Schlittelwetter!

Von Anatol Stefanowitsch

Wenn ich Mon­tag früh nach Bre­men fahre, nehme ich oft einen Zug, der von den Schweiz­erischen Bun­des­bah­nen betrieben wird.

Wenn ich dann das Bor­d­magazin „Via“ auf­schlage, habe ich immer das Gefühl, dass ich durch einen Quan­ten­tun­nel in ein alter­na­tives Uni­ver­sum ger­at­en bin – einem, das dem, aus dem ich komme, sehr ähn­lich ist, das sich aber in sub­tilen Kleinigkeit­en unter­schei­det. Zu einem kleinen Teil liegt das am Inhalt des Mag­a­zins, zum Beispiel an Leser­briefen wie diesem, in dem es um die Frage geht, ob man in der Bahn seine Füße hochle­gen darf:

Füsse, beschuht oder nackt, gehören nun ein­mal nicht auf die Sitzflächen. Viele der jün­geren und mit­tleren Gen­er­a­tion haben in ihrer Fam­i­lie auch gar nie von Umgangs­for­men gehört, weil diese nach der 68er-Bewe­gung als antiquiert und repres­siv gal­ten. Der all­ge­meine Vol­lzugsnot­stand, der in der Schweiz herrscht, ist auch bei der SSB spürbar.

Es gibt sich­er auch in Deutsch­land Men­schen, die das Füße­hochle­gen als Symp­tom eines all­ge­meinen „Vol­lzugsnot­stands“ sehen, aber ein wenig bestätigt der Leser­brief das Stereo­typ der Schweiz als klein­er heil­er Welt ohne echte Prob­leme. Und auch Men­schen, die alles Unglück der Welt den „68ern“ zuschreiben, find­et man in Deutsch­land wohl nur noch in der FDP.

Aber inter­es­san­ter als die inhaltlichen Ver­schiebun­gen ist die Sprache. Das Mag­a­zin ist in ein­er Vari­etät des Deutschen geschrieben, die dem bun­des­deutschen Schrift­deutsch sehr ähn­lich ist, aber min­destens ein­mal pro Seite weicht sie spür­bar von meinen schrift­sprach­lichen Erwartun­gen ab. Das gar nie im Leser­brief ist ein Beispiel dafür, weit­ere Beispiele sind folgende:

  • … ein starkes Publikumsmagnet.
  • Es hat hier Schnee wie Sand in der Wüste.
  • …das erste Schweiz­er Langlaufge­bi­et, welch­es das inte­gri­erte Kom­b­i­tick­et anbietet..
  • An den Sam­sta­gen vom 6. Feb­ru­ar und 6. März 2010…
  • Bei 1200 Pis­tenkilo­me­tern fällt es schw­er, die „beste“ Abfahrt zu bezeichnen.

Manche dieser Beispiele ver­let­zen aus ein­er bun­des­deutschen Per­spek­tive klar Gram­matikregeln der Stan­dard­sprache – es hat statt es gibt, das Mag­net statt der Mag­net. Aber die meis­ten sind nur irgend­wie unge­wohnt: das Rel­a­tivpronomen welch­es klingt alt­modisch, der Sam­stag vom 6. Feb­ru­ar irgend­wie ver­dreht, und beze­ich­nen kann ich mit einem belebten Sub­jekt nur mit als ver­wen­den (z.B. Urs beze­ich­net­die Abfahrt als die beste ), bei ein­er tran­si­tiv­en Ver­wen­dung muss das Sub­jekt ein Abstrak­tum sein (z.B. Das Wort Abfahrt beze­ich­net eine Ski- oder Rodelpiste). In dem hier zitierten Satz müsste ich benen­nen verwenden.

Solche kleinen gram­ma­tis­chen Unter­schiede zeigen, wie wichtig die Rolle der Gewohn­heit gegenüber dem all­ge­meinen Regel­sys­tem der Sprache ist.

Inter­es­sant finde ich auch, dass mir die gram­ma­tis­chen Beson­der­heit­en viel stärk­er auf­fall­en als das runde Dutzend unge­wohn­ter oder mir unbekan­nter Wörter, die mir auf jed­er Seite begeg­nen. Adren­a­lin­schuss statt Adren­a­lin­stoß, Last­wa­genpneu statt Last­wa­gen­reifen, Pis­ten­beiz statt was auch immer das heißen mag.

Aber auch die Wörter machen Spaß: In einem Artikel über das Schlit­ten­fahren habe ich eine ganze jahreszeitlich höchst rel­e­vante Wort­fam­i­lie ken­nen­gel­ernt: es war dort nicht nur vom Schlit­teln und Nachtschlit­teln die Rede, son­dern auch von Schlit­tlern und Schlit­tel­fre­un­den, die gemein­sam das Schlit­telvolk bilden. Allein oder als Schlit­telschlange schlit­teln sie auf den Schlit­tel­we­gen des weitläu­fi­gen Schlit­tel­weg­netz, liefern sich Schlit­tel­ren­nen auf der Schlit­tel­bahn und haben bei der Schlit­te­lab­fahrt jede Menge Schlit­telspass, solange sie sich an die Schlit­telzeit­en hal­ten. Der Schlit­tel­genuss ist beson­ders aus­geprägt in den Schlit­tel­paradiesen oder im Schlit­tel-Mek­ka.