Wörter gemeint sind … dabei macht Sprach­wan­del halt auch vor Fach­sprachen nicht halt.)

    Nun ist es aber mein­er Mei­n­ung nach unab­d­inglich zu reflek­tieren, wie dieser Geschmack zus­tandekommt und wozu er dient.

    Ich habe bei Ihnen den Ein­druck, dass Sie gewisse gesellschaftliche Entwick­lun­gen ablehnen oder zumin­d­est kri­tisch sehen (z.B. das Inter­net, zunehmende Glob­al­isierung und Mehrsprachigkeit, poli­tis­che Kor­rek­theit) und (teil­weise ver­meintlich) damit ein­herge­hende sprach­liche Phänomene dann eben­falls ablehnen.

    So schreiben Sie an Pier­pao­lo über Anglizismen:

    Offen­bar sind Sie der Mei­n­ung, daß das Gute pos­i­tiv aus­ge­le­sen wird. Ich glaube, da täuschen Sie sich sehr; die dar­win­sche Selek­tion liest nicht das „Gute“ pos­i­tiv aus, son­dern das, was unter bes­timmten Umweltbe­din­gun­gen zu mehr Nachkom­men führt. Die Mehrzahl der sich neu in den Vorder­grund drän­gen­den Wörter tut das, weil sie dem Sprech­er hil­ft, sich aufzublähen, Min­der­w­er­tigkeit­skom­plexe zu verdeck­en und ähn­lich­es. Fast alle Anglizis­men haben diesen Hin­ter­grund; wer das leugnet, ist naiv oder macht sich was vor.

    Zunächst ein­mal haben Sie eine unter­schiedliche Vorstel­lung von “gut” — für Pier­pao­lo ist es so etwas wie “funk­tion­al, das Sprach­sys­tem sin­nvoll ergänzend”, für Sie ist es eher “ästhetisch, aus den richti­gen (sozialen) Grün­den geschehend”.

    Aber zur Moti­va­tion zur Anglizis­men­ver­wen­dung: Da gibt es viele, viele Gründe. Für Ihre Behaup­tung, fast alle Anglizis­men hät­ten ihren Ursprung in Ange­berei, kenne ich keine einzige Quelle und ich ver­mute stark, dass auch Sie eine solche nicht anführen kön­nen, es sich also um eine “gefühlte Sta­tis­tik” han­delt — also etwas, bei dessen Ver­wen­dung man sich ger­ade als Wis­senschaftler, egal welch­er Diszi­plin, mein­er Mei­n­ung nach sehr zurück­hal­ten sollte.
    Per­sön­liche Erfahrung ist ein­fach kein guter Indika­tor für so etwas, beson­ders dann nicht, wenn es um Moti­va­tio­nen geht, die man anderen unter­stellt, weil sie von außen nicht sicht­bar sind.

    Aber selb­st wenn man zeigen kön­nte, dass “Ange­berei” ein großer Fak­tor bei der Nutzung von Anglizis­men ist, heißt das noch lange nicht, dass das Sprach­sys­tem dadurch “geschädigt” wird.
    Wäre es Ihrer Mei­n­ung nach z.B. bess­er für eine Sprache, wenn man neue Wörter mit der Moti­va­tion ein­führen würde, etwas für die klas­sis­che Bil­dung der Deutschen zu tun? Die entste­hen­den Wörter wären zunächst eben­so unver­ständlich, man müsste sein Vok­ab­u­lar eben­so erweit­ern und den willkür­lichen Laut­fol­gen eine Bedeu­tung zuweisen.

    So, ich muss mich brem­sen, später vielle­icht mehr.
    Beste Grüße!

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    1. Ludwig Trepl

      Liebe Kristin,

      Danke für die Antwort. Ein paar Anmerkun­gen dazu.

      Ich will nicht bestre­it­en, dass es per­sön­lichen Geschmack gibt“.
      Das läßt sich auch nicht bestre­it­en und das bestre­it­et auch kein­er. Bestrit­ten wird (in empiris­tis­chen Philoso­phien), daß es guten und schlecht­en Geschmack gibt und daß wir es gar nicht ver­mei­den kön­nen, ästhetis­che Urteile mit objek­tivem Anspruch zu for­mulieren. Aber um das sin­nvoll disku­tieren zu kön­nen, fehlen, das habe ich gemerkt, auf Seit­en mein­er Lin­guis­ten-Konkur­renten einige Voraus­set­zun­gen, siehe meine Antwort auf Pier­pao­lo Frasa (mir fehlen natür­lich auch eine Menge Voraus­set­zun­gen für diese Diskus­sion hier, aber bish­er scheint’s zu gehen). 

