Archiv der Kategorie: Recherchen

Das dass, dass ein das ist

Von Kristin Kopf

Ich habe nun auch endlich ange­fan­gen, auf dem Handy mit Wis­chgesten zu “tip­pen”: Man zieht den Fin­ger ein­fach nur über die entsprechen­den Buch­staben, statt jeden einzeln anzu­tip­pen, und die Tas­tat­u­rapp rät, was gemeint ist. Das klappt ins­ge­samt sehr gut, auch wenn ich jet­zt dauernd darüber nach­denke, ob das Wort bekan­nt ist oder nicht — wenn nicht, muss ich es dann doch Buch­stabe für Buch­stabe eingeben. Ein Aspekt macht mich allerd­ings wahnsin­nig: Die Tas­tatur weiß ja nicht, wie häu­fig ein bes­timmter Buch­stabe hin­tere­inan­der benötigt wird. Sie weiß aber son­st jede Menge, z.B. wie häu­fig ich bes­timmte Wörter ver­wende (ein ger­ade erst gel­erntes schlägt sie z.B. in den näch­sten Minuten dauernd vor, selb­st wenn es von der Wis­chgeste her unwahrschein­lich ist) — und sie weiß, dass nach einem Kom­ma oft ein Neben­satz fol­gt. Und damit sind wir beim dass.

Auch hier hat die Tas­tatur zwei Optio­nen für eine Geste, dass und das. Der Satz mit dass ist ein Sub­junk­tion­al­satz (1), der mit das meist ein Rel­a­tivsatz (2), manch­mal auch ein ander­er Satz­typ (3, 4):

(1) Ich sehe, dass wir uns verstehen.

(2) Ich mag das Buch, das du mir geschenkt hast.

(3) Ich hoffe, das find­et sich.

(4) Ich finde das gut, das machen wir so!

2016-09-24-dassdasNun scheint mein­er Tas­tatur die Regel beige­bracht wor­den zu sein, dass nach Kom­ma ein dass-Satz fol­gt. Sehr viele das-Sätze, die ich schreibe — und das sind nicht wenige! — wer­den also fehler­haft und ich muss manuell nachko­r­rigieren. Rechts im Bild sieht man einen entsprechen­den Fall — hier wird mir nicht ein­mal das als Alter­na­tive ange­boten (in der grauen Zeile), dafür aber das Wort dass-das-Fehler, das es von mir gel­ernt hat, und das hier über­haupt nicht passt. Weit­er­lesen

Das Erbe des Arbeitsroboters

Von Kristin Kopf

Dieser Tage bin ich im früh­neuhochdeutschen Wörter­buch auf den Ein­trag ack­er­ro­bot ‘Fron­di­enst der Bauern’ gestoßen. Das hat mich etwas aus dem Konzept gebracht: Es geht um Arbeit und das zweite Wort sieht qua­si aus wie Robot­er, Zufall wird das kaum sein. Nun kam der Robot­er im 20. Jh. ins Deutsche, Früh­neuhochdeutsch sprach man aber zwis­chen 1350 und 1650 — das eine kann also nicht direkt vom anderen abstam­men. Also habe ich etwas in der Ver­gan­gen­heit herumge­graben, wo ich auf viel Plack­erei und arme Waisenkinder gestoßen bin: Weit­er­lesen

Public Viewing Of Public Viewing

Von Susanne Flach

Gestern begann in Frankre­ich die Fußball-Europameis­ter­schaft – mir wäre in den let­zten Wochen vor lauter dis­sertieren gar nicht aufge­fall­en, wie schnell die EM auf uns zukommt, wenn, ja wenn nicht die Alerts von Google zu „Anglizis­mus“ voll mit „Leichen­schauen“ gewe­sen wären. Tra­di­tionell haben wir zu Fußball-Großereignis­sen in den let­zten Jahren eher gelang­weilt ein­fach auf die Artikel im Sprachlog ver­linkt, die sich damit beschäfti­gen, dass pub­lic view­ing im (Amerikanis­chen) Englisch nicht eigentlich „Leichen­schau“ heißt, son­dern dass es das auch heißen kann, weil pub­lic view­ing ein all­ge­mein­er Begriff für das Ein- und Anse­hen von Din­gen durch die Öffentlichkeit ist (z.B. Regierungs­doku­mente, Exponate aus Kun­st, Geschichte oder Botanik, Flughäfen, Paraden ein­er Sport­mannschaft, sich selb­st in Sozialen Net­zw­erken oder eben halt Leichen). Das Argu­ment wird übri­gens nicht valid­er, wenn dann noch jemand sagt, es heiße streng genom­men auch nicht Leichen­schau, son­dern Auf­bahrung.

