Schlagwort-Archive: Sprachliche Relativität

Sprache und Denken — Nachlese [Lange Nacht der Wissenschaften]

Von Susanne Flach

Am Sam­stag haben Ana­tol und ich uns an der „Lan­gen Nacht der Wis­senschaften“ in Berlin beteiligt. Wer nicht dabei sein kon­nte — zeitlich (Gesangswettstre­it!), räum­lich (Dahlem!) oder finanziell (Ein­tritt zur LNDW!) ((Wom­it in unter­schiedlich­er Gewich­tun­gen und Kom­bi­na­tion möglich­er Abwe­sen­heit­sur­sachen unsere Kri­tik an der LNDW abgedeckt wäre.)) — dem bieten wir hier einen nar­ra­tiv­en Rück­blick mit Lit­er­aturhin­weisen, natür­lich auch für unser großar­tiges Pub­likum vom Sam­stag — von dem wir natür­lich hof­fen, dass einige den Weg zum Sprachlog gefun­den haben.

In unserem Vor­trag woll­ten wir eini­gen Leit­fra­gen zu „Sprache und Denken“ aus lin­guis­tis­ch­er Per­spek­tive auf den Grund gehen. Wie Ana­tol hier schrieb: Weit­er­lesen

Sprache und Denken [Lange Nacht der Wissenschaften]

Von Sprachlog

Bes­timmt unsere Sprache unser Denken, und wenn ja, woher wüssten wir das? Was hat George Orwells Dystopie „1984“ mit Eski­mos und ihren hun­dert Wörtern für Schnee zu tun? Und warum brauchen Ana­tol und Susanne Spielzeugtiere aus Plas­tik, um zu erk­lären, wie schw­er es ist, Antworten auf diese und andere Fra­gen zu finden?

Spielzeugtiere

Wie helfen uns diese Tiere, den Zusam­men­hang von Sprache und Denken zu verstehen?

Find­en Sie es her­aus, in dem Sie heute Abend zu Susanne Flach und Ana­tol Ste­fanow­itsch in die „Ros­t­laube“ der Freien Uni­ver­sität Berlin kom­men. Die bei­den erk­lären dort jew­eils um 17:00, 19:00 und 21:00 Uhr im Rah­men der Lan­gen Nacht der Wis­senschaften, unter welchen Umstän­den Sprache unser Denken bee­in­flussen kann und vor allem, wie Anthropolog/innen und Sprachwissenschaftler/innen sich abmühen müssen, um das herauszufinden.

Das geschieht nicht nur the­o­retisch – wer sich traut, kann selb­st an (völ­lig harm­losen) Exper­i­menten teil­nehmen. Vorken­nt­nisse sind nicht erforder­lich, es muss aber mitgedacht werden.

Sprache und Denken: Präsen­ta­tion mit inter­ak­tiv­en Experimenten

  • Von: Susanne Flach und Ana­tol Ste­fanow­itsch (Freie Uni­ver­sität Berlin und Sprachlog)
  • Ort: Ros­t­laube, Habelschw­erdter Allee 45, 14195 Berlin (Lage- und Anfahrt­s­plan)
  • Raum: KL 29, Hör­saal 2
  • Datum: 10. Mai 2014
  • Zeit: 17.00, 19.00, 21.00 Uhr (jew­eils 60 Min.)

Leichte Sprache, komplexe Wirklichkeit

Von Anatol Stefanowitsch

Die aktuelle Aus­gabe der Zeitschrift „Aus Poli­tik und Zeit­geschichte“ (APUZ 9–11/2014) mit dem The­ma „Leichte und Ein­fache Sprache“ ist seit gestern online ver­füg­bar. ((Das Heft kommt am Mon­tag als Beilage der Wochen­zeitung „Das Par­la­ment“ und kann dann auch bei der Bun­deszen­trale für poli­tis­che Bil­dung bestellt wer­den)) Neben fünf anderen Autor/innen bin auch ich mit einem Beitrag vertreten, in dem ich ver­suche, eine sprach­wis­senschaftliche Einord­nung der „Leicht­en Sprache“ vorzunehmen. Hier die Ein­leitung: Weit­er­lesen

Keine Austerität bitte, wir sind Deutsche

Von Anatol Stefanowitsch

Wie viel Ver­ant­wor­tung die deutsche Regierung an der Wirtschaft­skrise im Euro-Raum trägt, will ich nicht beurteilen (wenig­stens nicht im Sprachlog), aber dass Außen­min­is­ter Gui­do West­er­welle sich mit einem lin­guis­tis­chen Argu­ment der Rechen­schaft entziehen will, kann ich natür­lich nicht durchge­hen lassen. Vor allem nicht, weil das Argu­ment nicht nur eine merk­würdi­ge Vorstel­lung der Beziehung zwis­chen Sprache und Wirk­lichkeit offen­bart, son­dern auch sach­lich falsch ist.