      Ich habe bei Ihnen den Ein­druck, dass Sie gewisse gesellschaftliche Entwick­lun­gen ablehnen oder zumin­d­est kri­tisch sehen (z.B. das Inter­net, zunehmende Glob­al­isierung und Mehrsprachigkeit, poli­tis­che Kor­rek­theit) und (teil­weise ver­meintlich) damit ein­herge­hende sprach­liche Phänomene dann eben­falls ablehnen.“
      Da haben Sie völ­lig recht, genau das ist es. Mich inter­essieren nicht lin­guis­tis­che Prob­leme, son­dern gesellschaftliche, vielle­icht ist sozialpsy­chol­o­gis­che das richtige Wort. Aber nun müssen Sie schon weit­er fra­gen: warum lehne ich diese gesellschaftlichen Entwick­lun­gen ab? Erst wenn Sie gezeigt haben, daß ich sie zu Unrecht ablehne, wird eine berechtigte Kri­tik daraus.
      Neben­bei: die Mehrsprachigkeit lehne ich ger­ade nicht ab, mir ist im Gegen­teil der Gedanke unbe­haglich, daß es bald nur noch eine Sprache auf der Welt geben kön­nte. Oder meinen Sie mit Mehrsprachigkeit etwas ganz anderes?

      Zunächst ein­mal haben Sie eine unter­schiedliche Vorstel­lung von „gut“ – für Pier­pao­lo ist es so etwas wie „funk­tion­al, das Sprach­sys­tem sin­nvoll ergänzend“, für Sie ist es eher „ästhetisch, aus den richti­gen (sozialen) Grün­den geschehend“. “
      Ja, genau. Er hat gut im tech­nis­chen Sinne (gut wozu) benutzt, ich im moralis­chen (an sich gut), aber das war mir bewußt, es war Absicht. Ich hat­te den Ein­druck, daß er von „gut wozu“ auf „gut an sich“ (moralisch gut; ästhetisch kann man da anhän­gen) schließt und wollte ihm sagen, daß man mit ein­er gut funk­tion­ieren­den Sprache (und nur damit hat er argu­men­tiert) noch lange nicht run­dum zufrieden sein muß. 

      Für Ihre Behaup­tung, fast alle Anglizis­men hät­ten ihren Ursprung in Ange­berei, kenne ich keine einzige Quelle und ich ver­mute stark, dass auch Sie eine solche nicht anführen kön­nen, es sich also um eine „gefühlte Sta­tis­tik“ han­delt – also etwas, bei dessen Ver­wen­dung man sich ger­ade als Wis­senschaftler, egal welch­er Diszi­plin, mein­er Mei­n­ung nach sehr zurück­hal­ten sollte.“
      Entschuldigung, jet­zt muß ich ober­lehrerhaft wer­den. Das ist typ­isch Stu­dent. Man muß nicht durch sta­tis­tis­che Erhe­bun­gen bele­gen, daß es im Win­ter im all­ge­meinen käl­ter ist als im Som­mer, da reicht das eigene Gefühl dur­chaus. Natür­lich habe ich keine einzige Quelle für meine Behaup­tung. Ich beobachte vielmehr meine Umge­bung und sehe, daß es fast immer so ist. Die Prüfin­stanz für meine Behaup­tung ist die Erfahrung ander­er, denen ich meinen für mich überzeu­gen­den Ein­druck mit­teile (in der Wis­senschaft­s­the­o­rie fällt dieses Ver­fahren unter „Phänom­e­nolo­gie“).
      Das tue ich hier­mit: Acht­en Sie auf Anglizis­men und fra­gen Sie sich, was die Moti­va­tion im jew­eili­gen Fall ist. Oft kön­nen Sie es mit völ­liger, oft mit einiger­maßen aus­re­ichen­der Sicher­heit sagen, manch­mal, aber nicht beson­ders oft bleibt es im Dun­klen. Sie wer­den fest­stellen: Unter vie­len möglichen Beweg­grün­den über­wiegt bei weit­em der Wun­sch, sich als welt­män­nisch darzustellen, die eigene (ver­mutete) Prov­inzial­ität nicht sicht­bar wer­den zu lassen.
      Ganz genau wie beim Aufgeben des eige­nen Dialek­ts: Ich habe immer, wenn die Frage war, warum ich nicht bei meinem süd­deutsch-ländlichen Dialekt bleibe, gesagt: weil man mich dann in der nord­deutschen Stadt nicht ver­ste­ht. Das war natür­lich gel­o­gen. Selb­stver­ständlich hätte man mich ver­standen, und das wußte ich auch. Ich glaubte statt dessen, mich lächer­lich zu machen und redete darum, wie „man“ in der „großen Welt“ redet. Und ich würde jeden Betrag darauf wet­ten, daß es, wenn man nicht ger­ade Ale­man­nisch spricht, was wirk­lich ander­swo kein­er ver­ste­ht, bei fast allen so ist wie bei mir. Und daß es mit der Angli­fizierung genau­so ist.