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Kulturelle Schlüsselwörter

Von Susanne Flach

Ich biete seit eini­gen Semes­tern eine wöchentliche Sprech­stunde an, in der sich Studierende und Mitarbeiter/innen zu ihren Kor­pus­pro­jek­ten berat­en lassen kön­nen. Das ist primär als tech­nis­che Beratung gedacht – aber es ist meist schw­er, diese Beratung von inhaltlichen Fra­gen zu tren­nen. Damit die Inspi­ra­tion nicht unge­hört im Büro ver­hallt, will ich das bei öffentlichem Inter­esse immer mal wieder auf­greifen. Mark Liber­man hat drüben im Lan­guageL­og ja auch sein Break­fast Exper­i­mentTM.
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Ta-Ta-ismus im Dschungel

Von Susanne Flach

Wer­bepause? Nicht wegschal­ten, bloß nicht wegschal­ten! Denn der Dschun­gel ist sog­ar für eine sprach­wis­senschaftliche Betra­ch­tung gut, die für alle von uns was bere­i­thält. ALLE! Für die, die den Dschun­gel lieben und für die, die ihn für den Unter­gang des guten Geschmacks hal­ten, für Men­schen, die Entlehnung­sprozesse fasziniert ver­fol­gen und sog­ar für diejeni­gen, die Anglizis­men scheiße find­en („Baha­haw­iepein­lich! Anglizis­mus voll falsch ver­wen­det!“). Seit Wochen – ach, was sage ich: seit Jahren! – ste­ht auf mein­er To-Do-Liste: „Beim näch­sten Dschun­gel: was zu ta schreiben!!DRÖLF!!!“. Denn wir wis­sen ja: Pub­lic­i­ty, Pub­lic­i­ty, Publicity!

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Flüchtlinginnen und Flüchtlinge

Von Anatol Stefanowitsch

Dass das Wort „Flüchtling“ bezüglich sein­er Wort­bil­dung und vor allem sein­er Ver­wen­dung im all­ge­meinen Sprachge­brauch nicht unbe­d­ingt abschätzig ist, habe ich ja im vor­ange­hen­den Beitrag gezeigt, aber anlässlich der Wahl zum Wort des Jahres greift mein Kol­lege Peter Eisen­berg (bis zu sein­er Emer­i­tierung an der Uni­ver­sität Pots­dam, also gle­ich um die Ecke, tätig), in der FAZ ein anderes poten­zielles Prob­lem an diesem Wort auf:

Inter­es­sant ist, dass „Flüchtlinge“ sich bei genauerem Hin­se­hen als poli­tisch inko­r­rekt erweist. Es han­delt sich um eine Per­so­n­en­beze­ich­nung im Maskulinum, die von der Bedeu­tung her eigentlich einem Fem­i­ninum zugänglich sein sollte wie bei „Denker/Denkerin“, „Dieb/Diebin“. Aber die Form „Flüchtlingin­nen“ gibt es nicht. [Eisen­berg]

Auf dieses Prob­lem hat schon im Okto­ber meine Kol­le­gin Luise Pusch in ihrem Blog hingewiesen:

Rein sprach­lich gese­hen sind aber die „Flüchtlinge“ dur­chaus ein Prob­lem, denn das Wort „Flüchtling“ ist — wie alle deutschen Wörter, die mit „-ling“ enden — ein Maskulinum, zu dem sich kein Fem­i­ninum bilden lässt. [Pusch]

Als Prob­lem betra­cht­en das bei­de, auch wenn sie bezüglich ein­er möglichen Lösung zu unter­schiedlichen Ergeb­nis­sen kom­men: Pusch greift Sascha Lobos Vorschlag auf, das Wort Ver­triebene zu nehmen, oder ein anderes aus einem Par­tizip gebildetes Wort, wie Geflüchtete, Geflo­hene oder Willkommene. Diese Wörter kön­nen männlich (der Ver­triebene) oder weib­lich (die Ver­triebene) sein, im Plur­al (die Ver­triebe­nen) sind sie sog­ar geschlechtsneutral.

