Der Ekel des Hofmedicus vor kecken Studentinnen

Von Anatol Stefanowitsch

Im Zusam­men­hang mit mein­er kleinen Unter­suchung zu Auf­stieg und Fall des Wortes Studierende habe ich auch nach frühen Ver­wen­dun­gen des Wortes Stu­dentin gesucht, und dabei dieses Juwel ent­deckt: Hen­rich Matthias Mar­card, Königlich Großbrit­tanis­ch­er Hofmedicus zu Han­nover, Mit­glied der Königlichen Großbrittannischen
und Königlichen Dänis­chen Gesellschaften der Aerzte zu Edin­burg und zu
Copen­hagen, der Goet­tingis­chen Soci­etät der Wissenschaften
Cor­re­spon­den­ten
, beschreibt junge Men­schen, die er in Pyr­mont beobachtet hat.

Um es mal so zu sagen, er hat für junge Leute nicht viel übrig — und für kluge Frauen schon gar nicht: 

Diese jun­gen Leute, mit ihren merk­wuerdi­gen Uni­ver­si­taets-Begeben­heit­en, Geschicht­en und Ver­haelt­nis­sen, und mit ihren Stu­den­ten-Aus­drueck­en und Witzigkeit­en, haben aus ihrem Stu­den­ten­thum die innige Ueberzeu­gung mit­ge­bracht, sie waeren sehr bedeu­tend, und waehnen, sie seyen die galantesten und polirtesten Geschoepfe auf dem Erd­bo­den; daher leg­en sie auch ihre Stu­den­ten-Haut nicht ab, bis sie unter grauem Haar ver­welkt. Und daher trift man auch an einem solchen Orte so viele alte und junge Stu­den­ten an, denen immer die Uni­ver­si­taet als ihr hoech­stes Ding aller­waerts auf den Lip­pen haengt, und man ueber­sieht da oft in ein­er Ver­samm­lung, mit einem Blicke, die ganze Genealo­gie der Uni­ver­si­taets-Sit­ten, Sprache, Geschicht­en und Bon­mots aller Stu­den­ten-Gen­er­a­tio­nen, von der Mitte des Jahrhun­derts bis auf den heuti­gen Tag. Das Schlimm­ste ist, daß solch­er Sit­ten­verderb sich gern aus­bre­it­et. Nicht sel­ten find­et man sog­ar auch Frauen­z­im­mer, das sich nach diesem Schnitt und ueber diesen Leis­ten, auf seine Art, gebildet hat; aber nichts ist uner­traeglich­er und ekel­hafter als solche kecke Studentinnen.

Aus: Hen­rich Matthias Mer­card (1784)

Beschrei­bung von Pyr­mont, Erster Band
. Wei­d­manns Erben und Reich, S. 78–79.

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

15 Gedanken zu „Der Ekel des Hofmedicus vor kecken Studentinnen

  1. Ludwig Trepl

    Endlich ist’s damit vorbei
    Aha, und weil die Stu­dentin­nen so eine ekel­hafte und kecke Herkun­ft haben, schafft man sie jet­zt zusam­men mir den Stu­den­ten, die ja auch zum Sit­ten­verderb beitra­gen, ab und sagt Studierende. Denn das bringt zum Aus­druck, daß die jun­gen Leute Tag und Nacht mit nichts anderem beschäftigt sind als mit dem, was nach Ansicht der Steuerzahler (meinetwe­gen: der Steuerzahlen­den) ihre Auf­gabe ist .

  2. grmph

    die Jugend von heute
    Inter­es­sant finde ich, dass es schein­bar schon seit dem 18. Jahrhun­dert üblich ist, über die jew­eili­gen Jugendlichen zu meck­ern. Dass “die Jugend von heute” seit dem 18 Jh. von Gen­er­a­tion zu Gen­er­a­tion schlim­mer wird, ist doch ein inter­es­san­ter Auswuchs erwach­sen­er Arroganz.
    Der Kul­turpes­simis­mus hat also zumin­d­est auf eine gute alte Tra­di­tion berufen.