      Wäre es Ihrer Mei­n­ung nach z.B. bess­er für eine Sprache, wenn man neue Wörter mit der Moti­va­tion ein­führen würde, etwas für die klas­sis­che Bil­dung der Deutschen zu tun? Die entste­hen­den Wörter wären zunächst eben­so unverständlich,…“
      Ich weiß nicht, ob die Moti­va­tion war, die klas­sis­che Bil­dung zu heben, es kön­nte schon sein, würde in die dama­lige Zeit passen, aber bessere Beweg­gründe sor­gen im all­ge­meinen zumin­d­est für schönere neue Wörter. „Gänse­füßchen“ (Jean Paul) ist ein­fach schön­er als „mehrwegegerechte Wieder­be­fül­lung“ oder „kun­den­pos­i­tiv“. Die Prob­leme jed­er Neuerung, die Sie nen­nen, bleiben natürlich.

      Fühlen Sie sich bitte nicht gedrängt, zu antworten (obwohl’s schön wäre). Sie sind, hab ich gele­sen, Dok­torandin und haben damit wichtigeres zu tun als mit x‑beliebigen wild- und fach­frem­den Leuten zu debattieren.

      Beste Grüße

      Antworten
      1. Kristin Beitragsautor

        Lieber Herr Trepl, 

        oh, es kommt darauf an, wie man “wichtig” sieht. Für mich ist das nicht auss­chließlich das per­sön­liche fach­liche Vorankom­men und der Aus­tausch mit Gle­ich­gesin­nten — wie man vielle­icht an diesem Blog merkt, habe ich auch einen gewis­sen … hm … mis­sion­ar­ischen Eifer, den öffentlichen Diskurs über Sprache ein bißchen wis­senschaftlich­er zu machen.

        So, und da Sie sich unter die Gürtellinie begeben

        Entschuldigung, jet­zt muß ich ober­lehrerhaft wer­den. Das ist typ­isch Stu­dent. Man muß nicht durch sta­tis­tis­che Erhe­bun­gen bele­gen, daß es im Win­ter im all­ge­meinen käl­ter ist als im Som­mer, da reicht das eigene Gefühl dur­chaus. Natür­lich habe ich keine einzige Quelle für meine Behaup­tung. Ich beobachte vielmehr meine Umge­bung und sehe, daß es fast immer so ist. Die Prüfin­stanz für meine Behaup­tung ist die Erfahrung ander­er, denen ich meinen für mich überzeu­gen­den Ein­druck mit­teile (in der Wis­senschaft­s­the­o­rie fällt dieses Ver­fahren unter „Phänom­e­nolo­gie“).

        kann ich nur antworten: Sie haben doch keine Ahnung. Sie kön­nen für Ihr Fachge­bi­et sich­er zweifels­frei ein­schätzen, welche Infor­ma­tio­nen All­ge­meingut sind und welche ein­er wis­senschaftlichen Unter­suchung bedür­fen, aber für die Sprach­wis­senschaft (und in diesem Fall konkret die Sozi­olin­guis­tik) kön­nen Sie das ein­fach nicht.
        Ich werde hier gerne als die von Ihnen gewün­schte Prüfin­stanz tätig und sage Ihnen, dass Ihre Fest­stel­lung nichts taugt.

        Antworten
        1. Ludwig Trepl

          Liebe Kristin,

          war das unter der Gürtellinie? Auch, wenn ich mich vorher entschuldigt habe? Dann muß ich mich wohl noch mal entschuldigen. „Keine Ahnung“ hab ich trotz­dem nicht. 

          Denn es geht hier nicht darum, sich in ein­er bes­timmten Wis­senschaft auszuken­nen, son­dern um All­t­agser­fahrun­gen. Die „Fachge­meinde“, um deren Zus­tim­mung es geht, beste­ht in diesem „phänom­e­nol­o­gis­chen“ Ver­fahren nicht in Leuten, die eine bes­timmte Wis­senschaft erlernt haben, son­dern in denen, die den gle­ichen Erfahrung­shor­i­zont haben wie der, der die fragliche Behaup­tung auf­stellt (alle, die schon mit Anglizis­men in Berührung gekom­men sind also): an die wen­det er sich, die fragt er, ob sie diese Erfahrung auch haben. Wenn nicht, muß er seine Behaup­tung zurückziehen oder zumin­d­est hin­sichtlich ihres All­ge­mein­heits­grades revidieren. 

          In diesem Fall müßten Sie mir zeigen, daß nach Ihrer Erfahrung die meis­ten Anglizis­men nicht der von mir genan­nten Moti­va­tion entsprin­gen, son­dern z. B. deshalb gebraucht wer­den, weil sie Vere­in­fachun­gen ermöglichen, weil sie gewisse Nuancierun­gen erlauben, die das deutsche Fast-Äquiv­a­lent nicht erlaubt, weil es sich um nun ein­mal einge­führte Fachaus­drücke han­delt, weil einem beim besten Willen kein deutsches Wort ein­fällt (wie bei lay­out) usw.; das gibt es ja alles auch, ich behaupte aber, daß das ziem­lich sel­ten eine Rolle spielt.
          Nur bitte ich Sie zu bedenken: Sie sind dafür als Lin­guistin nicht von vorn­here­in bess­er qual­i­fiziert als ich oder als ein Elek­troin­ge­nieur oder ein Bäck­er. Die beson­dere Qual­i­fika­tion, die allen­falls gefordert ist, ist „Men­schenken­nt­nis“, und die ist unter den ver­schiede­nen Beruf­s­grup­pen jeden­falls nicht so verteilt, daß die Wis­senschaftler, selb­st die in irgen­dein­er Weise für die Frage mehr zuständi­gen, unbe­d­ingt mehr davon hätten.