Eisen­berg kann sich mit dieser Lösung nicht anfre­un­den, denn er sieht an „willkür­lichen Norm­set­zun­gen“ wie Geflüchtete ein ungelöstes „Kern­prob­lem“:

Die bei­den Wörter bedeuten nicht das­selbe. Auf Les­bos lan­den Tausende von Flüchtlin­gen, ihre Beze­ich­nung als Geflüchtete ist zumin­d­est zweifel­haft. Umgekehrt wird auch ein aus der Advents­feier Geflüchteter nicht zum Flüchtling.

Das Deutsche ist so bil­dungsmächtig, dass man sich andere Wörter als Ersatz vorstellen kann: Ver­triebene, Geflo­hene, Zwangsem­i­granten, Enthei­matete und viele weit­ere, von denen eins schön­er ist als das andere. Aber es bleibt dabei: Sie alle bedeuten etwas anderes als Flüchtlinge. [Eisen­berg]

Über­haupt ist er geziel­ter Sprach­pla­nung gegenüber skep­tisch: „Die Sprache wird nicht akzep­tiert, wie sie ist, son­dern sie gilt als manip­ulier­bar­er Gegen­stand mit unklaren Gren­zen dieser Manipulierbarkeit.“

Eisen­berg und Pusch gehören bei­de zu den Sprachwissenschaftler/innen, die mich am stärk­sten geprägt haben, aber in diesem Fall bleiben sie mir bei­de etwas zu sehr an der Ober­fläche der zugrun­deliegen­den sprach­lichen Phänomene. Sehen wir uns das Prob­lem also genauer an.

Kein Femininum zu Flüchtling

Eisen­berg und Pusch sind sich einig, dass es zum masku­li­nen Flüchtling kein fem­i­nines Gegen­stück gibt. Pusch stellt das als Tat­sache lediglich fest, Eisen­berg geht einen Schritt weit­er und liefert eine sprach­wis­senschaftliche Begrün­dung dafür, dass die Bil­dung Flüchtlingin „aus­geschlossen“ sei. Er erk­lärt, dass die Suf­figierung (also das Anhän­gen von Nach­sil­ben an Wörter) bes­timmten Regeln fol­gt, speziell, dass dabei eine gewisse Rei­hen­folge einzuhal­ten sei. Das kann zum (wort­bild­ner­ischen) Prob­lem wer­den, wenn zwei Ele­mente in dieser Rei­hen­folge die gle­iche Posi­tion einnehmen:

Es kommt vor, dass in ein­er solchen Hier­ar­chie zwei Suf­fixe sozusagen par­al­lel geschal­tet sind und dann nur alter­na­tiv auftreten, niemals aber gemein­sam, egal in welch­er Rei­hen­folge. Das gilt für ‑in und ‑ling. Bei­de bilden im Gegen­warts­deutschen Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen, das eine Maskuli­na, das andere Fem­i­ni­na. Das Sys­tem sieht sie als miteinan­der unverträglich an. [Eisen­berg]

Es gebe eben Fälle, so Eisen­berg weit­er, „in denen das Sprach­sys­tem die vielle­icht ver­bre­it­et­ste Form des Gen­derns nicht zulässt“, und das müsse „jed­er, der auf diesem Gebi­et tätig wird, wis­sen und akzeptieren“.

Auch die sprachre­formerisch nicht ger­ade zurück­hal­tende Luise Pusch weiß und akzep­tiert das ja, aber stimmt es eigentlich? Spricht tat­säch­lich ein tiefliegen­der sprach­sys­temis­ch­er Grund dage­gen, an Maskuli­na mit -ling zusät­zlich das fem­i­nine Suf­fix -in zu hängen?

