Wer ist maskulin, wer ist feminin?

Von Anatol Stefanowitsch

Wegen eines nicht beson­ders guten Blog­beitrags wurde heute in mein­er Twit­ter-Time­line disku­tiert, welch­es gram­ma­tis­che Geschlecht das Frage­pronomen wer hat – genauer, ob es sich wie in dem ver­link­ten Beitrag behauptet, um ein Maskulinum handelt.

Sprach­wis­senschaftlich ist das keine ein­fache Frage. In eini­gen Zusam­men­hän­gen ver­hält es sich wie ein soge­nan­ntes Utrum, eine Form die sich auf Men­schen (und manch­mal uns nah­este­hende Tiere), aber nicht auf unbelebte Gegen­stände bezieht. So kann mit wer nach Maskuli­na, Fem­i­ni­na und Neu­tra gefragt wer­den,  solange es Men­schen sind. Bei Gegen­stän­den muss dage­gen mit was oder welch­es gefragt werden:

  1. Wer ist der größte Mann der Welt?
  2. Wer ist die größte Frau der Welt?
  3. Wer ist das größte Kind der Welt?
  4. * Wer ist das größte Flugzeug der Welt?
  5. Was/welches ist das größte Flugzeug der Welt?

Und auch Antworten auf Wer-Fra­gen kön­nen Maskuli­na, Fem­i­ni­na und Neu­tra sein, solange die sich auf Men­schen beziehen:

  1. Wer ist das?
  • (a) Der größte Mann der Welt.
  • (b) Die größte Frau der Welt.
  • (c ) Das größte Kind der Welt.
  • (d) * Das größte Flugzeug der Welt.

Wer wird deshalb von manchen Sprach­wis­senschaftlern als genus­neu­tral bezeichnet.

Allerd­ings scheint es sich in anderen Zusam­men­hän­gen wie ein Maskulinum zu ver­hal­ten. ((Siehe auch: PITTNER, Karin (1998) Genus, Sexus und das Pronomen wer. In Robert J. Pittner/Karin Pit­tner (Hg.), Beiträge zu Sprache und Sprachen 2. Vorträge der 5. Münch­n­er Lin­guis­tik-Tage 1995. München: Lin­com Europa, 153–162.)) Die vorherrschende Lehrmei­n­ung in der Sprach­wis­senschaft, und die Intu­ition viel­er Sprecher/innen, besagt, dass wir uns auf wer nur mit masku­li­nen Pronomen rück­beziehen können:

  1. Nochmal kurz… wer von euch gibt seinen Kindern Sanos­tol? [Link]
  2. Wer von Euch hat schon ein­mal sein ganzes Leben umgekrem­pelt? [Link]
  3. Wer von euch ist schwanger und hat­te trotz­dem seine Peri­ode? [Link]

Beson­ders inter­es­sant ist hier das Beispiel (9), da es sich, anders als die Beispiele (7) und (8), zwin­gend auf Frauen bezieht, wir es also nicht mit einem „gener­ischen Maskulinum“ zu tun haben. Trotz­dem wird das masku­line Pos­s­esivpronomen seine verwendet.

Diese Beispiele deuten klar darauf hin, dass das Frage­pronomen wer maskulin ist. Allerd­ings nur, wenn sich nicht auch authen­tis­che Beispiele find­en lassen, bei denen ein Rück­bezug durch ein fem­i­nines Pronomen hergestellt wird.

Solche Beispiele sind zwar deut­lich sel­tener als die mit masku­li­nen Pronomen, aber sie find­en sich trotz­dem in zu großer Menge, um sie als Fehler oder Aus­nahme abzu­tun. Hier sind aus­gewählte Beispiele, die ich unter den ersten 50 Google-Tre­f­fern von [“wer von euch * ihren”] und den ersten 30 Tre­f­fern von [“wer von euch * ihre”] gefun­den habe:

  1. Wer von Euch hat ihren Arbeit­ge­ber schon über die neuen Umstände [ihre Schwanger­schaft, A.S.] aufgek­lärt? [Link]
  2. Wer von euch hat ihre Tage auch erst ganz spät bekom­men und hat nie starke Blu­tung? [Link]
  3. Wer von euch kauft ihren Katzen Kitekat? [Link]
  4. Hal­lo Mamis, habe mal eine Frage: Wer von euch gibt ihren Lieb­sten die Kin­der­milch? [Link]
  5. Wer von euch hat­te trotz Schwanger­schaft ihre Regel? [Link]
  6. Wer von euch kann uns ihre Erfahrung mal mit­teilen? [Link]
  7. Vielle­icht mag mir ja wer von euch von ihren Erfahrun­gen mit dem Mon­i­tor erzählen. [Link]