          Sie kön­nten, indem Sie diese Men­schenken­nt­nis bei mir anzweifeln, meine Behaup­tung gründlich­er destru­ieren als nur dadurch, daß sie zeigen, daß in Ihrer Erfahrungswelt es nicht so ist wie in mein­er. Sie müßten dann zeigen, daß ich sozusagen als Prüfin­stru­ment nicht tauge, etwa weil ich zwang­haft immer nur Schlecht­es in den anderen ver­mute. Und da meine Auf­fas­sung ziem­lich ver­bre­it­et, vielle­icht die der Mehrheit ist, müßten Sie dieselbe sys­tem­a­tis­che Wahrnehmungsverz­er­rung auch für einen großen Teil der Leute zeigen. Das ist dur­chaus möglich, es ist aber keine Auf­gabe, für die Lin­guis­ten als Lin­guis­ten beson­ders qual­i­fiziert wären.

          Sie schreiben: „Sie kön­nen für Ihr Fachge­bi­et sich­er zweifels­frei ein­schätzen, welche Infor­ma­tio­nen All­ge­meingut sind und welche ein­er wis­senschaftlichen Unter­suchung bedür­fen“. Es geht hier nicht um All­ge­meingut oder nicht, son­dern um die angemessene Art der Unter­suchung. Die „phänom­e­nol­o­gis­che“ Unter­suchung (ich schreib’s in Anführungsze­ichen, damit man nicht an die Husserl’sche Philoso­phie und sowas denkt) ist auch eine Unter­suchung, und man kann sie auch auf Dinge anwen­den, die keineswegs All­ge­meingut sind. Sie ist als Meth­ode gängig in den Geis­teswis­senschaften und hat gegenüber der empirisch-ana­lytis­chen (also z. B. sta­tis­tis­che Erhe­bun­gen) Vorteile und Nachteile, sie ist für manche Fra­gen bess­er geeignet, für manche schlechter. Der Haupt­nachteil ist der, daß man mit ihr keine „Dat­en“ bekommt, der Hauptvorteil ist der der weit über­lege­nen Dif­feren­zierungsmöglichkeit. Das Prob­lem kann man heute wohl am besten studieren anhand der Diskus­sio­nen um quan­ti­ta­tive ver­sus qual­i­ta­tive Sozial­forschung, eine kurze Ein­führung ste­ht im 2. Band der „Ein­führung in die Wis­senschaft­s­the­o­rie von Seiffert.

          Und noch eine Frage auf Ehre und Gewis­sen (weil ich Ihnen ihre Ablehnung mein­er Behaup­tung nicht so recht abnehme): Glauben Sie wirk­lich, daß damals, als das Franzö­sis­che sich in Deutsch­land aus­bre­it­ete, die vor­wiegende Moti­va­tion von ehren­wert­er Art war: im Deutschen gibt es nun ein­mal kein Wort für das, was die Fran­zosen Kanapee nen­nen, also müssen wir auch Kanapee sagen, das es dieses Möbel­stück nun ein­mal gibt, oder: im Franzö­sis­chen kann man viel präzis­er sprechen? Meinen Sie nicht, ein­fach auf­grund Ihrer Lebenser­fahrung, auch, daß der weit über­wiegende Grund war, daß man sprechen wollte wie bei Hofe? Und das soll heute im entsprechen­den Fall anders sein?

          Ich werde mich an der Diskus­sion jet­zt nicht weit­er beteili­gen; nicht weil ich sie nicht inter­es­sant fände, aber der Zeitaufwand wird mir allmäh­lich zu groß.

          Viele Grüße

          Lud­wig Trepl

  9. Kristin Beitragsautor

    P.S.: An alle Beteiligten nur ein schneller For­matierung­sh­in­weis: Zitate kann man in den Befehl <block­quote>hier Zitat ein­fü­gen</blockquote> set­zen, dann wer­den die Kom­mentare vielle­icht etwas übersichtlicher.

    Antworten
  10. Oliver Scholz

    Liebe Kristin,

    zunächst ein­mal her­zlichen Dank! Ich bin ger­ade erst über den Blogkarneval auf [ʃplɔk] gestoßen und bin begeis­tert. Ich werd’s ab jet­zt gewiss regelmäßig lesen. Ger­ade den Artikel über “gedenken an” finde ich extrem spannend.