Ein kurz­er Blick in die jün­gere Sprachgeschichte zeigt, dass das nicht der Fall ist. Im Deutschen Textarchiv find­en sich rund 50 Tre­f­fer für Wörter, die bei­de Nach­sil­ben kom­binieren – am häu­fig­sten Lieblin­gin, gefol­gt von Läu­flingin, Flüchtlin­gin und Fremdlin­gin, aber auch Neulin­gin, Schüt­zlin­gin, Täu­flingin u.a.:

  1. Seit jhr so eine Frem­b­dlin­gin in der Welt / daß jhr das nicht wis­set? antwortete Santscho Panssa. [1648]
  2. Die Novi­tiatin oder Neulin­gin tra­gen zum Gedaͤchtniß der Unſchuld des Selig­mach­ers ein weiſſes Scapuli­er. [1715]
  3. Es ward ihm aufgegeben, die Fluͤchtlingin einzu­holen, nach­dem ihre Flucht und ihr grober Diebſ­tal zu jed­er­manns Wiſſenſchaft drang. [1779]
  4. Kommt mein Sohn Paris, wie mein väter­lich­er Wunſch iſt, glück­lich nach Tro­ja zurück, und bringt er eine ent­führte Griechin mit ſich, ſo ſoll euch dieſe aus­geliefert wer­den, wenn ſie anders nicht als Flüchtlin­gin unſern Schutz anfle­ht. [1839]
  5. Täu­flingin hat­te, während ihr das Mützchen gelöſt ward, dreimal kräftig genieſt: item, ſie war ein Weltwun­der von Geiſt und Gaben; [1871]
  6. Sie ſehen in mir die Abkömm­lin­gin eines Geſch­lecht­es, das ſich ſeit hun­dert Jahren nur von Frauengut und ohne jede andere Arbeit oder Ver­di­enſt erhal­ten hat, bis der Faden endlich aus­ge­gan­gen iſt. [1882]

Die Tre­f­fer reichen bis ins späte 19. Jahrhun­dert hinein, und sie stam­men von Autor/innen, deren Kom­pe­tenz bezüglich der deutschen Sprache außer Frage ste­ht, darunter Gus­tav Schwab (Bsp. [4]) und Got­tfried Keller (Bsp. [6]).

Die bei­den Nach­sil­ben haben keine nen­nenswerte Bedeu­tungsverän­derung erfahren, aus der sich die Verän­derung in ihrer Kom­binier­barkeit erk­lären würde – es ist also nur ein his­torisch­er Zufall, dass sie derzeit nicht gemein­sam vorkom­men können.

Solche Zufälle gibt es auch ganz ohne das Suf­fix -ling: die fem­i­nine Form Gästin, zum Beispiel, ist im Deutschen Textarchiv bis ins frühe 18 Jahrhun­dert belegt, klingt aber heute im all­ge­meinen Sprachge­brauch merk­würdig bis falsch. ((Das Wort erlebt aber möglicher­weise ein Come­back – Im Google-Books-Kor­pus zeigt sich seit Mitte des let­zten Jahrhun­derts ein Aufwärt­strend und der Duden hat Gästin 2013 offiziell aufgenom­men)) Da es keine tiefer­ge­hen­den Gründe für die derzeit­ige Nicht-Kom­binier­barkeit der Suf­fixe gibt, kann dieser Zus­tand dur­chaus vorüberge­hend sein – wenn die Sprecher/innen des Deutschen aufge­hört haben, diese Nach­sil­ben zu kom­binieren, kön­nen sie auch wieder damit anfangen.

Ist der Flüchtling überhaupt männlich?

