Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2013: ‑gate

Von Kristin Kopf

Das Cable­gate von 2010 (damals auch AdJ-Kan­di­dat) war vom Wort­ma­te­r­i­al her noch ein voll­ständi­ger USA-Import, das diesjährige Handy­gate hinge­gen zeigt mehr deutsche Anteile: Die deutsche Basis Handy verbindet sich mit der Endung -gate ‘Skan­dal’. Mit let­zter­er verbindet uns hier im Sprachlog eine innige Fre­und­schaft: Schon für das Jahr 2011 war sie nominiert und wurde gle­ich dop­pelt besprochen.

Ich reka­pit­uliere (s. Links oben): Im Anfang war der Water­gate scan­dal, benan­nt nach dem Water­gate-Kom­plex in Wash­ing­ton, D.C. Kurz kon­nte er auch ein­fach als Water­gate beze­ich­net wer­den. Der darin völ­lig bedeu­tungslose Namenbe­standteil -gate wurde dann im englis­chsprachi­gen Raum auf weit­ere Skan­dale über­tra­gen. Im deutschen Sprachraum gibt es neben den Skan­dal-Importen aus dem englis­chsprachi­gen Aus­land 1987 die Kon­t­a­m­i­na­tion Waterkant­gate, und dann auch eigen­ständi­ge Benennungen.

Unser -gate hat für den deutschen Wortschatz eine sehr ungewöhn­liche Funk­tion: Es han­delt sich um ein »onymis­ches Wort­bil­dungse­le­ment«, es wird also dazu genutzt, neue Eigen­na­men (Onyme) auf der Basis vorhan­den­er Wörter zu bilden. Jede Bil­dung auf -gate beze­ich­net also einen spez­i­fis­chen Skan­dal, den wir für benen­nenswert erachten.

So eine Benen­nung muss natür­lich nicht zwin­gend mit -gate erfol­gen, sie kann auch durch Zusam­menset­zung zweit­er Sub­stan­tive geschehen (Drey­fus-Affäre, Con­ter­gan-Skan­dal) oder metonymisch, ganz ohne sicht­baren Wort­bil­dung­sprozess stat­tfind­en (Tsch­er­nobyl, aber gemein­hin eher als Katas­tro­phe denn als Skan­dal bezeichnet).

Von Watergate zu Eierlikörgate

Die für uns span­nende Frage ist jet­zt, wie »lebendig« die Skan­dal­be­nen­nung mit -gate im Deutschen ist, oder, sprach­wis­senschaftlich gesprochen, wie pro­duk­tiv das Ele­ment ist.

Im Fall von Water­gate, Iran­gate, File­gate und Cable­gate haben wir es mit direk­ten Entlehnun­gen aus dem Englis­chen zu tun, sie kön­nen uns also nicht als Hin­wiese dienen. Solche über­nomme­nen Skan­dal­beze­ich­nun­gen wer­den ein paar­mal benutzt ((Im Schnitt 3,9‑mal, der Medi­an liegt bei 2.)) und tauchen bei größeren Skan­dalen vielle­icht auch noch ein paar Jahre später wieder auf — ihr Anteil (gelbe Kurve) ist aber rel­a­tiv gle­ich­bleibend. ((Was die Kurve genau dastellt: Wie viele ver­schiedene gate-Wörter pro Jahr in einem Zeitung­s­text zu find­en sind (»Types«), geteilt durch ihre Ver­wen­dung­shäu­figkeit (d.h. auch Mehrfachvorkom­men zählen mit, »Tokens«). Damit erfasst man in erster Lin­ie die englis­chen Bil­dun­gen, weil in der Überzahl.))

Bla

Pro­duk­tiv­ität von -gate im W‑Archiv des DeReKo ohne WDP/WDD.

Ich bin hier so vorge­gan­gen, wie Ana­tol am Mon­tag bei Cyber-. ((Meine Such­abfrage: “*gate OR *gates”; Tokens gesamt: 832, Types gesamt: 261, Erst­belege gesamt: 171, Erst­belege deutsch: 58. Belegzahlen vor 1992 zu ger­ing um Berück­sich­ti­gung zu find­en.)) Wie bei ihm, so ist auch bei mir die zweite, dunkel­rote Kurve wesentlich aus­sagekräftiger: Sie zeigt an, wie viele der im jew­eili­gen Jahr erst­mals vork­om­menden gate-Wörter tat­säch­lich im Deutschen gebildet wur­den. ((D.h. Basis ist ein deutsches Wört oder ein deutsch­er Orts- oder Per­so­nen­na­men.)) Dazu zählen im Kor­pus zum Beispiel Ners­ing-Gate, Bimbesgate, Weser­gate, Pau­li­gate und Dirndl­gate.