West­er­welles Argu­ment ist das folgende:

Das dritte Zer­rbild zeige ein Deutsch­land, das einem „Dog­ma der Aus­ter­ität“ anhänge und der Frage neuen Wach­s­tums gle­ichgültig, wenn nicht sog­ar ablehnend gegenüber­ste­he. „Das Wort ‚Aus­ter­ität‘ gibt es in der deutschen Sprache nicht ein­mal“, sagte West­er­welle und ver­sicherte, dass auch für Deutsch­land die Frage, wie sich neues und zugle­ich nach­haltiges, dauer­haftes Wach­s­tum fördern lässt, ganz oben auf der Agen­da ste­he. ((Kacz­marek, Michael (2009) West­er­welle: EU-Refor­men sind kein deutsches Dik­tat, euractiv.de, 24.5.2013 [Link]))

Deutsch­land kann für die europäis­che Aus­ter­ität­spoli­tik also nicht ver­ant­wortlich sein, weil das Deutsche kein Wort für „Aus­ter­ität“ habe.

Diese Aus­sage kann ich auf zwei Arten ver­ste­hen, von denen eine völ­lig und eine leicht ver­wirrt wäre (von der Tat­sache, dass das Deutsche ganz offen­sichtlich sehr wohl ein Wort für Aus­ter­ität hat, ein­mal abge­se­hen – auf die komme ich gle­ich zurück). 

Entwed­er, West­er­welle meint hier, wer kein Wort für etwas hat, kann es nicht tun. Das wäre eine extreme Ver­sion der sprach­lichen Rel­a­tiv­ität, die offen­sichtlich falsch ist: Hunde haben keine Worte für „seinen eige­nen Schwanz jagen“, trotz­dem kön­nen sie es tun. Deutsche bräucht­en das Wort Aus­ter­ität nicht, um auf die Idee zu kom­men, den Staat­shaushalt durch einen Investi­tion­sstop und Kürzun­gen der Sozialaus­gaben auszugleichen.

Oder West­er­welle will sagen, da die Deutschen das Wort Aus­ter­ität nicht erfun­den, son­dern entlehnt haben, müsse auch das dahin­ter­ste­hende Konzept von jeman­dem anders erfun­den wor­den sein. Das wäre eben­so falsch, denn natür­lich ist es für eine Sprachge­mein­schaft möglich, Wörter für etwas zu entlehnen, das sie bere­its prak­tiziert. Die deutsche Sprachge­mein­schaft hat z.B. mit hoher Wahrschein­lichkeit schon Sex gehabt, bevor sie das Wort Sex aus dem Englis­chen entlehnt hat. Außer­dem wäre die Tat­sache, dass auch das Wort Aus­ter­ität (bzw. seine hier rel­e­vante Bedeu­tung) aus dem Englis­chen stammt, kein Grund, warum die aktuelle Aus­ter­ität­spoli­tik nicht von Deutsch­land aus­ge­hen sollte. Es ist ja prob­lem­los möglich, anderen Men­schen Dinge aufzuzwin­gen, die man nicht selb­st erfun­den hat: Alle Mis­sion­are machen das zum Beispiel so.

Bleibt die Frage, warum West­er­welle über­haupt auf die Idee kommt, das Deutsche habe kein Wort für Aus­ter­ität. Natür­lich hat es das, und West­er­welle ver­wen­det es ja selb­st: Aus­ter­ität, halt. ((Im Duden ste­ht es derzeit übri­gens nicht.)) Was er damit nur meinen kann, ist, dass es sich bei diesem Wort nicht um eins han­delt, das uns aus dem Pro­to-Ger­man­is­chen erhal­ten geblieben ist. Stattdessen stammt es ursprünglich aus dem Lateinis­chen (aus­ter­i­tas), wo es „Herb­heit“ (z.B. von Wein) und im über­tra­ge­nen Sinne auch „Strenge, Ernst“ hieß. Mit dieser Bedeu­tung find­et es sich schon im 14 Jahrhun­dert im Englischen:

  1. Þe gret aus­ter­ité, Þat Crist sal shew þat day. [1340, cit. Oxford Eng­lish Dic­tio­nary, s.v. aus­ter­i­ty („Die große Strenge, die Chris­tus an diesem Tage zeigen wird.“)

Ab Anfang des 17. Jahrhun­derts find­et es sich außer­dem mit der Bedeu­tung „Selb­st­diszi­plin, Zurück­hal­tung, moralis­che Strenge, Absti­nenz, Asketentum“:

  1. Or on Dianaes altar to protest, For aye, aus­ter­i­tie and sin­gle life. [1600, Shake­speare, Mid­sum­mer Night’s Dream, cit. OED, s.v. aus­ter­i­ty]

(In der Über­set­zung von Schlegel wird aus­ter­i­ty in Beispiel 2 recht eng mit „ehlos­er Stand“ übersetzt).