Aber wäre es über­haupt ein Prob­lem, wenn die Nach­sil­ben unkom­binier­bar und der Flüchtling damit ein reines Maskulinum bliebe? Im Prinzip nicht, und die Gründe dafür liegen in ein­er Funk­tion­sweise men­schlich­er Sprachen, die auch weit­er unten noch ein­mal rel­e­vant wird: Wörter erhal­ten ihre Bedeu­tung nicht (bzw. nicht auss­chließlich) aus sich selb­st her­aus, son­dern zu einem großen Teil durch ihre Oppo­si­tion zu ähn­lichen Wörtern: Die Wörter Stuhl und Ses­sel unter­schei­den sich in ihrer Bedeu­tung, eben weil es zwei Wörter für Sitzgele­gen­heit­en gibt: im Englis­chen gibt es für bei­des nur das Wort chair, das – anders als die deutschen Wörter — harte und weiche Sitzmö­bel gle­icher­maßen bezeichnet.

Die meis­ten Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen im Deutschen haben eine masku­line und eine fem­i­nine Form, und aus dieser Oppo­si­tion ergibt sich die Bedeu­tung „männlich“ und „weib­lich“. Wörter, die in kein­er solchen Oppo­si­tion ste­hen – der Men­sch, die Per­son und eben auch der Flüchtling – sind im Prinzip geschlechtsneutral.

Lei­der nur im Prinzip, denn ganz so ein­fach ist es dann doch nicht, wie Luise Pusch schreibt:

Diese masku­li­nen Beze­ich­nun­gen [„Flüchtling“, „Lehrling“, „Täu­fling“, „Säugling“ usw.] ver­drän­gen Mäd­chen und Frauen aus unserem Bewusst­sein; sie lassen in unseren Köpfen automa­tisch Bilder von Jun­gen oder Män­nern entstehen.“

Das stimmt unglück­licher­weise, es liegt aber an einem Prob­lem, für das die Sprache nur teil­weise etwas kann: an ein­er kul­turell bed­ingten kog­ni­tiv­en Verz­er­rung, die uns immer dann, wenn von Men­schen die Rede ist, davon aus­ge­hen lässt, dass Män­ner gemeint sind, solange nicht expliz­it das Gegen­teil kom­mu­niziert wird. Dieser Verz­er­rung mögen wir uns nicht bewusst sein, sie ist aber dutzend­fach exper­i­mentell nachgewiesen, sie greift schon bei Kindern und existiert in allen bish­er unter­sucht­en Kul­turen – auch solchen, in deren Sprachen Geschlecht nie oder nur aus­nahm­sweise markiert wird.

Das Wort Flüchtling selb­st ist also nicht ver­ant­wortlich für die stereo­typ männliche Bedeu­tung, die es aus­löst. Die all­ge­meine kog­ni­tive Verz­er­rung wird aber in abse­hbar­er Zeit nicht ein­fach ver­schwinden (damit das geschieht, müsste zuerst das Patri­ar­chat und die Erin­nerung daran ver­schwinden). Es kön­nte also nüt­zlich sein, eine gram­ma­tisch fem­i­nine, seman­tisch weib­liche Alter­na­tive für das Wort Flüchtling zu haben, mit der man dort, wo nötig, dieser Verz­er­rung ent­ge­gen­wirken könnte.

Also doch alternative Wörter für Flüchtling?

Solche Alter­na­tiv­en gibt es ja, wie oben disku­tiert, bere­its: Pusch und Eisen­berg nen­nen das von Lobo und anderen vorgeschla­gene Ver­triebene, das auch von der Wort-des-Jahres the­ma­tisierte Geflüchtete/r und dessen Vari­ante Geflo­hene, Eisen­berg außer­dem Zwangsem­i­granten und Enthei­matete. Sie alle wer­den bere­its ver­wen­det und haben maskulin-männliche und fem­i­nin-weib­liche For­men, wären also gute Alter­na­tiv­en – wenn sie nicht, wie Eisen­berg betont, andere Bedeu­tun­gen trans­portieren wür­den als Flüchtling.