Es fällt auf, dass die meis­ten dieser Beispiele von Frauen pro­duziert wur­den, in Kon­tex­ten, in denen sie haupt­säch­lich mit anderen Frauen kom­mu­nizieren. Auch Dop­pelfor­men find­en sich mit wer:

  1. Wer von euch kann mir seine/ihre Erfahrun­gen – nur zu diesen bei­den Reifen – mit­teilen. [Link]
  2. Wer von euch reinigt seinen/ihren Geschirrspüler regelmäßig? [Link]

Diese For­men sind weniger klar auf „weib­liche“ Zusam­men­hänge begrenzt.

Es scheint plau­si­bel, dass hier ein Sprach­wan­del­prozess zu beobacht­en ist, ((Siehe auch PUSCH, Luise (1984) Frauen ent­pa­tri­fizieren die Sprache: Fem­i­nisierung­s­ten­den­zen im heuti­gen Deutsch. In Luise Pusch, Das Deutsche als Män­ner­sprache. Frank­furt a.M.: Suhrkamp, 76–108.)) im Laufe dessen das Frage­pronomen wer sein masku­lines Genus ver­liert und ein echt­es Utrum wird. Und dieser Sprach­wan­del­prozess wird möglicher­weise von Frauen ange­führt (was aus sozi­olin­guis­tis­ch­er Sicht nicht völ­lig uner­wartet wäre).

[Nach­trag: Alter­na­tiv wäre die Hypothese bedenkenswert, dass wir es möglicher­weise mit zwei ver­schiedene sta­bilen Vari­etäten des Deutschen zu tun haben: Ein­er, in der wer maskulin ist [Deutsch‑M], und ein­er, in der es maskulin/feminin ist [Deutsch-FM]. Weit­er­hin wäre es dann inter­es­sant, ob diese bei­den Vari­etäten gle­ich­mäßig über männliche und weib­liche Sprecher/innen verteilt wären, oder ob Deutsch-FM häu­figer von Frauen gesprochen wird. Aus der Psy­cholin­guis­tik wis­sen wir, dass Män­ner das „gener­ische Maskulinum“ häu­figer als tat­säch­lich­es Maskulinum inter­pretieren als Frauen. Bish­er habe ich mir das so erk­lärt, dass Män­ner eben bei Maskuli­na nie darüber nach­denken müssen, ob sie mit­ge­meint sind, Frauen dage­gen sehr wohl. Es kön­nte aber auch daran liegen, dass Genus im Deutsch-FM weniger starr ist als im Deutsch‑M. Allerd­ings müsste man dann im Deutsch-FM auch Sätze wie Der Arzt hat ihr Stethoskop vergessen mit ein­er Inter­pre­ta­tion sagen kön­nen, bei der sich ihr auf der Arzt bezieht – was mir zweifel­haft (aber nicht aus­geschlossen) erscheint.]

33 Gedanken zu „Wer ist maskulin, wer ist feminin?

  1. Sophia

    Als ich in ‘jen­em’, oben erwäh­n­ten Blog­a­r­tikel das Beispiel las: “wer hat ihren Bleis­tift liegen gelassen?” assozi­ierte ich folgendermaßen:
    Wer hat den Bleis­tift [ein­er weit­eren weib­lichen 3. Per­son, also nicht den eige­nen] liegen gelassen?

    Das war dann wohl ein weniger ein­leuch­t­en­des Beispiel für einen Sprach­wan­del, den A.S beschreibt und mit authen­tis­chen Beispie­len belegt.

    Thanks für den kleinen erk­lären­den Gedankenausflug!

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  2. Statistiker

    @ Sophie: Zwei Dumme, ein Gedanke

    Hab heute fol­gen­des gelesen:

    http://evidentist.wordpress.com/2013/04/17/feministische-sprachmagie/

    Da hab ich mir das gle­iche gedacht: Das Beispiel “Wer hat SEINEN Bleis­tift liegen­ge­lassen” kann man doch get­rost durch “Wer hat DEN Bleis­tift liegen­ge­lassen” ersetzen.

