Archiv der Kategorie: Hintergrundberichte

Asylgegner und Asylbefürworter

Von Anatol Stefanowitsch

Eins der Unwörter, das mir in der Berichter­stat­tung über Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkün­fte bish­er ent­gan­gen ist, ist das Wort Asyl­be­für­worter. Tat­säch­lich kon­nte ich zunächst kaum glauben, dass es wirk­lich ver­wen­det wird, als ich es heute früh in diesem Tweet des MDR Sach­sen las:

Eine schnelle Recherche ergab dann aber, dass das Wort tat­säch­lich von den Medi­en ver­wen­det wird – nicht nur vom MDR, son­dern z.B. auch von der säch­sichen Freien Presse, von Spiegel Online, der Bild, dem Han­dels­blatt, dem Deutsch­land­funk und der Tagess­chau. Weit­er­lesen

Kandidaten für den Anglizismus 2014: Big Data

Von Anatol Stefanowitsch

Wie jedes Jahr im Jan­u­ar beteili­gen wir uns an der Wahl zum Anglizis­mus des Jahres, indem wir die Kan­di­dat­en der Endrunde auf ihre Tauglichkeit zum Sieger abklopfen. Bere­its abge­han­delt haben wir Social Freez­ing und Phablet, heute ist Big Data an der Reihe.

Das Wort Big Data beze­ich­net sowohl Daten­men­gen, die so groß sind, dass sie mit herkömm­lichen Meth­o­d­en nicht mehr hand­hab­bar sind, als auch die Spe­ich­er- und Rechen­meth­o­d­en, die zur Lösung dieses Prob­lems entwick­elt wur­den und wer­den (diese Bedeu­tun­gen find­en sich im Oxford Eng­lish Dic­tio­nary für das Englis­che, und unser Jury-Mit­glied Michael Mann hat sie im let­zten Jahr in sein­er Analyse auch für den deutschen Sprachge­brauch gefun­den – im Duden ste­ht das Wort noch nicht).

Big Data ist zum zweit­en Mal in der Endrunde für den Anglizis­mus des Jahres, ver­passte im let­zten Jahr aber deut­lich einen vorderen Platz (dafür lan­dete es bei der Wort-des-Jahres-Wahl auf Platz 5). Sehen wir uns an, inwieweit es den Kri­te­rien unseres Wet­tbe­werbs genügt und ob es vielle­icht in diesem Jahr ein aus­sicht­sre­ichen Kan­di­dat für das lexikalis­che Siegertrep­pchen ist. Weit­er­lesen

Ich steh’ an deiner Krippen hier

Von Kristin Kopf

Vielle­icht erin­nert sich ja die eine oder der andere hier noch an die lin­guis­tis­che Wei­h­nacht­slied­analyse anno 2008: Damals habe ich mir angeschaut, warum die Alten sun­gen und nicht san­gen und wieso die Kinder­lein kom­men sollen, nicht die Kindlein. In der diesjähri­gen Neuau­flage geht es um die Krip­pen, die uns dann nach eini­gen Schlenkern auch ver­rat­en wird, warum wir Elisen­le­bkuchen essen:

 Ich steh an dein­er Krip­pen hier,
O Jesulein, mein Leben,
Ich komme, bring und schenke dir,
Was du mir hast gegeben.
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn,
Herz, Seel und Muth, nimm alles hin,
Und laß dirs wohlgefallen.

(Und zum Anhören. Text: Paul Ger­hardt, 1656) ((Wer, wie ich, von der Melodie ver­wirrt ist: Da gibt es zwei.))

Jeder nur eine Krippe!

Ganz offen­sichtlich ist hier von nur ein­er Krippe die Rede — trotz­dem ste­ht da Krippen! Und beim weit­eren Durch­forsten des Lied­textes tauchen noch mehr solch­er Fälle auf:

Zur Seit­en will ich hie und dar / Viel weiße Lilien stecken

Suchst mein­er See­len Her­rlichkeit / Durch Elend und Armseligkeit

Was ist da los? Wenn wir die For­men nach der heuti­gen Gram­matik analysieren, ist alles klar: Weit­er­lesen

Am Jungwortbrunnen

Von Anatol Stefanowitsch

Das Jugend­wort des Jahres 2014 wurde gestern bekan­nt gegeben. Auch in diesem Jahr sind dem Sprachlog die Aufze­ich­nun­gen der Beratun­gen aus den Redak­tion­sräu­men des Wörter­buchver­lags Schlangenei­dt zuge­spielt wor­den, die wir im Fol­gen­den ungekürzt veröffentlichen.

In den Redak­tion­sräu­men des Wörter­buchver­lags Schlangenei­dt in München.

Anwe­send sind OBERLEXIKOGRAF DR. WILLHELM WORTWISPERER und ASSISTENZOBERLEXIKOGRAF SIEGFRIED SILBENSÄUSLER.

