Gähnende Leere

Von Kristin Kopf

Echolot­ta hat kür­zlich bei Twit­ter gefragt:

Und weil mir keine philosophisch-amüsante Randbe­merkung von max­i­mal 130 Zeichen einge­fall­en ist ((Ja, ich weiß, 140, aber @Echolotta kostet auch schon 10 …)), habe ich beschlossen, die Frage hier in epis­ch­er Länge und wörtlich anzugehen.

Gäh­nende Leere auf ein­er anony­men Baustelle irgend­wo in Deutschland.

Bei der gäh­nen­den Leere liegt eine feste Verbindung zweier Wörter vor. Sie tritt in Sätzen wie es herrschte gäh­nende Leere auf und drückt dann aus, dass nichts oder nie­mand anwe­send oder vorhan­den ist (s. rechts).

Wie fest diese Verbindung eigentlich ist, lässt sich nicht nur intu­itiv fest­stellen, son­dern auch empirisch über­prüfen. Dazu macht man eine soge­nan­nte »Kol­loka­tion­s­analyse«, man schaut nach, welche Wörter in ein­er großen Textsamm­lung beson­ders häu­fig miteinan­der auftreten. Das geht zum Beispiel recht kom­fort­a­bel über das DWDS.

Da erfährt man dann, dass gäh­nend das Adjek­tiv ist, das Leere in den aller­meis­ten Fällen mod­i­fiziert (danach fol­gt erst mit großem Abstand die innere Leere) – und dass auch umgekehrt Leere das Sub­stan­tiv ist, das am öftesten von gäh­nend begleit­et wird (danach fol­gt mit noch größerem Abstand die Langeweile): ((Hier Leere eingeben und im Kas­ten »Wort­pro­fil 2012« nach­schauen, da als Wor­tart »Sub­stan­tiv« wählen (linkes Dia­gramm) bzw. gäh­nend eingeben und »ist Adjek­ti­vat­trib­ut von« wählen (recht­es Dia­gramm). Eine Erk­lärung des Wort­pro­fils gibt es hier. Was meine Suche natür­lich nicht abdeckt, sind ver­bale For­mulierun­gen wie die Leere gäh­nt bedrohlich, denn dort gäh­nt bere­its der Schlund o.ä.))

Kol­loka­tio­nen von Leere (links) und gäh­nend (rechts) ab ein­er Min­dest­fre­quenz von 5. Dat­en: DWDS Wort­pro­fil 2012, Zeitraum 1900–1999.

Aber warum?

Dass diese bei­den Wörter etwas miteinan­der haben, lässt sich also nicht nur fühlen, son­dern auch zeigen. Nun stellt sich aber die Frage, warum es hier eine der­art enge Verbindung gibt.Das Wort gäh­nen geht wohl – die fol­gen­den Infor­ma­tio­nen stam­men aus Pfeifer – auf eine indoger­man­is­che Wurzel *g̑hēi‑, *g̑hē- ‘gäh­nen, klaf­fen, offen­ste­hen’ zurück, die vielle­icht laut­ma­lerisch das Gäh­nen nachahmte. Eben­falls damit ver­wandt sind die griechis­chen Wörter chás­ma (χάσμα) ‘klaf­fende Öff­nung’, vielle­icht bekan­nter als engl. chasm, und cháos (χάος) ‘leer­er Raum, Luftraum’.

Daran lässt sich die Leere auch gut anschließen – zumin­d­est scheint mir das sehr plau­si­bel: Ein gäh­nen­der Abgrund oder Schlund stellt eine klaf­fende Öff­nung dar. In der ist ja nichts drin, ergo ist sie leer. Man wech­selt also die Per­spek­tive, so ungefähr:

Eine mod­erne gäh­nende Leere kann allerd­ings nicht nur da herrschen, wo eine wie auf immer geart­ete Öff­nung klafft – man denke an Belege wie

  • Im Abge­ord­netenhause ging gestern — bei gäh­nen­der Leere — die Beratung des Etats der Staats­berg­w­erke vor sich. (1917)
  • Und die rechte Spur? Gäh­nende Leere — ab und an ein Rad­fahrer, nur ver­schwindend wenige Kraft­fahrer benutzen die rechte Spur. (1971)
  • Taxis, hieß es dort, stän­den vor dem Bahn­hof­sein­gang, auf dem Vor­platz jedoch herrschte gäh­nende Leere. (2003)

(Via DWDS.)

Ein Haus kann man immer­hin noch als eine Art Behäl­ter konzip­ieren, mit ein­er Fahrspur und einem Platz wird es dann schwierig.

Seit wann kann die Leere gähnen?