    Manchen Sprach­nör­glern fehlt es offen­bar an Gehirn­schmalz, an solche For­mulierun­gen zu denken.…

    Naja, man kämpft im Kleinen und kein­er will es akzep­tieren.…. “Das ver­ste­ht Oma ja nicht” heißt es bei jedem Anglizis­mus. Dass man Oma damit für strun­z­dumm erk­lärt, merkt nicht mal Oma.…..

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  3. tE

    > Beson­ders inter­es­sant ist hier das Beispiel (9), da es sich […] zwin­gend auf Frauen bezieht,

    Stimmt ver­mut­lich damit übere­in, wie es im Orig­i­nal gemeint war, aber Zisnormativität.

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  4. Sophia

    Zwei Dumme…” mag ich ja noch akzep­tieren, aber mit der Fol­gerung “…ein Gedanke” tue ich mir schw­er, @Statistiker.

    Ich empfinde Gedanken, ja: Denken über­haupt — gerne frei und weit — sel­ten als per se nörgelnd.
    Ich liebe es ger­adezu, meinen Geist zum Wei­t­er­denken angeregt zu sehen durch kluge Köpfe wie A.S., der mir immer wieder belegt, dass der gedankliche Trab inner­halb bes­timmter Kon­ven­tio­nen und Gren­zpfählen zwar oppor­tun, aber nicht annäh­ernd so bere­ich­ernd, inspiri­erend ist, wie der Blick über Kon­ven­tio­nen, Gren­zen hinweg.

    Und wenn diese gedanklichen Ritte über kon­ven­tionelle Hür­den hin­weg dann stat­tfind­en auf sat­ten, grü­nen, sach­lich fundierten Wiesen und unter einem Wind, der mir human, Rich­tung Gerechtigkeit, Gle­ich­berech­ti­gung [auch jen­seits von Fem­i­nis­mus] strebend um die Ohren weht, dann reite ich gerne gedanklich mit und ver­lasse Kon­ven­tion und eingezäumtes Terrain…und sei es, um für einen Moment weit zu denken, weit­er, als ich “Dumme” selb­st, allein, vermag.

    Außer­dem liebe ich Sprache. Und Wan­del. Auch gerne Sprachwandel.

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  5. Evanesca Feuerblut

    Finde ich insofern inter­es­sant, als mal eine Dozentin dem Kurs von ein­er Radikalfem­i­nistin erzählt hat, die statt “wer” immer “welche” gesagt hat — und damit die Män­ner im Audi­to­ri­um auss­chloss — da sie “wer” für ein Maskulinum gehal­ten hat.

    Und was den Sprach­wan­del durch Frauen ange­ht — so käme ich mir schlicht und ergreifend irgend­wie merk­würdig vor, wenn ich schreiben würde “Wer von meinen Pyjama­partygästen hat seinen BH bei mir vergessen?” Es ist zwar nicht sehr wis­senschaftlich, aber der Satz fühlt sich ein­fach nicht gut an. Also würde ich schreiben “Wer von meinen Pyjama­partygästen hat ihren BH bei mir vergessen?” Denn natür­lich kann kein “er” sowas vergessen haben *g* (wobei Aus­nah­men die Regel bestätigen).
    Es muss also nicht mal zwin­gend ein bewusst sprach­lich­er Vor­gang sein. Ein ein­fach­es “der Satz fühlt sich komisch an” reicht, um aus “seinen” ein “ihren” zu machen.

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  6. Martin

    Inter­es­sant. Bei uns an der Uni wurde in einem Sem­i­nar mal beiläu­fig erwäh­nt, dass “wer“ maskulin sein soll, was mich allein schon deswe­gen irri­tiert hat, weil ich es nicht ein­leuch­t­end fand, dass ein Inter­rog­a­tivpronomen über­haupt ein Genus haben kann (was wäre denn z.B. mit “wessen“ oder “wem“, wo es gar keine Neu­trum­form gibt?). Mir stellen sich ger­ade zwei Fra­gen: erstens, damit die Argu­men­ta­tion, dass “wer“ maskulin ist bzw. war und hier ein Sprach­wan­del stattge­fun­den hat, funk­tion­iert, müssten die Beispiele mit fem­i­ninem Bezug ja rel­a­tiv neu sein, oder? Sind sie das auch? Und zweit­ens, wie ist denn das dann in den anderen Fällen, denn ich tue mich ger­ade schw­er, in den anderen drei Fällen Beispiele zu kon­stru­ieren, in denen ein Inter­rog­a­tiv- und ein Pos­ses­sivpronomen zusam­men auftreten (außer vielle­icht sowas wie “wem ist sein/ihr Auto gestohlen wor­den?“ oder so). Haben dann einige Pronom­i­na ver­schiedene Gen­era und andere nicht?