Kann also keine dieser Alter­na­tiv­en das Wort Flüchtling erset­zen? The­o­retisch doch, denn auch hier greift das Prinzip der Oppo­si­tion: die Wörter bilden ein Wort­feld, in dem jedes der Wörter seine Bedeu­tung durch Bezüge und Abgren­zun­gen der anderen vorhan­de­nen Wörter erhält. Würde das Wort Flüchtling mit einem Mal ver­schwinden, wür­den eins oder mehrere der anderen Wörter den frei­w­er­den­den Bedeu­tungs­bere­ich mit abdeck­en. Wie ich im let­zten Beitrag beschrieben habe, zeigt das Wort Geflüchtete/r tat­säch­lich jet­zt schon erste Anze­ichen ein­er Aus­dehnung in den Bedeu­tungs­bere­ich von Flüchtling.

Schlussgedanken

Eisen­bergs Argu­men­ta­tion geht also an min­destens zwei Stellen impliz­it von ein­er sta­tis­chen Vorstel­lung von Sprache aus: erstens dort, wo er die derzeit­ige Nicht-Kom­binier­barkeit von -ling und -in als unverän­der­liche Eigen­schaft des Sprach­sys­tems darstellt und zweit­ens dort, wo er die Bedeu­tun­gen der Alter­na­tiv­en für Flüchtling als gegeben und eben­falls unverän­der­lich annimmt. Aus dieser angenomme­nen Sta­tik des Sys­tems ergibt sich zum Teil seine oben zitierte Kri­tik an denen, die die Sprache nicht so akzep­tieren, „wie sie ist“. Zum anderen Teil ergibt sie sich – ver­mute ich – aus dem in der Sprach­wis­senschaft weit ver­bre­it­eten Axiom, dass Sprache sich nicht von außen verän­dern lässt, son­dern sich nach eige­nen Geset­zmäßigkeit­en entwickelt.

Aber natür­lich „ist“ Sprache nie, sie ist zu jedem Zeit­punkt im Wer­den. Und natür­lich lässt sie sich in ihrer Entwick­lung bee­in­flussen: die Sprachge­mein­schaft hat eine Rei­he diskri­m­inieren­der Wörter aus dem all­ge­meinen Sprachge­brauch genom­men, sodass sie ganz ver­schwun­den oder in einzelne Sub­kul­turen abge­drängt wor­den sind.

Man kann – wie Eisen­berg, und wie auch ich – der Mei­n­ung sein, dass keine Notwendigkeit beste­ht, das auch mit dem Wort Flüchtling zu tun. Ich stimme ihm zu, dass die Bedeu­tungsvielfalt der Wörter im Wort­feld „Men­schen auf der Flucht“ eine Ressource zur Bedeu­tungs­d­if­feren­zierung ist, die wir nicht vorschnell aufgeben müssen und soll­ten. Das Prob­lem des Gen­derns wür­den wir allein mit ein­er Neube­wor­tung sowieso nicht in den Griff bekom­men, denn im schein­bar geschlecht­sneu­tralen Plur­al, in dem die Wörter typ­is­cher­weise ver­wen­det wer­den, käme ohne­hin die oben erwäh­nte kog­ni­tive Verz­er­rung wieder ins Spiel (bei die Geflüchteten denken wir zunächst genau­so sehr nur an Män­ner wie bei dem Wort die Flüchtlinge).

Aber man sollte die grund­sät­zlichen Möglichkeit­en und Notwendigkeit­en sprach­planer­isch­er Ein­griffe nicht mit dem Argu­ment abtun, das Sprach­sys­tem sei, wie es ist. Sprache ist, was ihre Sprachge­mein­schaft aus ihr macht.

Flüchtlinge zu Geflüchteten?

Von Anatol Stefanowitsch

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat in der Begrün­dung zu ihrer Wahl von Flüchtlinge zum Wort des Jahres am Rande the­ma­tisiert, dass das Wort „für sprach­sen­si­ble Ohren ten­den­ziell abschätzig“ klinge, und das deshalb „neuerd­ings … öfters alter­na­tiv von Geflüchteten die Rede sei. Es bleibe aber abzuwarten, ob sich diese Alter­na­tive „im all­ge­meinen Sprachge­brauch durch­set­zen“ würde. Der Vor­sitzende der GfdS, der Han­nover­an­er Sprach­wis­senschaftler Peter Schlobin­s­ki, wurde gegenüber der dpa deut­lich­er: „Ich glaube, dass Flüchtling let­ztlich bleibt, dass Geflüchtete keine Chance hat“.