Wie immer sind die Zahlen hier recht klein ((58 deutsche Erst­belege. In der Grafik nicht dargestellte Tokens: 173.)), müssen also mit Vor­sicht inter­pretiert wer­den. Es zeigt sich, dass die Zahl der deutschen Neu­bil­dun­gen auf -gate im Unter­suchungszeitraum zwar schwank­end, aber kon­tinuier­lich steigt und momen­tan recht hoch liegt. ((Alle 5 DeReKo-Neu­bil­dun­gen von 2013 sind deutsch, daher der sich­er vergängliche 100%-Wert: Eier­likör­gate, Fäh­nchen-Gate, Krümel­gate, Stadtwerke-Gate, Tun­nel­gate.))

 Gates des Jahres

Im Wahlkampf wer­den gerne kleine Skan­dale pos­tuliert und große Skan­dale unter den Tisch gekehrt. Entsprechend gab es da ein Eier­likör­gate, das war da wo Stein­brück also bei so Leuten zu Besuch war und es Eier­likör gab und es dacht­en alle das wären ganz nor­male Leute und nach­her war die eine in der SPD und das war ein Skan­dal und der Men­sch logis­cher­weise unwählbar, weil halt.

Das ein­gangs erwäh­nte Handy­gate im Zusam­men­hang mit der NSA-Affäre (Merkels Handy wurde abge­hört und nie­mand wun­derte sich so recht darüber) ist wohl die Bil­dung, die 2013 die größte Ver­bre­itung fand. In den Zeitungs­dat­en des DeReKo ist sie lei­der noch nicht enthal­ten (gehen nur bis Sommer).

Das Jahr ganz knapp ver­passt hat Pofal­la­gate, dessen Per­son zwar eng mit dem Handy­gate ver­bun­den ist (okay, für ihn kam das dann wohl schon über­raschend), der aber erst am 2. Jan­u­ar (oder wars der 1.?) durch den eventuellen Wech­sel in den Bah­n­vor­stand von sich reden machte und damit seinen ganz indi­vidu­ellen Skan­dal bekam.

Der Wortbildungshotspot: Twitter

Schon vor zwei Jahren haben wir gese­hen, dass die gate-Skan­dale immer mehr an Bedeu­tung ver­loren, die Benen­nung zunehmend iro­nisch (und damit auch kur­zlebiger) wurde. So schrieb Suz:

Es ist nur eine Stich­probe — aber wir sind im Deutschen offen­bar von der großen Staat­saf­färe zum kleinen Kan­ti­nen­witz gewan­dert. Von Water­gate zu bajuwarischen Empörung über Krawat­ten? Also da gehört schon eine gehörige Por­tion Dra­maque­enge­quen­gel, aus Let­zterem sowas wie Ern­sthaftigkeit rauszule­sen. Außer­dem fehlt der heuti­gen Ver­wen­dung der Aspekt der Ursprungs­be­deu­tung bzw. der, die noch in den 2000er Jahren vorherrschend war, näm­lich das des Staatsskan­dals und des die Öffentlichkeit täuschen­den Vertuschens.

Beson­ders auf Twit­ter, und beson­ders im Umfeld der Piraten­partei hat sich -gate als Hin­weis auf ein eher unwichtiges Ereig­nis etabliert, um das viel Lärm gemacht wird — und manch­mal nicht ein­mal das.

Hier hat sich das Wort­bil­dungse­le­ment auch von sein­er Basis befre­it und tritt nun, ohne ein Name zu sein, als Gate ‘Pseu­doskan­dal; Ereig­nis, über dessen Bew­er­tung man sich uneinig ist’ auf. Weil sich Wortbe­standteile nicht gut suchen lassen, habe ich mir ersatzweise ein­mal dieses Sub­stan­tiv ange­se­hen. ((Suche nach #gate auf Deutsch.)) Für 2013 gabe es 35 Tweets, viele mit ein­er (selbst)ironische Lesart, z.B.:

Ab und an scheinen sich Tweets zwar auf von den Schreiben­den ern­stgenommene Ereignisse zu beziehen, aber das vor­freudi­ge Hän­dereiben hört man hier mit:

Die Bil­dung von gate-Wörtern dient ger­ade bei Twit­ter nicht der reinen Benen­nung, son­dern der Bew­er­tung und Abw­er­tung, der sub­jek­tiv­en Her­aushe­bung bes­timmter Ereignisse und der Erlan­gung oder Wahrung von Diskurshoheit.