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  7. flux

    Dazu fällt mir der vor immer­hin fast 30 Jahren gehörte Satz ein: Jemand hat ihren Lip­pen­s­tift in der Damen­toi­lette liegen lassen.
    Da stört immer noch das “Jemand”
    Was wäre eine Alternative?

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  8. Erbloggtes

    Pri­ma Analyse, finde ich! Danke schön! Meine Intu­ition besagte, dass das “wer” nicht Träger des Genus ist. Das Genus wird erst durch “seinen” fest­gelegt. Wer das Genus bewusst offen lassen will, muss fragen:
    “Wer hat einen Bleis­tift hier liegen gelassen?” oder “Wer hat den Bleis­tift liegen gelassen?”
    Wer hinge­gen nur Frauen ansprechen will, darf offen­bar (ohne missver­standen zu wer­den) heute fra­gen: “Wer von euch hat ihren Bleis­tift vergessen?”

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  9. Patricia

    Finde die Beispiele in den Kom­mentaren ganz span­nend, ja zum Beispiel mit “wessen”. Da wird nich disku­tiert, welch­es Genus dieses trägt.
    Liegt da vielle­icht bei vie­len Sprachkritiker*innen eine Pseu­doe­t­y­molo­gie vor? Von wegen “wer” klingt ähn­lich wie “er”? Ich bin keine HISTORISCHE Lin­guistin, kann es also wed­er beja­hen noch verneinen. Aber kommt so die Frage vielle­icht zustande?
    Für mich wären auch Inter­rog­a­tive erst­mal neu­tral. und wie Erblog­gtes sagte, dasserst die referieren­den Pronomen den Unter­schied machen? Für Per­so­n­en scheint ja vieles möglich zu sein, wenn auch mit sub­jek­tiv gefühlten Abstrichen.

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  10. Jürgen A.

    @Evanesca: Du beschreib­st sehr schön die Intu­ition in konkreten gen­der­spez­i­fis­chen Kon­tex­ten, dass der gram­ma­tis­che Genus (fem­i­nin) den Sexus (weib­lich) zum Aus­druck brin­gen soll. “Sein BH” hört sich tat­säch­lich schrill an! Die Radikalfem­i­nistin, die lieber das Frage­pronomen “wer” erset­zen möchte, weiß offen­bar nicht, dass es neben dem gram­ma­tis­chen Kon­gruen­zprinzip auch ein konkur­ri­eren­des seman­tis­ches gibt (“Das junge Ding zog ihre Bluse aus.”) Die Unfähigkeit, zwis­chen Sexus und Genus zu unter­schei­den teilt sie iro­nis­cher­weise mit den struk­tur­reak­tionären Sprach­be­wahrern, die ja auch son­st das gram­ma­tis­che Kon­gruen­zprinzip fetischisieren.

    Die Lösung für das Geschlechter­prob­lem kann nur so sein, wie die Sprache selb­st, näm­lich prag­ma­tisch. D.h.: den sex­uellen Unter­schied dort markieren und sicht­bar machen, wo er zählt und dort einzueb­nen, wo er nicht zählt. Das gener­ische Maskulinum ist über­all dort kein Prob­lem, wo es wirk­lich gener­isch ist, also keine sex­uellen Stereo­typen ver­stärkt. Unser Bun­deskan­zler heißt Merkel. Where is the prob­lem? (Ich meine sprachlich …)

    @AS: Danke für die vie­len erhel­len­den Belege. Klein­er Hin­weis: Auch Satz 9 (“Wer hat­te seine Peri­ode?”) ist ein Beispiel für den gener­ischen (unmarkierten) Gebrauch des masku­li­nen Pos­ses­sivpronomens; sog­ar ein beson­ders ein­deutiges, da die nicht­gener­ische (markierte) Inter­pre­ta­tion schon im Satz selb­st aus­geschlossen wird.

