[AdJ 2011] Das neue Mem: Meme.

Von Susanne Flach

Als die Nominierung Meme von Karo­line abgegeben wurde, war ich über­rascht: Denn eigentlich hielt ich es für die Plu­ral­form von Mem, einem längst inte­gri­erten Fachter­mi­nus, dementsprechend mit deutsch­er Aussprache [me:mə], mir war nicht klar, dass es eigentlich und ver­mut­lich einen, äh, pho­nol­o­gis­chen Anglizis­mus [mi:m] gibt. Ich krieche zu Kreuze! Ich lese wenn über­haupt nur von Meme, höre es sel­tenst, ja? (Die Plu­ral­form von Mem kön­nte auch die fol­gen­den Ver­suche zur Häu­figkeitssuche bee­in­flusst und erschw­ert haben.) Bei­de Wörter beze­ich­nen im Englis­chen und Deutschen jew­eils die gle­ichen Ideen und sind natür­lich konzep­tionell miteinan­der verwandt.

Wir haben hier — vor­weggenom­men — zwei Sta­di­en zu betra­cht­en: Die Über­nahme von Mem vor 30 Jahren (mit mor­phol­o­gis­ch­er und pho­nol­o­gis­ch­er Inte­gra­tion) und der zweite Import mit ander­er Bedeu­tung (offen­bar) noch ohne die voll­ständi­ge Inte­gra­tion eben erst jet­zt. Ich halte die Nominierung deshalb auf der Basis des zweit­en Imports für zulässig.

Ursprung

Die Intu­ition, dass Mem längst einge­bürg­ert ist, geht auf die “Ursprungs­be­deu­tung” von Mem zurück, die mir bekan­nt und präsent war: Richard Dawkins entwick­elte in Analo­gie zu Genen das Mem-Mod­ell, das wir auch in Deutsch­land bere­its vor Jahrzehn­ten über­nom­men haben. Hier beze­ich­net ein Mem einen kul­turellen Rep­lika­tor aus den Bere­ichen Ver­hal­ten, Sprache, Mode, Kul­tur — schlicht alles, was in kul­tureller Trans­mis­sion durch Imi­ta­tion weit­erg­ere­icht (oder aus­geson­dert) wird und so im Mem-Pool über­lebt oder eben nicht. Richard Dawkins schreib dazu 1976 (hier in der Fas­sung von 1989):

The new soup is the soup of human cul­ture. We need a name for the new repli­ca­tor, a noun that con­veys the idea of a unit of cul­tur­al trans­mis­sion, or a unit of imi­ta­tion. ‘Mimeme’ comes from a suit­able Greek root, but I want a mono­syl­la­ble that sounds a bit like ‘gene’. I hope my clas­si­cist friends will for­give me if I abbre­vi­ate mimeme to meme* If it is any con­so­la­tion, it could alter­na­tive­ly be thought of as being relat­ed to ‘mem­o­ry’, or to the French word même. It should be pro­nounced to rhyme with ‘cream’.

Exam­ples of memes are tunes, ideas, catch-phras­es, clothes fash­ions, ways of mak­ing pots or of build­ing arch­es. Just as genes prop­a­gate them­selves in the gene pool by leap­ing from body to body via sperms or eggs, so memes prop­a­gate them­selves in the meme pool by leap­ing from brain to brain via a process which, in the broad sense, can be called imitation.

Dawkins (1989: 192)

Entwicklung und Entlehnung

In dieser Beze­ich­nung ist Mem bei uns natür­lich längst etabliert. Aber darum ging es Karo­line in der Nominierung ja nicht. Um dahinzuge­lan­gen, gehen wir über die Entwick­lung im Englis­chen: Nun ist dort also Fol­gen­des passiert: mit engl. meme1, das viel all­ge­mein­er die Rep­lika­tion eines kul­turellen Konzepts bzw. kul­tureller Infor­ma­tio­nen beze­ich­net, wer­den in der Inter­net­gen­er­a­tion auch die Konzepte beze­ich­net, das auf den Prinzip­i­en der Mem- bzw. Infor­ma­tion­srep­lika­tion beruhen, die sich aber gän­zlich im Inter­net abspie­len, also als meme2 (mit ein­er sub­jek­tiv gefühlten Witzkom­po­nente). Diese zweite Bedeu­tungss­chat­tierung haben wir jet­zt auch pho­nol­o­gisch über­nom­men und beze­ich­nen sie mit Meme [mi:m]. Während meme also im Englis­chen die zwei Bedeu­tun­gen meme1 und meme2 abdeckt, haben wir im Deutschen Mem(e) [me:mə] für meme(s)1 und Meme(s) [mi:m] für meme2 und somit ein­deutig eine Bedeu­tungs­d­if­feren­zierung und eine Bere­icherung für die deutsche Sprache.