  3. Achim

    Die Jugend von heute…
    … ist auch nicht schlim­mer als die Jugend von gestern. Schon bei Aris­tote­les find­et sich ange­blich die Klage, die junge Gen­er­a­tion sei ver­lot­tert & eine Schande.
    Ich hat­te mal eine Dozentin, die das mit “Things are no longer what they nev­er were” sehr schön zusam­menge­fasst hat.

  4. Dierk

    Nein Herr Tre­pl, das mit den Wörtern machen diese jun­gen und alten Stu­den­ten [und Pro­fes­soren; nicht, dass wir den Text falsch ver­ste­hen, die meint er auch] nur, um Sie zu ärg­ern. Damit Sie erregte Leser­briefe schreiben kön­nen, wie blöd doch die heutige Jugend in ihrem Gle­ich­macher­wahn sei.

  5. Sascha

    Ach, Kla­gen über die Herun­tergekom­men­heit der Jugend hat man schon auf über 4000 Jahre alten Tontafeln gefun­den. Die sind schein­bar immer modern.

  6. Hans

    Inter­es­sant
    da sieht man mal wieder sehr schön, das viele ältere Herrschaften irgend­wann ganz gern vergessen, das sie auch mal jung gewe­sen sind. Und dabei überse­hen diese Her­schaften wohl auch sys­tem­a­tisch, das sie für ihre Eltern­gener­a­tion wahrschein­lich auch ein paar Flausen im Kopf hat­ten, die man ihnen nicht aus­treiben konnte…

  7. Michael Allers

    Offen­sichtliche Parallele
    Es ver­hält sich mit der ’nicht­snutzi­gen heuti­gen Jugend’ genau­so wie mit dem ‘Sprachver­fall’. Auch der wurde schon im alten Ägyptern beklagt.
    Anscheinend sind viele nicht in der Lage, bis zur eige­nen Jugend zurück- oder gar in geschichtlichen Dimen­sio­nen zu denken.

  8. Helmut Wicht

    Nun ja ..
    .. ein wenig von der pathetis­chen Hingegeben­heit an die Alma mater, die der Herr Mer­card (Mar­card?) da beklagt, würd’ ich mir heutzu­tag’ schon wün­schen. Uni als Lebens­ge­fühl, nicht nur als Arbeits- und Ausbildungsstätte.

  9. Ludwig Trepl

    @Dierk
    Ich klage doch nicht über die Jugend. Nein, die Jugend ist, alles in allem, wohl nicht bess­er und nicht schlechter als zu allen Zeit­en, zumin­d­est heute nicht schlechter als zu mein­er Zeit.
    Die “Studieren­den”, so mein Ein­druck, haben nicht die Stu­den­ten erfun­den, son­dern Uni­ver­sitäts­funk­tionäre (wie nen­nt man die heute? Man­ag­er?). Nicht die Stu­den­ten, son­dern die Stu­den­ten­funk­tionäre haben dann das Wort über­nom­men. Kann man ihnen dafür die Schuld geben? Mir scheint, dafür sind eher Sprach­wis­senschaftler oder Ama­teur-Sprach­wis­senschaftler ver­ant­wortlich, die ein merk­würdi­ges Argu­ment in die Welt set­zten: Aus der Tat­sache, daß sich die Sprache ständig ändert, fol­gt nicht nur, daß sie sich ständig ändern soll, son­dern auch, daß Fehler gar nicht möglich sind, denn sie kön­nten ja eines Tages keine mehr sein.