Bei­de Fra­gen – ob Flüchtlinge einen neg­a­tiv­en Beik­lang hat und ob das Wort Geflüchtete (oder auch Flüch­t­ende) eine aus­sicht­sre­iche neu­trale Alter­na­tive wäre, stoßen auf anhal­tendes Inter­esse (der Sprachlog-Beitrag aus dem Jahr 2012 zu diesem The­ma gehört zu den am kon­tinuier­lich­sten abgerufe­nen, auch der Deutsch­land­funk hat in sein­er Berichter­stat­tung zum Wort des Jahres darauf ver­linkt). Ich möchte die Gele­gen­heit deshalb nutzen, diesen Beitrag um einige Per­spek­tiv­en zu ergänzen, die über die üblichen sub­jek­tiv­en Ein­drücke hin­aus­ge­hen, die die GfdS auch dieses Jahr anstelle sprach­wis­senschaftlich­er Analy­sen von sich gegeben hat. Weit­er­lesen

Wörterwahl mit Freudentränen

Von Anatol Stefanowitsch

Die Entschei­dung der Oxford Dic­tio­nar­ies, ein Emo­ji zu ihrem Wort des Jahres zu machen, begrüße ich selb­stver­ständlich (schließlich bin ich ja zumin­d­est neben­beru­flich der „Emo­ji-Pro­fes­sor“, wie mich eine Jour­nal­istin des Berlin­er Kuri­er gestern am Tele­fon begrüßte). Emo­ji sind ein wichtiger Teil der Online-Kom­mu­nika­tion gewor­den, und wozu son­st sollte eine Wörter­wahl gut sein, wenn nicht dazu, auf der­ar­tige Entwick­lun­gen hinzuweisen.

Auch, dass die Oxford Dic­tio­nar­ies bei der Entschei­dung, welch­es Emo­ji es denn sein soll, nach der Ver­wen­dung­shäu­figkeit gehen und das Freuden­trä­nen-Emo­ji 😂 gewählt haben, ist nachvol­lziehbar. Dass man es dann aber bei der etwas abstrusen Begrün­dung belassen hat, dieses Emo­ji drücke in beson­der­er Weise die Stim­mungen und Gedanken des Jahres 2015 aus, ist schade. Denn erstens stimmt es nicht (oder kommt irgend­je­man­dem hier das Jahr 2015 beson­ders lustig vor?), und zweit­ens sollte eine Wörter­wahl dazu dienen, etwas über das gewählte Wort, und damit über Sprache all­ge­mein, zu lernen.

Es wäre also inter­es­sant gewe­sen, wenn die Oxford Dic­tio­nar­ies ihre lexiko­grafis­che Kom­pe­tenz dazu einge­set­zt hät­ten, uns etwas über den Gebrauch des Emo­ji 😂 und Emo­ji all­ge­mein zu erzählen.

Sie haben es nicht, und deshalb muss ich es tun. Ich habe mir also eine Stich­probe von 200 haupt­säch­lich englis­ch­er Tweets ange­se­hen, in denen das Emo­ji ver­wen­det wird. Hier die Ergeb­nisse mein­er Analyse, die vielle­icht dazu beitra­gen, zu ver­ste­hen, warum das 😂 das häu­fig­ste Emo­ji ist. Weit­er­lesen

Das Weib, das Anna, das Merkel: Wie neutral sind Frauen?

Von Damaris Nübling

Die Frau, die Mut­ter, die Nonne – der Mann, der Vater, der Mönch: dass fast alle Beze­ich­nun­gen für Frauen auch gram­ma­tisch Fem­i­ni­na und die für Män­ner gram­ma­tisch Maskuli­na sind, dürfte kein Zufall sein. Das gram­ma­tis­che Geschlecht (man beze­ich­net es auch als »Genus«) scheint etwas mit dem biol­o­gis­chen oder sozialen Geschlecht (»Sexus« bzw. »Gen­der«) zu tun zu haben. Das hat neg­a­tive Kon­se­quen­zen für das sog. gener­ische Maskulinum: Weil gram­ma­tis­che Maskuli­na im Deutschen kog­ni­tiv so eng mit dem männlichen Geschlecht ver­bun­den sind, sind sie ungeeignet dazu, gle­icher­maßen auf Män­ner und auf Frauen Bezug zu nehmen. ((Das zeigen alle Unter­suchun­gen zum The­ma, eine davon wird hier vorgestellt.))