    ʃap d̥a ma nə fχaʒə … aber zunächst zur Diskus­sion hier — ich füh­le näm­lich das Bedürf­nis zu markieren, dass es noch eine dritte Posi­tion gibt. Und ich hoffe nur, dass ich nicht gegen irgen­deine Blo­getikette ver­stoße, wenn ich mich in eine Diskus­sion ein­klinke, die nach Inter­net­maßstäben schon ver­hält­nis­mäßig alt ist.

    Ich bin der Ansicht, dass ästhetis­che Urteile, also auch sprachäs­thetis­che, dur­chaus objek­tiv sind, im Unter­schied zu bloßen Geschmacks­bekun­dun­gen. Das heißt allerd­ings auch, dass sie anfecht­bar sind. Sie sind begrün­dungs­fähig, damit aber auch, so sie ange­focht­en wer­den, begrün­dungs­bedürftig. Ästhetis­che Begrün­dung, wie jede Begrün­dung über­haupt, braucht dabei eine gemein­same Hin­ter­grund­kul­tur und einen Hintergrunddiskurs.

    Soviele Debat­ten es auch über Sprache gibt — ich per­sön­lich bin noch nie auf eine sprachäs­thetis­che Diskus­sion gestoßen. So selt­sam es klingt: es gibt meines Eracht­ens *heute* über­haupt keine Auseinan­der­set­zung über Sprachäs­thetik. Soweit die “Ästhetik” her­bei bemüht wird, geschieht das immer nur ad hoc und ist nie — jeden­falls ich habe es noch nie anders gefun­den — etwas anderes als ein ver­schleiern­der Aus­druck für die Kor­rek­theitsvorstel­lun­gen des Äußern­den. Besten­falls han­delt es sich um bloße Geschmacksbekundungen.

    Was mich dabei beson­ders nervt, ist, nicht nur, dass dabei ständig meta­ph­ysis­che Vorstel­lun­gen von Sprache und Sprachge­brauch im Spiel sind, son­dern das ständig (und zwar von allen Seit­en, auch von den Kri­tik­ern der Sprach­nör­gler und Anglizis­men­jäger) die unter­schiedlich­sten Kontexte/Sprechsituationen, Vari­etäten, Textgat­tun­gen, Stilebe­nen durcheinan­der gewor­fen wer­den, so als spielte das alles keine Rolle. So als wären englis­chsprachige Aus­drücke aus der Man­age­men­tkul­tur, die in die Poli­tik Einzug hal­ten, das Gle­iche, lin­guis­tisch und sozialpsy­chol­o­gisch, wie Anglizis­men in der Umgangssprache in All­t­agssi­t­u­a­tio­nen. Als wäre es das Gle­iche, ob ich etwa das Wort “grumpy” in einem lyrischen Gedicht, einem zur Veröf­fentlichung bes­timmten Sach­text oder auf einem Diskus­sions­fo­rum im Inter­net ver­wende oder im Gespräch mit mein­er Begleitung nach­dem wir bei­de ger­ade drei Stun­den lang englis­chsprachige Vorträge gehört haben. Als wäre es das Gle­iche, ob jemand “cool” sagt, ob ein Jugendlich­er “die peo­ple” sagt, ob ein Philosoph vom “prin­ci­ple of char­i­ty” spricht oder ein Presseref­er­ent das Wort “proac­tive” verwendet.

    Ich bin auch dur­chaus der Ansicht, das Kul­turkri­tik (was nicht das gle­iche ist wie Ästhetik) nötig ist und dass sie sich auch an der Sprache fest­machen lässt. Für die Sprache des Drit­ten Reich­es ist dies ja auch überzeu­gend, auch von Lin­guis­ten, gemacht wor­den. Wenn ich mich der Reklame­sprache, dem poli­tis­chen Jar­gon oder dem Jar­gon von PR-Agen­turen aus­set­ze, finde ich es aus­ge­sprochen kon­ter­in­tu­itiv, dass es nicht möglich sein sollte, an die sprach­lichen Phänomene kul­turkri­tisch und ide­olo­giekri­tisch her­an zu gehen. Damit ver­lässt man allerd­ings — und darüber muss man sich Rechen­schaft able­gen — den engeren Bere­ich von Sprache als Gegen­stand der Lin­guis­tik, auch und vor allem method­isch, und beg­ibt sich auf die Gebi­ete der Philolo­gie, Sozi­olin­guis­tik, Sozialpsy­cholo­gie und, hor­ri­bile dic­tu, der Philosophie.

    Das ist jet­zt länger gewor­den, als ich es beab­sichtigt hat­te. S’ist nur … in den Debat­ten um den Schwachsinn von Leuten des Schlages von Bas­t­ian Sick, der ja offen­sichtlich ein ver­bre­it­etes Bedürf­nis befriedigt, wird meines Eracht­ens das Kind mit dem Bade aus­geschüt­tet. Das geht soweit, dass mir manche Gegen­po­si­tio­nen mitunter struk­tur­i­so­morph zu sein scheinen.