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    1. Anatol Stefanowitsch Beitragsautor

      Nein, das kann kein gener­isch­er Gebrauch sein, denn der Satz kann unter keinen* Umstän­den als auf Män­ner bezo­gen inter­pretiert wer­den. [* d.h., solange wir von ein­er cis-nor­ma­tiv­en Inter­pre­ta­tion (siehe Kom­men­tar von tE oben) ausgehen.]

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  11. Jürgen A.

    @Martin und @Erbloggtes: Ich hat­te schon ein Post­ing begonnen, wo ich so wie ihr argu­men­tieren wollte. Bis ich mir das Beispiel 9 von AS noch ein­mal genauer ange­se­hen habe: “Wer von euch hat­te seine Peri­ode?” Dieser Satz und andere wie “Wer hat seinen (??ihren) Lip­pen­s­tift vergessen?” sind nur möglich, wenn die seman­tis­che Genuszuweisung (der Kon­text ist nicht gener­isch!) durch ein konkur­ri­eren­des Prinzip block­iert wird, und das kann nur die gram­ma­tis­che Genuszuweisung durch “wer” sein.

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  12. Erbloggtes

    @Jürgen A.: Ich ver­ste­he lei­der man­gels Fachken­nt­nis­sen nicht, was Du zu erk­lären ver­suchst. Mein Ein­druck ist, dass “wer” maskulin­is­ch­er Herkun­ft ist, sich aber im Sprachge­brauch derzeit zu einem Utrum (ein tolles Wort, das ich vorher noch nie gehört habe) entwickelt.

    Antworten
  13. Jürgen A.

    @Erbloggtes: Ich ver­such es, ganz ein­fach zu erk­lären (was nicht ganz ein­fach ist). Also: Wenn du eine Frau siehst und du sie deinem Fre­und zeigen willst, deutest du auf sie sagst: “Schau mal, wie sie lächelt!” Hier musstest du auf keine gram­ma­tis­che Regel acht­en, also wählst du ganz natür­licher­weise die fem­i­nine Form “die”. Wenn das “wer” in dieser Hin­sicht völ­lig neu­tral wäre, dann dürfte es nur fem­i­nine For­men geben (“Wer hat ihre Tage?”). Das ist aber nicht der Fall.

    Zum Utrum: Ich fürchte, das ist falsch. “Wer” ist näm­lich eigentlich sowohl maskulin als auch neu­tral (weil “sein-” eben bei­des ein­schließt). Nimmt man jet­zt noch fem­i­nin dazu, bekommt man als Ergeb­nis nicht ein Utrum — das schließt die Neu­tralen aus -, son­dern eine genus­lose Form.

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    1. Anatol Stefanowitsch Beitragsautor

      Erstens: Was genau ist an „in eini­gen Zusam­men­hän­gen ver­hält es sich wie“ missver­ständlich? (Ern­st­ge­meinte Frage).

      Zweit­ens: Nein, wer ist nicht „sowohl maskulin als auch neu­tral“, da *Wer ohne Sünde ist, das werfe den ersten Stein – ana­log zu Welch­es Kind ohne Sünde ist, das werfe den ersten Stein ein­deutig ungram­ma­tisch ist (anders als Wer ohne Sünde ist, die werfe den ersten Stein, ein Satz, der wenig­stens für diejeni­gen Sprecher/innen gram­ma­tisch ist, die fem­i­nine Ana­phern zulassen). Wieder so ein Zusam­men­hang, in dem sich wer wie ein Utrum verhält.

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  14. Vytautas

    Das Inter­rog­a­tivpronomen bewahrt einen Zus­tand aus (vor-)indogermanischer Zeit, als man “ani­mat — inan­i­mat” unterschied.

    Als sich “ani­mat” in “fem­i­nin” und “maskulin” aufteilte, entwick­elte man für die anderen Pronomen entsprechende Fem­i­nin­for­men, für das Frage­pronomen aber nicht.

    Wenn ich nichts überse­hen habe, entwick­el­ten bis­lang nur San­skrit (kā) und Gotisch (ƕo) eigene For­men, mit denen man speziell nach Frauen fra­gen kann.