In den Zeitun­gen hinge­gen, wo fast nur Ereignisse von größer­er Reich­weite zu -gates wer­den, scheint es eher darum zu gehen, eine grif­fige Beze­ich­nung zu haben, um einen Skan­dal bess­er ver­mark­ten zu kön­nen, die bew­er­tende Per­spek­tive bleibt (etwas) mehr im Hintergrund.

Fazit

Wir ste­hen also vor einem span­nen­den Para­dox: Die gate-Bil­dun­gen wer­den immer kur­zlebiger, weil sie oft unwichtige Ereignisse beze­ich­nen und so schnell wieder vergessen sind, wie sie aufkom­men. Ger­ade durch die Ausweitung auf Ereignisse von kurz­er Rel­e­vanz wird aber der Ein­satzbere­ich für -gate viel größer, es kön­nen also bedeu­tend mehr Bil­dun­gen entste­hen als zuvor, die Pro­duk­tiv­ität des Suf­fix­es steigt.

Ich würde ihm daher dieses Jahr eine echte Chance ein­räu­men: -gate nimmt in der Zeitungssprache zu, wenn die Zahlen auch klein sind, und es ist ein in bes­timmten, mein­er Ein­schätzung nach größer wer­den­den Kreisen stark ver­bre­it­etes Net­zphänomen. Die let­zte Nominierung vor zwei Jahren zeigt außer­dem, dass diese »Twit­ter­nutzung« keine ganz kurze Mode ist.

8 Gedanken zu „Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2013: ‑gate

  1. Daniel

    Die ‑gates nehmen zu, weil damit immer mehr nicht die hand­festen Skan­dale, son­dern Skandälchen, Pleit­en, Pech und Pan­nen beze­ich­net wer­den. Es ist eine Infla­tion (Auf­blähung) und damit Entwer­tung des Worts, halt wie beim Geld.

    Die Ausweitung der Bedeu­tung auf nicht erwäh­nenswerte Nichtereignisse ist natür­lich auch ein Sprach­wan­del. Ich würde aber trotz­dem ein Wort vorziehen, dass in einem pos­i­tiv­eren Sinn auffällt.

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  2. Pingback: tweets | 2014-01-16 | viola's blog

  3. Anatol Stefanowitsch

    Eine Suche auf Google News für “gate: site:de” in 2013–2014 liefert weit­ere Tre­f­fer (natür­lich nur die, die mit Binde­strich geschrieben wer­den, da Google nicht nach Wort­teilen sucht). Deutsche Wortstämme:
    Hand­taschen-Gate, Mops-Gate, Krümel­monster-Gate, Klo-Gate, Mut­ti-Gate, Brüder­le-Gate: englis­che Wort­stämme oder Eigen­na­men: Egg-Gate, Plu­na-Gate, Nan­ny-Gate, Antenna-Gate.

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  4. Anatol Stefanowitsch

    Und hier noch alle Binde­strich-Gates der ersten fün­fzig Seit­en Suchergeb­nisse auf Spiegel.de, sortiert nach früh­estem Vorkommen.

    2000: Leo-Gate
    2001: Sophie-Gate, Diplo-Gate
    2002: Wind­sor-Gate, Cherie-Gate, Blat­ter-Gate, Enron-Gate
    2004: Moni-Gate
    2005: Lip­pen-Gate, Nipple-Gate
    2006: Grabsch-Gate
    2007: Plame-Gate, Ango­la-Gate, Höschen-Gate
    2008: Sexy Pho­tos Gate, Telekom-Gate, Bla­go-Gate, Karma-Gate
    2009: Ore­gon-Gate, Gold­man-Gate, Flu­gi-Gate , Lasagne-Gate, Mur­doch-Gate, Face­book-Gate, Muffin-Gate
    2010: Boob-Gate, Bat­tery-Gate, Nip­ple-Gate, Crotch Shot-Gate, Woerth-Gate
    2011: Bat­tery-Gate, Karachi-Gate, Cable-Gate, Ruby-Gate
    2012: Skate­board-Gate, Geiz-Gate, Prantl-Gate, Biki­ni-Gate, Big-Bird-Gate, Tweet-Gate
    2013: Anten­na Gate, Dirndl-Gate, Reifen-Gate, Handy-Gate, CO2 Gate

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    1. Susanne Flach

      Wow. Was jet­zt nicht son wahnsin­nig gutes Licht auf die Deutsche Nachricht­en­sphäre legt, aber gut. 

      (-Gate hat’s dir offen­bar sehr angetan…)

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  5. Pingback: der anglizismus des jahres 2013 lautet: -gate | lexikographieblog

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