  10. Peer

    Kleine Zeitleiste
    So für Her­rn Tre­pl noch ein­mal eine Zeitleiste:
    1784 Herr Mer­card klagt über studierende Frauen
    18xx daraufhin wird ‑wie von L.T. klar erkan­nt — die Form “Studierende” ver­wen­det, um nicht mehr an studierende Frauen denken zu müssen.
    Um 1900: Man besin­nt sich wieder auf die spez­i­fis­chen For­men, weil das ja viel bess­er und genauer ist — wer will schon verse­hentlich mit Stu­dentin­nen zu tun haben, nur weil die sich hin­ter “Studierende” verstecken?
    70er Jahre: “Sinn machen” erlebt einen unheim­lichen Boom. Außer­dem stellen immer mehr Män­ner fest, dass es Frauen gibt, die nicht mögen, wenn man sie unter der männl­ci­hen Beze­ich­nung mit ein­schließt. Und das obwohl es Män­ner nicht stört, wenn Frauen unter der männlichen Beze­ich­nung mit geführt werden.
    80er Jahre: Der Grund für den Boom von “Sinn machen” in den 70 er Jahre — Dal­las und Talk­ing Heads — Songs — wer­den rück­wärts in die Zeit geschickt, um den Boom auszulösen.
    Außer­dem stellen die Män­ner fest, dass sie es NICHT mögen, wenn man sie unter der Beze­ichung “Stu­dentin­nen” mit ein­fassen würde. Das ist ja auch albern und so. “Stu­den­ten” ist schon bess­er und es stört die ;Män­ner ja auch nicht, wenn damit auch Frauen gemeint sind.
    90er Jahre: Um nicht immer “Stu­dentin­nen und Stu­den­ten” schreiben zu müssen und weil sich Frauen und Män­ner nicht eini­gen kön­nen, nur eine Form zu ver­wen­den (obwohl es ja so tolles deutsch ist nur die männliche Form zu ver­wen­den) wird “Stu­dentIn­nen” konstruiert.
    Ende der 90er Jahre: Es fällt auf, dass “Stu­dentIn­nen” schw­er auszus­prechen ist und das Großbuch­staben in Wörtern BenQ vor­be­hal­ten sein sollte. Man wieder­ent­deck­te das Wort “Studierende”.
    00er Jahre: Große Empörung, dass man ein neues Wort kreiert hat! Sowas sollte Goethe vor­be­hal­ten sein.
    Das wars, Ich esse jet­zt meine Pisang!
    🙂

  11. Ludwig Trepl

    @Peer
    Ich kann Ihrem Text lei­der nicht ent­nehmen, was Sie mir sagen wollen. Wo z. B. hätte ich denn “klar erkan­nt”, daß man im 19. Jahrhun­dert “die Form ‘Studierende’ ver­wen­det, um nicht mehr an studierende Frauen denken zu müssen”? Hat man diese Form denn damals anders ver­wen­det als zur Beze­ich­nung von Studieren­den? Und da hat man natür­lich auch studierende Frauen gemeint, aber nicht Stu­dentin­nen — wie auch, Frauen waren an den Uni­ver­sitäten noch gar nicht zuge­lassen. Und was soll das mit dem “Sinn machen”?
    In Ihrem let­zten Satz (“00er Jahre: Große Empörung, dass man ein neues Wort kreiert hat! Sowas sollte Goethe vor­be­hal­ten sein”) allerd­ings glaube ich einen Sinn zu erken­nen. Aber was hat das mit mir zu tun? Habe ich denn jemals etwas auch nur ent­fer­nt Ähn­lich­es gesagt oder geschrieben? Und was hat es mit den “Studieren­den” zu tun? Wenn ein­er etwas schreibt, was er nicht meint — z. B. “Sin­gende” schreibt, aber gar nicht Sin­gende meint, son­dern schlafende Sänger -, dann hat er damit kein neues Wort kreiert, son­dern schlicht einen Fehler gemacht. Und das bleibt auch dann ein Fehler, wenn ihn Goethe macht. — Ich ver­ste­he ja, daß es manchem pein­lich ist, bei so etwas erwis­cht zu wer­den, aber so schlimm ist es doch auch wieder nicht; kurz rot wer­den und die Sache hat sich.

  12. Michael Allers

    @Peer
    Ganz amüsant, aber:

    Außer­dem stellen die Män­ner fest, dass sie es NICHT mögen, wenn man sie unter der Beze­ichung “Stu­dentin­nen” mit ein­fassen würde. Das ist ja auch albern und so. “Stu­den­ten” ist schon bess­er und es stört die Män­ner ja auch nicht, wenn damit auch Frauen gemeint sind.