Dieser Ansicht ist auch Karo­line, die argu­men­tiert, dass Meme die Bere­iche abdeckt, die viral nicht abdeck­en kann. Das ist kor­rekt, allerd­ings ist es mein­er Ansicht nach eine falsche Argu­men­ta­tion. Was mit Meme und viral beze­ich­net wird, sind ‘Rep­lika­tor’ bzw. ‘Rep­lika­tion’: viral beze­ich­net eine Art der Rep­lika­tion, also wie die Rep­lika­toren (Memes) ver­bre­it­et wer­den. Also in diesem konkreten Fall davon abge­se­hen, dass Meme ein Nomen und viral ein Adjek­tiv ist (die Sprachge­mein­schaft hätte natür­lich auch viral in ein Nomen kon­vertieren kön­nen, um die Bedeu­tung von Meme abzudecken).

Ver­wen­dungs­beispiele seien hier kurz ange­führt (inkl. der Belege, die bei der Nominierung aufge­führt wurden):

 Die Koop­er­a­tion von Youtube und dem Guggen­heim-Muse­um Ende let­zten Jahres sollte demon­stri­eren: Die Mut­ter aller Video­plat­tfor­men kann mehr als Musik, ille­gale Auss­chnitte und Meme schleud­ern. (DRa­dio Wis­sen, 23.11.2011)

John Pike und das Hitler-Meme John Pike ist zu einem Meme gewor­den, so nen­nt man schnell sich über das Inter­net sich ver­bre­i­t­ende Bild­witze und Film­chen. (Die Welt, 24.11.2011)

Die Buch­lieb­haber-Chal­lenge – Das zweite Meme! (Noth­ing More Delight­ful, 15.11.2011)

Inter­net Memes im Überblick: Wo sie herkom­men und was sie bedeuten. (Juliane Waack, blogwatch.germanblogs.org, 20.05.2011)

Aber einige der derzeit über­all kur­sieren­den Gut­ten­berg-Meme sind ein­fach zu schön, um unter­schla­gen zu wer­den: (Flo­ri­an Bay­er, seite360.de, 17.02.2011)

Eine schöne Samm­lung von eigentlichen Memes ist auch die Meme-Daten­bank knowyourmeme.com.

Der Voll­ständigkeit hal­ber: Genuszuweisung ver­mut­lich aus­nahm­s­los und ein­deutig Neu­trum (das Meme), möglicher­weise in Analo­gie zu das Mem, das Gen; Plur­al die Memes.

(Wobei man natür­lich nicht abschließend sagen kann, dass Meme auch immer [mi:m] ist: dafür sind einige hier nicht aufge­führte Ver­wen­dun­gen in Abwe­sen­heit von numeru­sanzeigen­den Artikeln (ein bzw. das Meme), sowie auf­grund der pho­nol­o­gis­chen Inte­grier­barkeit in unser Phone­m­inven­tar und natür­lich der ety­mol­o­gis­chen und konzep­tionellen Über­schnei­dung von meme1 und meme2 nicht ein­deutig als [me:mə] oder [mi:m] inter­pretier­bar. Die Ambi­gu­i­tät ist aber auch gar nicht so entschei­dend, son­dern im Prozess des Bedeu­tungswan­dels normal.)

Kri­teri­um der Dif­feren­zierung erfüllt? Ja.