    Man sollte als lin­guis­tisch gebilde­ter Men­sch nicht vergessen, dass von einem rein deskrip­tiv­en lin­guis­tis­chen Stand­punkt, die Posi­tio­nen eines Bas­t­ian Sick und des VDS zunächst ganz wert­neu­tral ein­fach Teil der Auseinan­der­set­zung ein­er Sprachge­mein­schaft um die Ver­wen­dung ihrer Sprache sind. Ob diese Posi­tio­nen vernün­ftig sind und ob sie von angemesse­nen Vorstel­lun­gen von Sprache aus­ge­hen, spielt für einen *rein* lin­guis­tis­chen Stand­punkt keine Rolle. Was in dieser Per­spek­tive zählt, ist nur ihre Wirkung auf die Sprachver­wen­dung. Dies ist auch insofern nicht ganz unwichtig, als ich den sehr starken Ein­druck habe, dass die Sicks dieser Welt ja nicht ein­fach nur eine bere­its beste­hende Vari­etät für maßge­blich erk­lären und kon­servieren wollen, son­dern dass die maßge­bliche Vari­etät über mehr oder min­der selb­st aus­gedachte Regeln erst geschaf­fen wird. Das wäre eine sprach­wis­senschaftliche Unter­suchung wert.

    Selb­stver­ständlich kann ein lin­guis­tisch gebilde­ter Men­sch nicht bei einem solchen Stand­punkt ste­hen bleiben. Da es sich um unsere eigene Sprache han­delt, beziehen wir uns auf diese Debat­ten immer auch als Sprachteil­nehmer. Also präskriptiv.

    (Ich bin selb­st kein Lin­guist, son­dern nur Ama­teur. “Ama­teur” aber im eigentlichen Sinne des Wortes, d.h. ich lese lin­guis­tis­che Stu­di­en, kon­sul­tiere lin­guis­tis­che Ein­führungswerke und, auf­grund eines poe­t­ol­o­gis­chen Inter­ess­es, ver­bringe ich recht viel Zeit damit, in Praat meine Auf­nah­men von All­t­agssprache anhand von Spek­tro­gram­men zu unter­suchen und zu transkribieren.)

    Jet­zt ist aber Schluss. Ich hoffe mein “rant” war nicht zu anstren­gend … Wenig­stens hab ich’s mir jet­zt von der Seele gere­det. Zu der Frage, die ich eigentlich bloß stellen wollte:

    Der Ver­fass­er ist evan­ge­lis­ch­er Pfar­rer, es kön­nte also gut sein, dass er vom luther­bib­lis­chen an bee­in­flusst wurde. Genau­so kann es sich aber um eine neue, davon unab­hängige Entwick­lung han­deln, oder gar ein­fach um einen Fehler.

    Das bet­rifft etwas, das ich auch bei vie­len ange­blichen und tat­säch­lichen Anglizis­men wahrnehme: Das mod­erne Englisch hat — wie bei ein­er so nah ver­wandten Sprache ja auch zu erwarten — viele Aus­drücke und Kon­struk­tio­nen, die sich zwar nicht in der heuti­gen Stan­dard­va­ri­etät (v. a. in der Schrift­sprache der großen Zeitun­gen) find­en, wohl aber in regionalen Vari­etäten oder in älteren Stufen der deutschen Schrift­sprache. Z.B. das oft als Anglizis­mus geschmähte “erin­nern” mit ein­fachem Akkusativ, ohne Prä­po­si­tion, kommt meines Wis­sens regelmäßig z.B. in schweiz­erischen Vari­etäten vor.

    Ich habe nun den Ein­druck — der unzu­ver­läs­sig ist und falsch sein kann, weil er sich eben­so gut darüber erk­lären ließe, dass mich die Sicks dieser Welt dazu ver­leit­en so etwas bloß stärk­er wahrzunehmen — ich habe nun den Ein­druck, dass sich unter dem Ein­fluss des Englis­chen solche For­men ver­stärkt auch in der geschriebe­nen Sprache wieder find­en. D.h. ich fände es plau­si­bel, dass Sprecher/Schreiber Aus­drucks­for­men ihrer regionalen Vari­etäten nur dank des Ein­flusses des Englis­chen in ihre formelle Schrift­sprache ein­fließen lassen. Ähn­lich­es kön­nte man für ältere For­men der Schrift­sprache behaupten, die ja selb­st nie so ein­heitlich wahr, wie’s sich die Leute ein­bilden. Als Gedanken­ex­per­i­ment: wäre im Englis­chen die Schrei­bung “7 1/2 o’clock” die ver­bre­it­ete, dann sähe man heute vielle­icht auch ver­mehrt wieder “7 1/2 Uhr”, dann aber nicht als rein­er Anglizis­mus, son­dern als Mit­teld­ing zwis­chen ein­er Über­nahme aus dem Englis­chen und ein­er Wieder­bele­bung ein­er sel­ten gewor­de­nen Form.