    Außer­dem stelle ich fest, dass es in der Tat gram­ma­tisch weib­liche Sam­mel­beze­ich­nun­gen gibt, die Män­ner kein biss­chen stören: die Bevölkerung, die Jugend, die Per­so­n­en, die Gen­er­a­tion, die Belegschaft …
    ‘Stu­dentin­nen’ ist mir schlicht zu lang; anson­sten hätte ich nichts dage­gen, wenn es denn dem Gen­der­welt­frieden diente.
    Und dann gibt es noch die Mannschaft. Spätestens hier sollte doch auf­fall­en, dass das gram­ma­tis­che mit dem biol­o­gis­chen Geschlecht allen­falls zufäl­lig übere­in­stimmt, auch wenn
    a) wahrschein­lich jemand nach­weisen kann, dass Mann hier eigentlich Men­sch bedeutet,
    b) Mannschaften wiederum aus Frauen beste­hen kön­nen. Das klingt dann wirk­lich albern; ‘Team’) ist besser.
    Wenn man / frau sich schon am gramm. Genus aufhängt:
    Ist eigentlich irgend­wo in Stein gemeißelt, dass ein Begriff im Plur­al das­selbe Genus haben muss wie im Sin­gu­lar? Warum sieht man es dem Plur­al denn gar nicht an? Die Artikel sind genus­neu­tral, und die Endung ‘en’ gibt es z.B. auch bei Frauen. Ich betra­chte ‘die Stu­den­ten’ usw. als eine Art Utrum — und ‘die Per­so­n­en’ eben­so. Alles eine Frage der Sichtweise; wer kün­stliche Aufre­gung liebt, find­et immer einen Grund dazu.
    — Ein ‘bloß Mit­ge­mein­ter’ und damit total diskri­m­iniert­er Lesender 😉

  13. D. Müller

    >
    b) Mannschaften wiederum aus Frauen beste­hen kön­nen. Das klingt dann wirk­lich albern; ‘Team’) ist besser.
    >

    Das sieht der DFB anders …

  14. Peer

    @Michael Allers
    Stimmt schon, aber das sind ja Sam­mel­beze­ich­nun­gen mit fem­i­ni­men Artikel, das ist schon was anderes als die kon­se­quent fem­i­nine Form.
    Aber mein Artikel war ja nun auch nicht so 100%ig ernst gemeint 😉
    (Und L.W.: Ich bezog mich auf ihren ersten Kom­men­tar “ha, und weil die Stu­dentin­nen so eine ekel­hafte und kecke Herkun­ft haben, schafft man sie jet­zt zusam­men mir den Stu­den­ten, die ja auch zum Sit­ten­verderb beitra­gen, ab und sagt Studierende.” — generell wars aber ganz all­ge­mein gegen Sprach­nör­g­lerische Universalkritik)

  15. Jockel

    Waisen
    Ein klein­er Junge und ein kleines Mäd­chen — Geschwis­ter — ver­lieren ihre Eltern durch einen Autoun­fall. Bei­de sind — im Sin­gu­lar — “eine Waise” und im Plur­al “die Waisen”. Das stört wed­er die Sprach­polizei der Europäis­chen Union noch die nach­ge­ord­neten bun­des­deutschen Behör­den, die sich anson­sten nach Kräften bemühen, das ver­meintlich in der Sprache enthal­tene biol­o­gis­che Geschlecht aus der Sprache zu tilgen und / oder die grund­sät­zlich androg­y­ne Funk­tion von Gen­era bewusst ignori­eren, um ein absur­des Kon­strukt namens “Geschlechterg­erechtigkeit” herzustellen, obgle­ich es in der Sprache wed­er ein Gerechtigkeits- noch ein Geschlechter­prob­lem gibt. Ent­ge­gen der in diesem Blog vertrete­nen Aus­sagen han­delt es sich um deduk­tive, top-down und strate­gisch organ­isierte Ver­suche der sprach­poli­tis­chen Umerziehung. Diese ist zudem sehr ein­seit­ig über­all nur dort zu find­en, wo Frauen (nicht ver­meintlich, son­dern tat­säch­lich!) mit­ge­meint sind. Wenn die Waise biol­o­gisch männlich sein kann und in ein­er Gruppe von Waisen Men­schen mit Penis mit­ge­meint sind, warum wird dann so getan, als wenn gemis­cht­geschlechtliche Grup­pen nicht als “die Stu­den­ten” angere­det wer­den können?

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