Aktualität

Wie aktuell ist Meme? Wie oben ange­führt, kann Meme als Plur­al von Mem die Suche erschw­eren. Hier soll der Blick in eine GoogleIn­sight-Suche für Mem und Meme genü­gen: Dort ist 2011 eine deut­liche Häu­figkeit­stren­nung von Mem und Meme zu erken­nen. Bis etwa 2011 ver­laufen Meme [me:mə] und Mem im Gle­ich­schritt, ab 2011 steigt Meme sprung­haft an, auch der hypoth­e­sierte Plur­al von Meme, Memes nimmt erst neuerd­ings wirk­lich zu. Dies ließe den vor­sichti­gen Schluss zu, dass wir es 2011 tat­säch­lich mit ein­er Häu­figkeit­szu­nahme von Meme [mi:m] zu tun haben. Dies leg­en auch die Top­suchan­fra­gen für meme nahe: face­book memememe gen­er­a­tor oder inter­net meme, also eben nicht im Sinne von Mem (GoogleIn­sights unter­sucht allerd­ings nur nach Region [hier: DE], lei­der nicht nach Sprache).

Kri­teri­um der Aktu­al­isierung erfüllt? Vor­sichtiges Ja.

Metabemerkung

Was mich fach­lich fasziniert an Meme, Rep­lika­toren und Rep­lika­tion: in der Lin­guis­tik wurde von William Croft (1996, 2000) ein analoges Mod­ell zum Gen- und Mem-Pool vorgeschla­gen, um Sprach­wan­del im evo­lu­tionären Sinn erk­lären zu kön­nen: The­o­ry of Utter­ance Selec­tion (etwa: The­o­rie der Äußerungsauslese). Dort sind sprach­liche Äußerun­gen die Rep­lika­toren aus ein­er Pop­u­la­tion der Sprache, geäußert (repliziert) von den Mit­gliedern der Sprachge­mein­schaft. Eine Äußerun­gen wird danach dann mit höher­er Wahrschein­lichkeit repliziert, je mehr oder bess­er sie eine expres­sive Funk­tion erfüllt (Dar­wins Idee “Sur­vival of the fittest”). Dies ist nicht ger­ade Antwort 42 — aber ein mod­el­liert­er Ansatzpunkt, um das Über­leben und die Ver­bre­itung von sprach­lichen Äußerun­gen auf allen Ebe­nen der Sprache the­o­retisch erk­lären zu kön­nen (aber nicht voraus­sagen!). Das ist für die Wahl natür­lich nur ein fach­lich­er und sub­jek­tiv­er Meta-Ein­schub, erin­nert mich aber daran, dass ich mir das nochmal genauer anschauen [bitte Modalverb der Wahl einsetzen].

Fazit

Das hätte ich vor drei, vier Stun­den (bzw.: vor der gestri­gen Sper­rung mein­er Web­seite) nicht gedacht: Meme ist sog­ar ein ziem­lich guter Kan­di­dat. Er hat echte Über­lebungschan­cen, ist auf dem Vor­marsch und da er nicht auf einen Social Media-Bere­ich beschränkt ist, ste­ht Meme auch der bre­it­en Sprachge­mein­schaft offen — sofern sie natür­lich im weit­eren Sinne mit Inter­net­tech­nolo­gie ver­traut ist und mit ihr umge­hen kann. Und anders als bei vie­len Kan­di­dat­en haben wir hier keine Entlehnung, die wir bedeu­tung­stech­nisch ein­gre­gren­zt, ver­all­ge­mein­ert oder ver­schoben haben (aber was nicht ist, kön­nte noch wer­den — obwohl ich das für eher unwahrschein­lich halte), son­dern eine, die wir in konzep­tioneller Gänze  importiert haben.

Lit­er­atur:
Croft, William. 1996. Lin­guis­tic Selec­tion: An Utter­ance-based Evo­lu­tion­ary The­o­ry of Lan­guage Change. Nordic Jour­nal of Lin­guis­tics 19: 99–139.
Croft, William. 2000. Explain­ing Lan­guage Change: An Evo­lu­tion­ary Approach. Long­man.
Dawkins, Richard. 1989. The Self­ish Gene. Oxford Uni­ver­si­ty Press. (Kapi­tel 11: Memes: the new repli­ca­tors).