    Antworten
  15. Evanesca Feuerblut

    @Jürgen: Seman­tis­ches Kon­gruen­zprinzip ist ein toller Fach­be­griff, danke. Dann weiß ich endlich, wie ich meine Intu­ition fach­lich erk­lären kann. Bin ja lei­der keine Sprach­wis­senschaft­lerin, son­dern lediglich eine kün­ftige Englis­ch/Ethik-Lehrerin mit Riesen­faible für Sprachen und Linguistik.

    @Vytautas: Und wieder was gel­ernt! Wie genau wurde denn sprach­lich zwis­chen belebt und unbelebt unterschieden?

    Antworten
  16. Leif Czerny

    Zum Bleis­tift: In “Wer hat seinen Bleis­tift hier liegen­ge­lassen?” Kann man das “seinen” nicht durch “einen” erset­zten, weil mit der Ver­wen­dung von “seinem” deut­lich gemacht wird, dass der Sprech­er jemand andern für die störende Posi­tion des Bleis­tift ver­ant­wortlich macht (nach den Maxi­men: Wenn’s mir nicht gehört, kann ich’s nicht ein­fach wegräu­men oder Jede® küm­mere sich um seinen Kram). Gram­ma­tisch ist das schon in Ord­nung, prag­ma­tisch passt’s nicht mehr. Das kann nur durch ganz andere For­mulierun­gen aufge­fan­gen werden.

    Antworten
  17. Jürgen A.

    @Anatol

    In “Wer ohne Sünde ist, der (*das) werfe den ersten Stein” hat “wer” die Funk­tion eines Rel­a­tivpronomens. Richtig, dort ist es ein­deutig maskulin. Es müsste aber zusät­zlich noch die Iden­tität von “wer” als Frage- und Rel­a­tivpronom­i­na bewiesen wer­den. Das halte ich für unmöglich, weil gram­ma­tis­che Wörter oft poly­funk­tion­al sind (siehe die Modalver­ben oder haben, sein und wer­den) und in den ver­schiede­nen Funk­tio­nen sich auch gram­ma­tisch und seman­tisch nicht iden­tisch verhalten. 

    Was passiert, wenn man das Beispiel in einen Frage­satz umformt?

    ??“Wer, der (*die/das) ohne Sünde ist, wird wohl den ersten Stein werfen?”

    Die Grammatikalität/Akzeptabilität dieses Satzes ist äußerst fraglich.

    Wer von euch, der/die/?das) ohne Sünde ist, möchte den ersten Stein werfen?”

    Ich kann mir dur­chaus vorstellen, dass sich ein Mäd­chen auf seine Gruppe mit dem Neu­trum bezieht — so wie Frauen auf ihre Gruppe mit dem Fem­i­ninum. Die Genuswahl ist hier nicht gram­ma­tisch, son­dern semantisch/pragmatisch gesteuert.

    Was genau ist an „in eini­gen Zusam­men­hän­gen ver­hält es sich wie“ missverständlich?”

    Utrum ist wie Genus eine gram­ma­tis­che Kat­e­gorie, aber der Unter­schied zwis­chen den Frage­pronomen “wer” und “was” ist ein seman­tis­ch­er (per­son­al vs. nicht­per­son­al). Zwis­chen Gram­matik und Seman­tik beste­ht keine 1:1‑Beziehung, obwohl es Schnittmen­gen und Zwis­chen­stufen gibt.

    Antworten
    1. Anatol Stefanowitsch Beitragsautor

      @Jürgen A.: Kön­nten Sie aufhören, Pseu­do­de­bat­ten zu führen? Ihre Beispiele zeigen, dass der Rück­bezug durch ein Neu­trum wed­er für Rel­a­tivpronomen noch für Frage­pronomen möglich ist, der Rück­bezug durch ein Fem­i­ninum aber dur­chaus. Damit ver­hält sich wer hier, wie ich gesagt habe, wie ein Utrum, egal, wie häu­fig Sie hier irgendwelche All­ge­mein­plätze über das Ver­hält­nis von Gram­matik und Seman­tik wiederholen.

      Antworten
  18. Jürgen A.

    @Anatol

    Nein, das kann kein gener­isch­er Gebrauch sein, denn der Satz kann unter keinen* Umstän­den als auf Män­ner bezo­gen inter­pretiert werden.”

    Gener­isch” heißt in den Ver­wen­dun­gen, die ich kenne, nicht nur “inkludierend”, son­dern v.a. “neu­tral­isierend”, “unspez­fisch”, mit einem Wort: “unmarkiert”. Das schließt die (schein­bare) Exk­lu­sion aus­drück­lich mit ein (“Sie ist unser bester Ingenieur.”)