SILBENSÄUSLER. Wortwisper­er, Wortwisperer!

(STILLE)

SILBENSÄUSLER. Aufgewacht, Wortwisperer.

WORTWISPERER. Mor­bleu, Sil­ben­säusler, wie oft habe ich Ihnen gesagt, Sie sollen mich nicht beim Nach­denken stören! Weit­er­lesen

Die Moschee des Kolumbus

Von Anatol Stefanowitsch

Haben mus­lim­is­che Seefahrer Ameri­ka ent­deckt, wie es der türkische Min­is­ter­präsi­dent Erdoğan behauptet? Nein, natür­lich nicht. Die Ure­in­wohn­er Amerikas haben Ameri­ka ent­deckt, und zwar vor über fün­fzehn­tausend Jahren, als es noch keine Mus­lime gab. Aber, und das meint Erdoğan ja, haben mus­lim­is­che Seefahrer Ameri­ka vor Christoph Kolum­bus besucht? Erdoğans Beleg für seine Behaup­tung ist eine Moschee, die Kolum­bus ange­blich auf einem Hügel an der kuban­is­chen Küste gese­hen habe und die er in seinem Schiff­stage­buch erwähnt.

Die AFP-Pressemel­dung, die bish­er alle deutschen Medi­en ein­hel­lig über­nom­men haben (z.B. ntv), führt diese Behaup­tung auf einen „umstrit­te­nen Artikel“ des His­torik­ers Youssef Mroueh von 1996 zurück und berichtet, dass der mit sein­er Inter­pre­ta­tion von Kolum­bus’ Tage­buchein­trag nicht auf bre­ite Zus­tim­mung stößt: Weit­er­lesen

Wie Medien Wörter machen

Von Anatol Stefanowitsch

Sprache verän­dert sich nicht von alleine, son­dern sie wird von den Mit­gliedern der Sprachge­mein­schaft verän­dert. In jedem Gespräch kann es passieren, dass die vorhan­de­nen Ressourcen der Sprache nicht aus­re­ichen, um unsere Gedanken wiederzugeben. Oder, dass uns die vorhan­de­nen Ressourcen nicht gefall­en, z.B. weil wir Sprach­nör­gler sind und keine englis­chen Lehn­wörter mögen, oder weil wir anständi­ge Men­schen sind und diskri­m­inierende Sprache ver­mei­den wollen. In solchen Fällen kön­nen wir alle kreativ wer­den und dem Wortschatz eigene Erfind­un­gen hinzufü­gen oder eine gram­ma­tis­che Regel ein kleines biss­chen erweit­ern. Und es kann immer passieren, dass solche Neuerun­gen sich aus­bre­it­en und Teil des all­ge­meinen Sprachge­brauchs werden.

Das ist natür­lich vor allem dann der Fall, wenn wir mit ein­er einzi­gen Sprech­hand­lung möglichst viele Men­schen erre­ichen: Ein­er der Helden der deutschen Sprach­nör­g­lerge­meinde ist der Sprach­purist Philipp von Zesen (1619–1689), der für eine große Zahl erfol­gre­ich­er Ein­deutschun­gen von (meist franzö­sis­chen, griechis­chen und lateinis­chen) Lehn­wörtern ver­ant­wortlich ist – ihm zugeschrieben wer­den zum Beispiel die Wörter Abstand (statt Dis­tanz), Bücherei (statt Bib­lio­thek), Mundart (statt Dialekt) und Weltall (statt Uni­ver­sum). Dass er bei der Ver­bre­itung dieser Wörter – anders als die heuti­gen Sprach­puris­ten vom Vere­in Deutsche Sprache – so erfol­gre­ich war, lag daran, dass er wenig Zeit damit ver­brachte, diese Ein­deutschun­gen in Form eines Fremd­wör­terindex oder ein­er Sprach­pan­sch­er-des-Jahres-Wahl zu propagieren, und rel­a­tiv viel Zeit damit, sie ein­fach zu ver­wen­den – und da er ein sehr pro­duk­tiv­er Schrift­steller und Über­set­zer war, erre­ichte er mit jed­er Ver­wen­dung ein großes Publikum.

Heute sind mit den Massen­me­di­en Play­er an der Sprachen­twick­lung beteiligt, gegen die Philip von Zesen wie ein Ama­teur wirkt. Eine große Presseagen­tur oder ein großer Ver­lag, wie, sagen wir mal, der Axel-Springer-Ver­lag, kön­nen Wörter erfind­en und inner­halb weniger Tage für eine Ver­bre­itung sor­gen, die eine Über­nahme in den all­ge­meinen Sprachge­brauch sehr viel wahrschein­lich­er macht als alles, was wir Kleinkom­mu­nizieren­den tun kön­nten um die Sprache mitzuen­twick­eln. Weit­er­lesen

Merkels versaute Raute

Von Anatol Stefanowitsch

Diese Woche twit­terte Julia Prob­st – bekan­nt durch ihren Twit­ter- Lip­pen­lese­di­enst bei Sportereignis­sen und ihren Aktivis­mus für Unter­ti­tel und gegen Cochlea-Implan­tate – fol­gen­den lin­guis­tisch faszinieren­den „Fun­fact“:

Fun­fact: Die #Merkel-#Raute bedeutet in #Gebär­den­sprache “Vagi­na”.