Herr – Frau – Fräulein …

Sucht man nach Wörtern, die dieses sog. Genus-Sexus-Prinzip »ver­let­zen«, stößt man dahin­ter auf Per­so­n­en, die den üblichen Rol­len­er­wartun­gen nicht nachkom­men, z.B. auf schwule Män­ner (die Memme, die Schwuch­tel, die Tunte) und auf sich »zu« männlich gerierende Frauen (der Vamp, der Drache). Für nicht rol­lenkon­forme Frauen wird jedoch noch öfter etwas anderes gewählt, und zwar das dritte Genus, das Neu­trum. Es enthält (im Ver­gle­ich zu den bei­den anderen Gen­era) mit Abstand die wenig­sten Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen, scheint also tat­säch­lich eine Art »säch­lich­es« Genus zu sein.

In diesem Beitrag stelle ich Ihnen zunächst einige inter­es­sante Forschungsergeb­nisse zum Sta­tus der Neu­tra im deutschen Sprach­sys­tem vor — sie sind näm­lich kaum wert­neu­tral auf erwach­sene Men­schen anwend­bar und ballen sich beson­ders dort, wo man schlecht über Frauen spricht. Wenn Sie aber zum Beispiel von der Mosel, aus der Eifel oder dem Hun­srück kom­men, ken­nen Sie vielle­icht ganz alltägliche, neu­tral gemeinte Wörter für Frauen: Die Ruf­na­men. Da schreibt das Sabine dem Franziska eine SMS, weil das Han­na ihm etwas mit­brin­gen soll, und abw­er­tend ist das nicht gemeint. Benutzt man das Neu­trum allerd­ings für Fam­i­li­en­na­men von Frauen, die mächtig sind, poli­tisch eine große Rolle spie­len, bekommt es einen ganz anderen Beik­lang: Über das Merkel lässt sich nicht ohne böse Absicht sprechen. Wie kommt es, dass Neu­tra ein­er­seits so neg­a­tiv, ander­er­seits aber neu­tral oder gar pos­i­tiv auf Frauen bezo­gen wer­den kön­nen? Bei­des lässt sich auf eine gemein­same Erk­lärung zurück­führen, die in unseren Gesellschaftsstruk­turen wurzelt.

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Kurze Geschichte eines Unworts: Asylkritiker

Von Anatol Stefanowitsch

Die Wörter asylkri­tisch, Asylkri­tik und Asylkri­tik­er haben sich in den let­zten Monat­en zu euphemistis­chen Ober­be­grif­f­en für alle möglichen Spielarten recht­en und/oder ras­sis­tis­chen Denkens und Han­delns entwick­elt. Zunächst geschah das fast unbe­merkt, aber seit ein paar Wochen bekom­men die Wörter endlich die kri­tis­che Aufmerk­samkeit, die ihnen zuste­ht: Schon im Juni kri­tisierte die Beratungsstelle für Betrof­fene rechter Gewalt in Sach­sen die For­mulierung „besorgte, asylkri­tis­che Bürg­er“, und in den let­zten Tagen gab es aus­führliche Kri­tiken in The Euro­pean, der Zeit und der taz. Inzwis­chen hat die dpa sog­ar angekündigt, dass sie die Wörter gar nicht mehr ver­wen­den wird.

Auch ich habe mich zu den Begrif­f­en geäußert, z.B. im in der Säch­sis­chen Zeitung, bei Radio Corax und bei MDR INFO. Eine Frage, die ich dabei nur all­ge­mein beant­worten kon­nte, war die, woher das Wort über­haupt kommt und seit wann es im Umlauf ist. Hier nun eine genauere Antwort auf diese Frage. Weit­er­lesen