    Nicht das Gle­iche, aber ähn­lich gelagert: mir ist in meinem Bekan­ntenkreis das Wort “prokras­tinieren” begeg­net. (Was für mein per­sön­lich­es Sprachempfind­en her­rlich barock klingt und mir aus­ge­sprochen gut gefällt.) Ich bin zuver­sichtlich, dass es sich in den betr­e­f­fend­en Fällen um einen Anglizis­mus han­delt, in dem Sinne, dass die Betr­e­f­fend­en das Wort ohne den Ein­fluss des Englis­chen nicht in dieser Weise ver­wen­det hät­ten. Ander­er­seits hat­ten die Betr­e­f­fend­en auch in der Schule inten­siv­en Latei­n­un­ter­richt und ich bezwei­fle auf der anderen Seite, dass Sie es ohne diesen Hin­ter­grund, als “reinen” Anglizis­mus, zuge­lassen hätten.

    Gibt es sprach­wis­senschaftliche Unter­suchun­gen in dieser Richtung?

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    1. Kristin Beitragsautor

      Lieber Oliv­er,

      vie­len, vie­len Dank für diesen lan­gen Kom­men­tar! Etiket­tev­er­stoß: Quatsch. Die Diskus­sion ist zwar etwas ver­sandet, ich wage zu behaupten, weil die Teil­nehmer sich nichts mehr Neues zu sagen hat­ten, dass aber noch Neues sag­bar ist, hast Du ja gezeigt.
      Ich habe lei­der in den näch­sten Tagen kaum Zeit für eine angemessen durch­dachte und aus­führliche Antwort — sie kommt aber garantiert, ich schätze mal übernäch­ste Woche. Wir sprechen uns also noch! 🙂

      Antworten
    2. Kristin Beitragsautor

      Sooo, jet­zt habe ich endlich ein bißchen Zeit.
      Du schreibst

      Ich bin der Ansicht, dass ästhetis­che Urteile, also auch sprachäs­thetis­che, dur­chaus objek­tiv sind, im Unter­schied zu bloßen Geschmacksbekundungen.

      Hättest Du vielle­icht ein Beispiel für ein solch­es ästhetis­ches Urteil? Ich kann mir darunter nichts vorstellen.

      Was mich dabei beson­ders nervt, ist, nicht nur, dass dabei ständig meta­ph­ysis­che Vorstel­lun­gen von Sprache und Sprachge­brauch im Spiel sind, son­dern das ständig (und zwar von allen Seit­en, auch von den Kri­tik­ern der Sprach­nör­gler und Anglizis­men­jäger) die unter­schiedlich­sten Kontexte/Sprechsituationen, Vari­etäten, Textgat­tun­gen, Stilebe­nen durcheinan­der gewor­fen wer­den, so als spielte das alles keine Rolle.

      Stimme ich abso­lut zu, ist aber vielle­icht ganz generell ein Prob­lem des Diskurs­es von Laien, egal welch­es The­ma — zu viele poten­zielle Ein­flussfak­toren, wenn man die alle berück­sichtigt, dauert es ziem­lich lange, bis man was zum The­ma sagen kann.
      Auf der wis­senschaftlichen Ebene berück­sichtigt man solche Dinge ja dann schon.

      Man sollte als lin­guis­tisch gebilde­ter Men­sch nicht vergessen, dass von einem rein deskrip­tiv­en lin­guis­tis­chen Stand­punkt, die Posi­tio­nen eines Bas­t­ian Sick und des VDS zunächst ganz wert­neu­tral ein­fach Teil der Auseinan­der­set­zung ein­er Sprachge­mein­schaft um die Ver­wen­dung ihrer Sprache sind.

      Die Wirkung solch­er pop­ulär­er Laien­mei­n­un­gen auf die Sprachver­wen­dung würde ich als ziem­lich ger­ing ein­schätzen — das meiste passiert ein­fach der­art unbe­wusst … und dass ich mir mühevoll das Fugen‑s in Stel­lung­nahme abtrainiert habe oder jemand sich furcht­bar anstrengt, nicht das macht Sinn zu sagen, hmja, finde ich ehrlichge­sagt nicht so furcht­bar spannend.
      Aber ich bin mir ziem­lich sich­er, dass es dazu Unter­suchun­gen gibt (vielle­icht nicht mit Sick und VDS, son­dern eher mit älteren solchen Phänome­nen), ich kenne nur keine.

      Zur eigentlichen Frage:
      Es ist ein bekan­ntes Phänomen, dass Sprach­wan­del durch Sprachkon­takt, wenn er dann über die reine Entlehnung einzel­ner Wörter hin­aus­ge­ht, zunächst bevorzugt Struk­turen ergreift, die in der Nehmer­sprache auch vorkom­men, aber z.B. nur mar­gin­al sind oder eine leicht abwe­ichende Funk­tion gegenüber der der Nehmer­sprache haben.
      Ist eine sehr schwierige Geschichte, denn wie will man nach­weisen, dass der Wan­del­prozess wirk­lich durch Sprachkon­takt angestoßen wurde? Da gibt es schon ein paar Anhalt­spunk­te (z.B. wenn die neue Ver­wen­dung zunächst in einem bi- oder mul­ti­lin­gualen Per­so­n­enkreis auftritt und sich dann all­ge­mein ver­bre­it­et, oder wenn sie beson­ders oft in Über­set­zung­s­tex­ten o.ä. auftritt, …), aber oft ist das kaum mehr rekonstruierbar.
      Ich bin mir ziem­lich sich­er, dass das in dem generell sehr empfehlenswerten Buch Lan­guage Con­tact von Thoma­son erwäh­nt wird, oder vielle­icht in Thomason/Kaufman Lan­guage con­tact, cre­oliza­tion, and genet­ic lin­guis­tics. Ich schau heute Abend mal, ob ich die Stelle spon­tan finde.