Zur Bes­tim­mung des Alters der Wen­dung habe ich lei­der nur einen ganz kleinen Anhalt­spunkt: Das Sub­stan­tiv Leere ist im Deutschen erst seit dem 16. Jahrhun­dert in Gebrauch. Älter kann die Wen­dung also schlecht sein.

Ich habe mal im DWB, das ja immer viele Belege auflis­tet, eine Suche nach gäh­nend* durchge­führt, in der Hoff­nung, dabei auch eine Leere zu find­en. War lei­der nix, aber gesichtet habe ich neben den erwart­baren Men­schen und Kör­perteilen auch gähnende …

  • … Öff­nun­gen: Grab, Untiefe, Zwis­chen­raum, Spalt, Abyss, Rohr (ein­er Waffe), TorHöl­len­rachen, Gestein und
  • … abstrak­te Konzepte: Zeitvertreib (bei Klop­stock), Schlund der Langeweile (bei Schiller)

Das hil­ft jedoch nichts dabei, her­auszubekom­men, wann und unter welchen Umstän­den die gäh­nende Leere ent­standen sein könnte.

Auch eine Suche in den dig­i­tal­isierten Büch­ern von Google­Books hat nur bed­ingt weit­erge­holfen. Es find­en sich zwar Belege für das 19. Jahrhun­dert (z.B. dieser), aber Suchen in früheren Zeiträu­men scheinen tech­nisch nicht zuver­läs­sig zu sein. ((Gibt man einen Zeitraum manuell vor, so wird für das 19. Jh. nichts gefun­den, wählt man hinge­gen die vorgegebene Suchop­tion »19. Jahrhun­dert«, so tauchen Tre­f­fer auf. Da es für das 18. Jh. keine vorgegebene Suchop­tion gibt, son­dern nur eine manuelle Zeitraumeingabe, hat es nichts zu bedeuten, dass sich hier keine Tre­f­fer find­en lassen.)) Falls also jemand von irgend­wo zwis­chen dem 16. und dem 19. Jahrhun­dert Belege für mich aus­graben kön­nen sollte: Ich wäre sehr glücklich!

Was anderswo GähnT

Kür­zlich bin ich in diesem Artikel zufäl­lig auf ein Beispiel dafür gestoßen, dass auch im Englis­chen Öff­nun­gen ‘gäh­nen’ kön­nen, wie z.B.

This ide­o­log­i­cal chasm between the Amer­i­can Left and its puta­tive con­stituen­cy yawns nowhere wider than …

(‘Diese ide­ol­o­gis­che Kluft zwis­chen der amerikanis­chen Linken und ihrer ver­meintlichen Wäh­ler­schaft gäh­nt nir­gends weit­er als …’; meine Übersetzung)

Im Prinzip ist das wenig ver­wun­der­lich, da die Bedeu­tung ‘klaf­fen’ ja bere­its für das Indoeu­ropäis­che ange­set­zt wird. Das englis­che to yawn ist näm­lich mit unserem gäh­nen ver­wandt. Das sieht man heute nicht mehr so gut, aber im Altenglis­chen hieß es noch gi(o)nian, was seinem althochdeutschen Schwest­er­wort ginen doch erkennbar ähnelt. ((Der Haup­tun­ter­schied, das y im Anlaut, ist einem späteren Laut­wan­del im Englis­chen geschuldet, wie auch:

yester(day) – gestern

yell – gellen

yellow – gelb

yard – Garten

yarn – Garn

))

Nun hat es mich inter­essiert, ob das im Englis­chen nicht nur für Öff­nun­gen, son­dern auch für die darin befind­lichen Nichtse klappt, also z.B. mit dem Wort empti­ness. Deshalb habe ich eine zweite Kol­loka­tion­s­analyse gemacht ((Im Cor­pus of His­tor­i­cal Amer­i­can Eng­lish, COHA.)). Die Ergeb­nisse leg­en nahe, dass to yawn und gäh­nen nicht völ­lig gle­ich funktionieren.

Sub­stan­tivis­che Kol­loka­tio­nen von yawn­ing ab ein­er Min­dest­fre­quenz von 5. Dat­en: COHA, Zeitraum 1900–1999.

Natür­lich muss man hier war­nen, ins­ge­samt gab es viel weniger Tre­f­fer (96, vs. über 1000 im Deutschen), die Zahlen sind also nicht sehr belastbar.

Den­noch sieht man, dass Beze­ich­nun­gen für Öff­nun­gen dominieren. Die ‘Leere’ ist hinge­gen nicht dabei – sie find­et sich erst in den ganz kleinen Zahlen. Zwei Belege spuckt COHA immer­hin aus, ein­er von 1940, ein­er von 1994:

  • My eyes met the same famil­iar and depress­ing sights: the yawn­ing empti­ness of cas­es and shelves …
  • I can feel the aching, yawn­ing empti­ness in my stom­ach, twist­ing my innards into knots.