— Julia Prob­st (@EinAugenschmaus) 1. Okto­ber 2014

Merkels Raute

Merkels Raute

Nun ist Humor bekan­ntlich sehr indi­vidu­ell, und so lässt sich natür­lich nicht objek­tiv fest­stellen, ob dieser Fact tat­säch­lich „Fun“ ist. Es gibt ja Men­schen, die zum Beispiel Mario Barth lustig find­en, und die wären ver­mut­lich ganz aus dem Häuschen, wenn sich her­ausstellte, dass Merkel mit der für sie typ­is­chen Geste (siehe Abbil­dung links) seit Jahren unab­sichtlich bei jedem ihrer Auftritte das Wort „Vagi­na“ gebärdet. Wenn sie es in sub­ver­siv­er Absicht ganz bewusst täte, kön­nte vielle­icht sog­ar ich Humor darin erkennen.

Aber wir sind ja das Sprachlog, nicht das Lachlog, deshalb konzen­tri­eren wir uns auf die Frage, ob dieser (poten­zielle) Fun über­haupt „Fact“ ist. Weit­er­lesen

Des einen Language ist des anderen Leid

Von Anatol Stefanowitsch

Eigentlich nur aus Spaß und/oder Prokrasti­na­tion habe ich ger­ade getwit­tert, dass ich als Anglist natür­lich für die schot­tis­che Unab­hängigkeit sei, da eine größere Anzahl englis­chsprachiger Län­der ja die Wichtigkeit meines Fachge­bi­etes erhöhen würde. Daraufhin kam die Rück­frage, ob sich denn eine Unab­hängigkeit Schot­t­lands auf die Sprachen­twick­lung auswirken würde.

Das ist eine inter­es­sante Frage, auf die ich natür­lich keine defin­i­tive Antwort habe, die mich aber dazu inspiri­ert, zu Ehren des Ref­er­en­dums wenig­stens ganz kurz etwas über die Sprache und Sprach­si­t­u­a­tion in Schot­t­land zu schreiben. Weit­er­lesen

Reklame: Hell und klar

Von Kristin Kopf

Beim Herum­blät­tern in den Suchan­fra­gen, mit denen das Sprachlog so gefun­den wird, find­et man neben den immer­gle­ichen (»läng­stes wort deutsche sprache«, »läng­stes wort deutsch­land«, »läng­stes deutsches wort der welt« …) auch Fra­gen, die hier noch nicht beant­wortet wur­den. Zum Beispiel:

aus welcher sprache ist das wort reklame

Aus dem Franzö­sis­chen. Fer­tig. Aber hm, wenn wir ein wenig in sein­er Ver­gan­gen­heit herum­graben, wird es erst richtig span­nend — da taucht näm­lich jede Menge erwart­bare, aber auch uner­wartete Ver­wandtschaft auf!

Von der Reklame zur Reklamation

réclame wurde im Franzö­sis­chen vom Verb réclamer abgeleit­et, das neben ‘zurück­rufen’ auch ‘lock­en’ bedeuten kon­nte. Das Wort gelangte im 19. Jahrhun­dert ins Deutsche und gemeint war damit anfangs nur Wer­bung in Zeitun­gen. Bald fand es sich aber auch in weit­eren Anwen­dungs­bere­ichen — zum Beispiel im fol­gen­den Rant gegen schlechte Orch­ester­musik in Kurorten: Weit­er­lesen

Vom Beck und der Bäckerin

Von Kristin Kopf

Bei der deutschen Debat­te über geschlechterg­erechte Sprache geht es oft um eine bes­timmte Wort­bil­dungsendung: das -in. Es ist ein soge­nan­ntes »Movierungssuf­fix«, das aus ein­er Män­ner- eine Frauen­beze­ich­nung macht: Min­is­terin, Wirtin, Klemp­ner­in. Die männliche Form bildet also das Grund­ma­te­r­i­al, das durch einen Zusatz angepasst wird.

Das ist aber nicht die einzige for­male Beziehung, in der For­men für Män­ner und Frauen in ein­er Sprache zueinan­der ste­hen kön­nen! In der deutschen Sprachgeschichte gab es auch ein Muster, das keine der bei­den For­men als Voraus­set­zung für die andere nutzte. Wie das aus­sah, wohin es ver­schwun­den ist, wie man son­st noch Beze­ich­nun­gen für han­del­nde Per­so­n­en bilden kon­nte und was dem -in so wieder­fahren ist, will ich heute ein wenig beleucht­en. Weit­er­lesen