Wenn ich Montag früh nach Bremen fahre, nehme ich oft einen Zug, der von den Schweizerischen Bundesbahnen betrieben wird.
Wenn ich dann das Bordmagazin „Via“ aufschlage, habe ich immer das Gefühl, dass ich durch einen Quantentunnel in ein alternatives Universum geraten bin – einem, das dem, aus dem ich komme, sehr ähnlich ist, das sich aber in subtilen Kleinigkeiten unterscheidet. Zu einem kleinen Teil liegt das am Inhalt des Magazins, zum Beispiel an Leserbriefen wie diesem, in dem es um die Frage geht, ob man in der Bahn seine Füße hochlegen darf:
Füsse, beschuht oder nackt, gehören nun einmal nicht auf die Sitzflächen. Viele der jüngeren und mittleren Generation haben in ihrer Familie auch gar nie von Umgangsformen gehört, weil diese nach der 68er-Bewegung als antiquiert und repressiv galten. Der allgemeine Vollzugsnotstand, der in der Schweiz herrscht, ist auch bei der SSB spürbar.
Es gibt sicher auch in Deutschland Menschen, die das Füßehochlegen als Symptom eines allgemeinen „Vollzugsnotstands“ sehen, aber ein wenig bestätigt der Leserbrief das Stereotyp der Schweiz als kleiner heiler Welt ohne echte Probleme. Und auch Menschen, die alles Unglück der Welt den „68ern“ zuschreiben, findet man in Deutschland wohl nur noch in der FDP.
Aber interessanter als die inhaltlichen Verschiebungen ist die Sprache. Das Magazin ist in einer Varietät des Deutschen geschrieben, die dem bundesdeutschen Schriftdeutsch sehr ähnlich ist, aber mindestens einmal pro Seite weicht sie spürbar von meinen schriftsprachlichen Erwartungen ab. Das gar nie im Leserbrief ist ein Beispiel dafür, weitere Beispiele sind folgende:
- … ein starkes Publikumsmagnet.
- Es hat hier Schnee wie Sand in der Wüste.
- …das erste Schweizer Langlaufgebiet, welches das integrierte Kombiticket anbietet..
- An den Samstagen vom 6. Februar und 6. März 2010…
- Bei 1200 Pistenkilometern fällt es schwer, die „beste“ Abfahrt zu bezeichnen.
Manche dieser Beispiele verletzen aus einer bundesdeutschen Perspektive klar Grammatikregeln der Standardsprache – es hat statt es gibt, das Magnet statt der Magnet. Aber die meisten sind nur irgendwie ungewohnt: das Relativpronomen welches klingt altmodisch, der Samstag vom 6. Februar irgendwie verdreht, und bezeichnen kann ich mit einem belebten Subjekt nur mit als verwenden (z.B. Urs bezeichnetdie Abfahrt als die beste ), bei einer transitiven Verwendung muss das Subjekt ein Abstraktum sein (z.B. Das Wort Abfahrt bezeichnet eine Ski- oder Rodelpiste). In dem hier zitierten Satz müsste ich benennen verwenden.
Solche kleinen grammatischen Unterschiede zeigen, wie wichtig die Rolle der Gewohnheit gegenüber dem allgemeinen Regelsystem der Sprache ist.
Interessant finde ich auch, dass mir die grammatischen Besonderheiten viel stärker auffallen als das runde Dutzend ungewohnter oder mir unbekannter Wörter, die mir auf jeder Seite begegnen. Adrenalinschuss statt Adrenalinstoß, Lastwagenpneu statt Lastwagenreifen, Pistenbeiz statt was auch immer das heißen mag.
Aber auch die Wörter machen Spaß: In einem Artikel über das Schlittenfahren habe ich eine ganze jahreszeitlich höchst relevante Wortfamilie kennengelernt: es war dort nicht nur vom Schlitteln und Nachtschlitteln die Rede, sondern auch von Schlittlern und Schlittelfreunden, die gemeinsam das Schlittelvolk bilden. Allein oder als Schlittelschlange schlitteln sie auf den Schlittelwegen des weitläufigen Schlittelwegnetz, liefern sich Schlittelrennen auf der Schlittelbahn und haben bei der Schlittelabfahrt jede Menge Schlittelspass, solange sie sich an die Schlittelzeiten halten. Der Schlittelgenuss ist besonders ausgeprägt in den Schlittelparadiesen oder im Schlittel-Mekka.