Beleg Num­mer 1 (der von 1940) stammt aus einem Zeitschrifte­nar­tikel von einem gewis­sen Joachim Joesten – Name und Inter­net leg­en nahe, dass er Deutsch­er war und erst im Erwach­se­nenal­ter in die USA ein­wan­derte. Gut möglich also, dass es sich hier um eine wörtliche Über­set­zung der deutschen gäh­nen­den Leere handelt.

Bei ein­er Suche in COCA für den aktuellen Gebrauch des amerikanis­chen Englisch find­en sich noch fünf zusät­zliche Belege für yawn­ing empti­ness, alle in eher lit­er­arischen Kontexten.

Ganz so sel­ten wie diese bei­den Kor­po­ra nahele­gen ist die Verbindung dann aber doch nicht: Eine Suche mit dem Ngram-View­er zeigt, dass sie in englis­chen Büch­ern (rote Lin­ie) zwar ver­glichen mit dem Deutschen (blaue Lin­ie) sel­ten, aber doch kon­tinuier­lich zu find­en ist. Lei­der sind die zugrun­deliegen­den Beleg­stellen aber nicht zugänglich.

Die Verbindung der bei­den Wörter scheint also im Englis­chen dur­chaus möglich zu sein, allerd­ings erre­icht sie nicht die hohe Idiom­a­tiz­ität, die sie im Deutschen hat.

 Quellen:

6 Gedanken zu „Gähnende Leere

  1. Evanesca Feuerblut

    Von wegen anonyme Baustelle irgend­wo in Deutsch­land. Das ist der SoWi-Neubau an der Uni Mainz!

    Anson­sten bedanke ich mich für den inter­es­san­ten Artikel, der eine alltägliche Wen­dung mal anders beleuchtet!

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  2. Kristin Kopf Beitragsautor

    Psssst, nicht dass jemand von der Per­spek­tive des Fotos auf die Lage meines Büros schließen kann! 😉

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  3. Echolotta

    Ich weiß wieder, was ein Lin­guis­tik­studi­um wert ist und warum es soviel Spaß macht … Vie­len Dank für diese Recherche! /@echolotta

    Antworten
  4. Sophia

    Zu lange her, dass ich mich dergestalt mit Sprach­wis­senschaft und entsprechen­den Ein­trä­gen befasst habe.
    Zu allem ‘Unglück’ habe ich meine Slav­is­tik-Bib­lio­thek, u.a. den Vass­mer, Rus­sis­ches Ethy­mol­o­gis­ches Wörter­buch, in den ich jet­zt schauen wollte, in den Keller gepackt.

    Mir scheint, das mit der ‘gäh­nen­den Leere’ funk­tion­iert auch auf Rus­sisch, aber seit wann?
    Erstaunlich ist es nicht, ob der indoger­man­is­chen Wurzel.

    Im DWB habe ich noch ‘gaffen’ gefun­den unter ‘gäh­nen’.
    Was zu englisch: gape führt.
    Nimmt man also nicht nur: yawn­ing empti­ness, son­dern gap­ing empti­ness, dürfte man zu wesentlich mehr Ein­trä­gen kom­men für eine Übere­in­stim­mung ‘gäh­nende Leere’- engl: ‘yawning/gaping emptiness’.

    Wie gesagt, ich kann’s nicht fachgerecht auf­dröseln oder weiterführen.
    Der Grimm (ab 1838) hat übri­gens auch keinen Ein­trag für die Verbindung ‘gäh­nende Leere’.

    Hier der Link zum Ein­trag ‘gäh­nen’ im DWB:
    http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG00205

    Und noch ein Link zum Linguee Wörter­buch mit Bele­gen zu ‘yawn­ing emptiness’/‘gaping emptiness’:
    http://www.linguee.de/deutsch-englisch/uebersetzung/g%E4hnende+leere.html

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    1. Kristin Kopf Beitragsautor

      Der Hin­weis auf gape ist gut, danke dafür! Ich bin beim Recher­chieren auch am Rande darauf gestoßen, habe es dann aber ignori­ert, weil es mir nur um Beze­ich­nun­gen mit der heuti­gen Bedeu­tung ‘gäh­nen’ ging — aber logisch, dass ich auch andere Wörter berück­sichti­gen hätte müssen, deren idg. Wurzel die Bedeu­tung hat­te. Vielle­icht checke ich das mal noch bei COCA/COHA, wenn ich Zeit habe.

      Im Grimm habe ich nach gäh­nend* übri­gens gesucht, s. oben unter der Über­schrift “Seit wann kann die Leere gähnen?”

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