 

 

8 Gedanken zu „[AdJ 2011] Das neue Mem: Meme.

  1. janwo

    Ich finde der­ar­tige Nochmal-Entlegh­nun­gen ohne­hin sehr auf­schlussre­ich. Sie deuten u.a. ja auch darauf hin, dass die erste Entlehnung entwed­er nicht erfol­gre­ich war, oder aber dass sie so weit inte­gri­ert ist (und ein Eigen­leben ent­wock­elt hat), dass die erneute Entlehnung nicht “block­iert” ist.
    ich weiß, dass ich auch beispiele gese­hen habe, wo da die eine oder andere hochdeutsche Lautver­schiebung für genü­gend große Unter­schiede gesorgt hat. Aber die Entlehnung ein­mal mit und ein­mal ohne pho­nol­o­gis­che Assim­i­la­tion, das hat was…

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    1. suz Beitragsautor

      Zus­tim­mung, all­ge­mein — aber wo hat Mem ein Eigen­leben entwick­elt, bzw. eines, das sich von meme1 weit genug ent­fer­nt hätte? So gese­hen würde ein hypo­thetis­ches Mem2 ja nicht block­iert. Ich denke, hier spielt die Lin­gua Fran­ca Englisch (oder wie auch immer man das hier nen­nen will) und eine gewisse Anglophilie auch eine Rolle. Oder wir sehen die Entwick­lung von Mem2 möglicher­weise in der Zukun­ft, wenn es laut­lich in unser Inven­tar inte­gri­ert wird und/oder das “e” wegfällt.

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  2. janwo

    Ich würde sagen die erste Entlehnung war nicht erfol­gre­ich, zumin­d­est nicht in den soge­nan­nten “weit­eren Kreisen der bevölkerung”.

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    1. suz Beitragsautor

      Ja, plau­si­bel. Da Meme aber vor allem (noch) im tech­nol­o­gis­chen Kon­text auf­taucht (bzw. hier zu Hause ist, naturgegeben), kann man das schlecht über­prüfen, oder?

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      1. suz Beitragsautor

        …also, dass Meme nicht auf ein­er gewis­sen Anglophilie beruht. Moment, ich argu­men­tiere poten­tiell zirkulär. *ähem*

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  3. ke

    Während meme also im Englis­chen die zwei Bedeu­tun­gen meme1 und meme2 abdeckt, haben wir im Deutschen Mem(e) [me:mə] für meme(s)1 und Meme [mi:m] für meme2 und somit ein­deutig eine Bedeu­tungs­d­if­feren­zierung und eine Bere­icherung für die deutsche Sprache.

    Du denkst also, dass Meme [mi:m] sowohl Sin­gu­lar als auch Plur­al ist? Daran habe ich starke Zweifel, denn dass ein Anglizis­mus im Deutschen im Plur­al unverän­dert bleibt, scheint mir höchst selten.

    Für viel wahrschein­lich­er halte ich, dass der Plur­al von Meme [mi:m] Memes [mi:ms] ist und dass wir sehr wohl auch Mem(e) [me:m(ə)] für meme2 haben. Die Beispiel von DRa­dio Wis­sen und seite360.de würde ich so interpretieren.

    Mir per­sön­lich war Mem(e) [me:m(ə)] in bei­den Bedeu­tun­gen geläu­fig; Meme [mi:m] im Deutschen ist mir ganz neu.

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    1. suz Beitragsautor

      Ach so, mein. Ich kor­rigiere das (ist nicht kom­plett genug) — Meme(s) ist natür­lich im Deutschen gut plu­ral­isier­bar (und wird es auch). Die Beispiele wären dahinge­hend in der Tat eher illus­tri­erend für die “Kon­fu­sion” bei­der Begriffe und Bedeu­tun­gen, als für eine klare Tren­nung. Hm. Aber danke!

      Mir per­sön­lich war Mem(e) [me:m(ə)] in bei­den Bedeu­tun­gen geläu­fig; Meme [mi:m] im Deutschen ist mir ganz neu.

      Äh ja, mir auch (s.o.), ich war ja von der Nominierung dann doch über­rascht. Aber ich glaube, sobald wir Memes haben bzw. einen Mod­i­fika­tor mit Sin­gu­larindika­tion + Meme, kön­nte man davon aus­ge­hen, dass es doch meist [mi:m] gemeint ist und wir somit tat­säch­lich einen “neuen” Anglizis­mus haben. Außer­dem sind mir in deutschen Tex­ten zu häu­fig ein­deutigere Anglizis­muskom­posi­ta untergekom­men, wie z.B. meme gen­er­a­tor, als­dass ich dem Argu­ment “zu alt” oder “zu inte­gri­ert” vor­eilig zus­tim­men würde.

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