      Antworten
  11. K.

    Entschuldigung, daß ich so spät hier noch etwas beitrage, aber ich bin erst jet­zt auf diesen Beitrag gestoßen. Ein Punkt hat mich über­rascht, näm­lich die Aussage:

    Nicht gerech­net hat­te ich mit einem blanken Akkusativ, aber seht selb­st (beson­ders beliebt war das wohl mit es):

    ich gedenks wol.
    ‘ich erin­nere mich gut daran’

    Über­rascht deswe­gen, weil “es” hier ja ger­ade kein Akkusativ ist, son­dern Gen­i­tiv, vgl. “Ich bin es zufrieden.” etc. D. h. dieses Beispiel bestätigt eigentlich ger­ade die nor­male Ver­wen­dung von “gedenken” mit Genitiv.

    K.

    Antworten
      1. K.

        Hm, doch. 😉

        Zugegeben, die alte Gen­i­tiv­form “es” ist heute ver­al­tet und ver­drängt durch “sein”, bzw. noch neuer “sein­er”, die eigentlich aus dem Reflex­ivpronomen stam­men. Allerd­ings ist wohl die ganze Fügung “ich gedenk’s wohl” heute kaum mehr zeit­gemäß. Die Analyse sollte daher auf den sein­erzeit­i­gen Sprach­stand abstellen.

        Jeden­falls ist das “es” in dieser und in ähn­lichen heute ver­al­teten Aus­drück­en nicht als Akkusativ zu ver­ste­hen. Es ist in der Tat die alte Gen­i­tiv­form von “es”, vgl. mhd. N. ez, G. es, ahd. N iz, G. es. Allerd­ings dringt bere­its im Mit­tel­hochdeutschen “sin” aus dem Reflex­ivum ein, hat den alten Gen­i­tiv “es” im Falle des männlichen “er” bere­its mehr oder weniger ver­drängt und begin­nt auch ins Neu­trum einzudringen.
        In den besproch­ene­nen altertüm­lichen (nhd.) Wen­dun­gen repräsen­tiert “es” aber auf jeden Fall noch die let­zten Reflexe der alten Genitivform!

        Ich habe im Moment nicht die Zeit, im Inter­net danach zu kra­men, aber vgl. z. B.
        — Duden, Band 4, Gram­matik, Aus­gabe 1966, S. 251, Randzahl 2615
        — Duden, Richtiges und gutes Deutsch, Aus­gabe 1985, S. 237, s.v. es, Punkt 3
        — Seidel/Schophaus, Ein­führung in das Mit­tel­hochdeutsche, 2. Aufl., 1994, S. 174
        — Heinz Met­tke, Mit­tel­hochdeutsche Gram­matik, 3. Aufl., 1985, S. 166, § 106
        — Karl Helm, Abriß der Mit­tel­hochdeutschen Gram­matik, 2. Aufl., 1961, S. 37, § 92
        — Wil­helm Braune, Abriß der Althochdeutschen Gram­matik, 9. Auflage, S. 56, § 71
        Tut mir leid, daß ich nicht die zeit­gemäßen Aufla­gen bei der Hand habe, aber ich denke, der Argu­men­ta­tion tut dies keinen Abbruch.

        Antworten
        1. Kristin Beitragsautor

          Inter­es­sant — vie­len Dank für den Hinweis!
          Dann wäre das auch im DWB schon falsch/uneindeutig ein­ge­ord­net, woher ich sowohl das Beispiel als auch die gram­ma­tis­che Klas­si­fizierung habe (unter 6c für die Bedeu­tung ’sich erinnern’):

          aber auch mit acc., zunächst bei es, das u. ä.

          Dass es ambig sein kon­nte, wussten die aber dur­chaus (hab ich beim Schreiben des Artikels über­lesen, ste­ht bei 5d für die Bedeu­tung ‘erwäh­nen’):

          der acc. schlich sich ein durch es, worin gen. und acc. ins ver­schwim­men kamen

          Zweifels­frei mit Akkusativ find­et sich aber:

          gelangten wir … nach Küsz­nacht, wo wir lan­dend … die Tellen-capelle zu begrüszen und jenen der ganzen welt als hero­isch-patri­o­tisch-rühm­lich gel­tenden meuchel­mord zu gedenken hatten.
          Göthe 48, 134 (aus m. l. 19)

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