    Siehe z.B.: http://de.wikipedia.org/wiki/Generisches_Maskulinum#Anwendung_des_generischen_Maskulinums

    Dieser “exk­lu­sive” Gebrauch des Maskulinums ist sog­ar das deut­lich­ste Merk­mal für die erfol­gre­iche Gram­matikalisierung zum gener­ischen Maskulinum. Der inkludierende Gebrauch ist die Zwis­chen­stufe (der Gram­matikalisierungskon­text), die diesen Schritt ermöglicht. Im exk­lu­siv­en Gebrauch ist das Band zwis­chen Inhalt (männlich) und Form (masku­lin­er Genus) endgültig durchtrennt.

    Erst wenn sich gram­ma­tisch masku­line For­men auch auss­chließlich auf Frauen beziehen kön­nen, sind sie wirk­lich geschlecht­sneu­tral. Welch­es andere Attrib­ut als “gener­isch” wäre denn passender?

    Antworten
    1. Anatol Stefanowitsch Beitragsautor

      @Jürgen A.: Inge­nieur kann sich auf Män­ner beziehen, Wer trotz Schwanger­schaft seine Peri­ode hat kann das nicht. Anson­sten sehen Sie sich an, was ich an anderen Stellen über das gener­ische Maskulinum gesagt und geschrieben habe.

      Antworten
  19. tE

    @Anatol:

    Finde eine der­ar­tige Zurken­nt­nis­nahme mein­er ‘poli­tis­chko­r­rek­t­nörgeli­gen’ Kor­rek­tive dur­chaus gut! Hof­fentlich wird mir verziehen, dass ich hier­bei wohlüber­legt auf “Dank“esformulierungen verzichte.

    Das primäre The­ma in diesem Faden inter­essiert mich zwar prinzip­iell, aber würde ich soviel dazu schreiben wie ich wollte, von den ver­meintlich pseu­doe­t­y­mol­o­gisch Motivierten und den diversen immer beliebten Gener­i­ka, wäre mir das ger­ade schon wieder viel zu belas­tend. Und nach­her würde ich damit noch alles hier ver­stopfen. Also bleibt das einzig wortre­iche mein­er­seits hier wohl dieser Beitrag.

    Antworten
  20. foobarbaz

    Für mich sind wed­er »Wer hat seinen BH vergessen?« noch »Wer von Euch hat­te noch nie seine Tage?« ein Prob­lem. Vol­lkom­men akzeptabel.

    Antworten
  21. David

    Eine ähn­liche Daten­lage würde ich auch bei “jemand” u.dgl. erwarten.

    Kurz zu den Beispie­len 1.–3. und in 6.; ich sehe nicht, wieso diese Beispiele für die Klärung der Frage ein­schlägig sein soll­ten. Sie wären es, soweit ich sehe, nur dann, wenn die Kop­u­la Genuskon­gruenz zwis­chen Sub­jekt und Prädikat­snom­i­na­tiv ver­lan­gen würde, was sie aber generell nicht tut:

    (19) a. Diese Frau ist der rein­ste Segen
    b. Dieser Typ ist die rein­ste Pottsau

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  22. Crissov

    (5) ist irreführend, weil auch in (1)–(3) welch- nahezu syn­onym ver­wen­det wer­den kann. Das gilt aber nicht für alle Fra­gen, bspw. (6’): Wer/Was ist das?

    Pronomen sind übri­gens (neben Flex­ion und Movierung) dur­chaus ein Bere­ich, in dem man dem Deutschen einen sys­tem­a­tis­chen Sex­is­mus vor­w­er­fen kön­nte, allerd­ings würde ich nicht entschei­den wollen, zu Las­ten welchen Geschlechts: sein- funk­tion­iert ana­log mein‑, dein‑, kein- und ein-, während ihr- ziem­lich allein steht.

    Wer wird deshalb von manchen Sprach­wis­senschaftlern als genus­neu­tral bezeichnet.

    Genau genom­men muss man entschei­den, ob ein Wort ein (seman­tis­ches oder gram­ma­tis­ches) Geschlecht zeigt, trägt oder prägt. (Kom­bi­na­tio­nen sind häufig.)