In dieser Bedeu­tung find­et sich das Wort Aus­ter­ität spätestens seit dem 18. Jahrhun­dert auch im Deutschen (Jahreszahlen ver­linken auf die Quellen bei Google Books):

  1. Dieses erk­lären die Welt-Men­schen also: wenn man bey ein­er lusti­gen Com­pag­nie sey, so soll man mit machen, und nicht mit sein­er Aus­ter­ität sie in ihrer Lust­barkeit stören… [1738]
  2. Nun scheinet er zwar eines Theils die Sache fast allzuweit wegzuw­er­fen, andern Theils aber zu sein­er Ver­wahrung eine übrige Aus­ter­ität anzunehmen; allein im Mit­tel zu bleiben, ist es wohl zu eracht­en , daß er zu kein­er solchen Con­ferenz vor­jet­zo leicht stim­men werde. [1745]

Die finanzpoli­tis­che Bedeu­tung („Aus­gle­ich des Staat­shaushalts durch strenge Spar­maß­nah­men“) stammt aus dem Großbri­tan­nien des Zweit­en Weltkriegs, das Oxford Eng­lish Dic­tio­nary nen­nt die Times Week­ly vom 2. Dezem­ber 1942 als erste Quelle:

  1. A Gen­er­al Lim­i­ta­tion Order—..which sug­gests that the Unit­ed States have got quite a way on the road to aus­ter­i­ty.

Im Deutschen find­et sich diese Bedeu­tung spätestens 1954, noch in Anführungsze­ichen und im direk­ten Zusam­men­hang mit der britis­chen Aus­ter­ität­spoli­tik, schon 1961 (und seit­dem durchgängig) aber ganz selb­stver­ständlich auch in anderen Zusammenhängen: 

  1. Das britis­che Volk ist müde gewor­den durch Krieg und „Aus­ter­ität”, eine zwiefache Prü­fung, die der Amerikan­er niemals ken­nen­gel­ernt hat. Der britis­che Stolz ist ver­let­zt, weil Bri­tan­niens Gewicht in der Kräftev­erteilung der Welt geringer gewor­den ist. [1954]
  2. Gle­ichzeit­ig ist in Bel­gien, keine 500 km von uns ent­fer­nt, die Wirtschaft durch die Evakuierung des Kon­gos und die Streiks so sehr durcheinan­der ger­at­en, daß wohl nur ein Pro­gramm strik­tester Aus­ter­ität das Land wieder auf die Beine kom­men kann, wobei auch hier damit zu rech­nen ist, daß ein beträchtlich­er Pool von Arbeit­slosen zurück­bleiben wird. [1961]

Und sog­ar das Wort Aus­ter­ität­spoli­tik find­et sich schon seit 1960 im Deutschen:

  1. Die Voraus­set­zung ein­er Eindäm­mung der Geld­schöp­fung wäre die Her­stel­lung eines Gle­ichgewichts zwis­chen den Ein­nah­men und den Aus­gaben im Staat­shaushalt gewe­sen. Es gab genug Möglichkeit­en, wirk­same Maß­nah­men zur Erzielung ein­er Aus­ter­ität­spoli­tik zu ergreifen. [1960]

Das Wort Aus­ter­ität existiert also im Deutschen seit weit über 250 Jahren, und davon seit über 50 Jahren mit der für West­er­welles Zitat rel­e­van­ten Bedeu­tung. Nun kön­nte er sich natür­lich auf den Stand­punkt stellen, dass lateinis­che Wörter niemals gen­uin deutsch wer­den, und deshalb auch nie gen­uin deutsches Denken oder Han­deln beze­ich­nen kön­nen. Dann würde sich aber die Frage stellen, wie die FDP lib­er­al (von lat. lib­er­alis) sein kann. Hm, wenn ich so darüber nach­denke – vielle­icht hat West­er­welle ja mit sein­er The­o­rie doch recht.