    [(9)] Trotz­dem wird das masku­line Pos­s­esivpronomen seine verwendet.

    Es wurde wohl schon hin­re­ichend darauf hingewiesen, dass masku­line und männliche Pronomen nicht ein und das­selbe sind (und da fehlt ein ‹s›).

    Ein Aspekt fehlt der Diskus­sion übri­gens noch: die Plu­ralana­pher auf bzw. der Numerus von wer.

    PS: Genus ist ein Neutrum.

    Antworten
  23. foobarbaz

    @Anatol:

    Dann habe ich etwas missverstanden.

    Warum ist ein Beispiel wie »Wer hat­te noch nie seine Tage?« rel­e­vant? Nur weil das Pronomen for­mal maskulin ist? Warum ist das ein Argu­ment dafür, dass »wer« nicht gener­isch maskulin ist? Ich dachte immer, bei Gener­i­ka gin­ge es ger­ade darum, for­males Genus nicht mit natür­lichem Geschlecht zu ver­wech­seln, d.h. dass sowohl das »wer« als auch das »seine« ein­fach im neu­tralen Geschecht der Sprache ste­ht, so dass eine Frage nach der Möglichkeit ein­er Ver­wen­dung des – meines Empfind­en nach, for­mal tat­säch­lich falschen – weib­lichen Pronomens doch eigentlich keine Rolle spie­len dürfte. Wollte man tat­säch­lich sprach­lich her­vorheben, dass nur Frauen gemeint sind – das heißt Män­ner expliz­it auss­chließen –, so bleibt die ein­deutige For­mulierung »Welche von Euch hat­te noch nie Ihre Tage?«

    Habe ich also grundle­gend falsch ver­standen, dass gener­isches Maskulinum sich nicht auf Seman­tik, son­dern auf for­male Kri­te­rien bezieht, so dass diese Kon­gruenzbeispiele rel­e­vant werden?

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  24. Pingback: Netzfunde der letzten Tage (18.4.-21.4.) | "Nächstens mehr."

  25. Sebastian

    Nach der Lek­türe dieses Ein­trags und der Kom­mentare fiel mir Chris­t­ian Mor­gen­sterns Wer­wolf wieder ein — dieser geht zum Grab des Dorf­schullehrers, um sich beu­gen zu lassen. Ich dachte, das liefert vielle­icht weit­ere Indizien, denn: der Wer­wolf, des Weswolfs usw. klappt; bei Frau und Kind muss der Dorf­schullehrer (bzw. dessen Leiche) aber passen! Allerd­ings nicht, weil Mor­gen­stern erkan­nt hätte, dass es Wer nur im Maskulinum gibt; nein, es geht um Sin­gu­lar und Plur­al. Lei­der keine Hil­fe in dieser Frage, trotz­dem ein schön­er Sprachspaß!

    Nachzule­sen z.B. hier: http://meister.igl.uni-freiburg.de/gedichte/mor_c24.html

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  26. Sebastian

    PS: Ver­gle­ichend fällt mir dazu noch ein, dass man im Englis­chen den Rück­bezug in den Beispiel­sätzen in den Plur­al set­zen kann (wie mir in der Schule erk­lärt wurde, um die geschlechtliche Unbes­timmtheit des/der Beze­ich­neten auszu­drück­en), auch wenn wenn das Prädikat zu “who” im Sin­gu­lar ste­ht: Who has left their pen/bra/prostata can­cer brochure?

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  27. Sebastian

    PPS: Was würde eine (feministisch-)grammatische Analyse der fol­gen­den Beispiele ergeben?
    18. Wer sind die Frauen, die ihre Tam­pons über­all liegenlassen?
    19. Was sind das für Frauen?
    20. Diese Frauen sind der Gipfel! (oder: die Gipfelin?)

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  28. Mycroft

    Kann es sein, dass “Wer” vom Genus her (was ist eigentlich das Adjek­tiv zu “Genus”, “gener­isch” oder “genetisch” doch wohl nicht?) ein Neu­trum ist? Also wie “was”, nur dass sich “wer” vere­in­barungs­gemäß auf Per­so­n­en bezieht?
    “Wer hat seinen Stift hier liegen gelassen?” Mit “seinen” als neu­trales Possesivpronomen?

    Wobei ich es schon cool fände, wenn man im Deutschen ein Utrum einführte.

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