T/V International

Von Anatol Stefanowitsch

Der Mel­bourn­er Über­set­zer Marc Hiatt betreibt ein ungewöhn­lich­es Weblog, Trans­lat­ed from the Ger­man. Wie der Name andeutet, veröf­fentlicht er dort eigene englis­che Über­set­zun­gen großer deutsch­er Denker wie Adorno, Goethe, Herder, Horkheimer, Leib­nitz und … ähm … Ste­fanow­itsch. Seit gestern kann man dort den Beitrag T/V Total in englis­ch­er Über­set­zung lesen: Total­ly T/V. Herr Hiatt unter­richtet auch Deutsch und will den Beitrag ver­wen­den, um seinen Schülern die unge­wohnte T/V‑Unterscheidung schmack­hafter zu machen. Per Email schreibt er mir: „Das T/V‑Problem ist etwas, dass für sie anson­sten ziem­lich abstrakt bleibt; sehen zu kön­nen, dass es auch den Deutschsprachi­gen nicht immer leicht fällt, wird ihnen helfen.“ In ein­er weit­eren Email schreibt er:

Übri­gens glaube ich, dass ich das gut ver­ste­hen kann, warum Sie Ihre Leser siezen möcht­en. Ich finde es wichtig, sich auf die neuen zwis­chen­men­schlichen Beziehun­gen zu besin­nen, in die wir heute einge­hen, und wom­öglich die Entwick­lun­gen zu for­men, anstatt sie bloß zu erleiden.

Nun lei­de ich nicht ger­ade darunter, geduzt zu wer­den. Das kommt nicht nur in der virtuellen Welt häu­figer vor, son­dern auch in der nicht-virtuellen. Immer wieder kom­men Studierende (häu­fig älteren Jahrgangs) in mein Büro, die ich noch nie gese­hen habe, und begin­nen das Gespräch in etwa so: „Bist du Ana­tol? Ich brauch’ näm­lich noch ’n Prüfer und da hat man mir gesagt, dass du da zuständig bist.“ Ich ver­ste­he dann, dass ich es da mit Men­schen zu tun habe, die zu ein­er Zeit sozial­isiert wur­den, in der das Duzen an der Uni­ver­sität der Nor­mal­fall war, und gehe im All­ge­meinen stillschweigend darauf ein. Lei­den tue ich erst dann, wenn der unver­mei­dliche zweite Satz kommt: „Lin­guis­tik inter­essiert mich eigentlich nicht so. Kannst du mir da nicht irgen­dein ein­fach­es Prü­fungs­the­ma geben, wo man nicht soviel lesen muss?“

Aber zurück zu Her­rn Hiatts Punkt mit dem For­men von Entwick­lun­gen. Dem stimme ich natür­lich zu. Zwis­chen­men­schliche Beziehun­gen müssen ständig neu aus­ge­han­delt wer­den und daran kann und sollte man aktiv mitwirken. Selb­st die Rei­bun­gen, die auftreten, wenn unter­schiedliche Vorstel­lun­gen aufeinan­dertr­e­f­fen, tra­gen doch dazu bei, das Leben bunt und inter­es­sant zu machen.

Eine let­zte Beobach­tung: beim Kor­rek­turlesen dieses Post­ings kommt es mir plöt­zlich komisch vor, von „Her­rn Hiatt“ zu sprechen. Ohne dass ich genau sagen kön­nte, warum, ist mein natür­lich­er Impuls, ihn „Marc“ zu nen­nen. Teil­weise hat das wohl etwas damit zu tun, dass wir nicht nur per Blog son­dern auch per­sön­lich­er per Email miteinan­der zu tun hat­ten und dass wir bei­de pro­fes­sionell mit Sprache zu tun haben und somit irgend­wie „Kol­le­gen“ sind. Aber ich glaube nicht, dass das die voll­ständi­ge Erk­lärung ist.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

3 Gedanken zu „T/V International

  1. Marc Hiatt

    Herr Ste­fanow­itsch,

    Sie haben geschrieben, Sie lei­den “nicht ger­ade darunter, geduzt zu wer­den.” Ich kann nicht aus­machen, ob Sie da ein­fach an eine Zwei­deutigkeit an “die Entwick­lun­gen … erlei­den” annküpfen, um ihren Punkt übers Duzen zu machen, oder ob ich halt den falschen Aus­drück wäh­le. (Ich will nicht sug­gerieren, dass jenes unschick­lich wäre: das Beispiel ist gut.) Mit “die Entwick­lun­gen … erlei­den” wollte ich näm­lich “bezüglich etwas pas­siv sein” aus­drück­en. Geht das?

    Ich kann natür­lich auch nicht sagen, wie Ihr Impuls, mich mit Vor­name anzus­prechen, voll­ständig zu erk­lären sei. Auf jeden Fall freue ich mich darüber. (Vielle­icht weil ich Men­schen ein all­ge­meines Bedürf­nis unter­stelle, Nähe mit anderen, sog­ar frem­den Geschöpfen herzustellen, und ver­mute, hier einen Beleg zu finden.)

    Aber ich freute mich noch mehr, als ich mich auf Ihren Beitrag “Her­rn Hiatt” genan­nt sah. Herr Adorno schreibt sehr inter­es­sante Sachen in diesem Zusam­men­hang in seinem Buch Min­i­ma Moralia. Er meint, zum Beispiel (ich glaube das ist Abschnitt 16, ‘Zur Dialek­tik des Tak­ts’), dass der Spiel­raum für per­sön­liche (Nicht-)Identität, objek­tiv ange­se­hen, in der Zeit Beethovens am größten war, als die Dis­tanz bewahren­den Sprach­for­men und Gebräuche nicht mehr im alten, ‘objek­tiv­en’ (d. h. sozialen) Sinn gal­ten, aber noch auf “tak­tvolle” Weise einge­set­zt wer­den kön­nen. Die Möglichkeit der Frei­heit sollte im Unter­schied zwis­chen dem Indi­vidu­um und dem es iden­ti­fizieren­den Aus­druck bewahrt sein, wobei das Aus­druck auch dem Indi­vidu­um gewis­ser­maßen ent­ge­genkom­men muss, also nicht “von oben her” ihm über­stülpt wer­den. (Oder so etwas Ähn­lich­es: das ist natür­lich aus dem Zusam­men­hang ein­er anspruchsvollen Gesellschafts- und Sprachthe­o­rie geris­sen wor­den.) Es kann sein, dass ich jenen (für einen Aus­tralier sehr ungewöhn­lichen) Unter­schied spürte, und dass das eine Quelle meine Freude war. Es ist aber eher wahrschein­lich, dass viel sub­jek­ti­vere, psy­chol­o­gis­chere Fak­toren eine Rolle spiel­ten. Etwa, ich freute mich über die Kon­no­ta­tio­nen: “ach, er denkt, dass wir Kol­le­gen sind, er ehrt mich mit dem großar­ti­gen Titel eines ‘Über­set­zers’, vielle­icht meint er, ich bin älter als ich es in der Wirk­lichkeit bin.” Denn, meine Erfahrun­gen in deutschsprachi­gen Län­dern ausgenom­men, ist es für mich etwas sehr ungewön­lich­es, mit Mis­ter + Nach­name ange­sprochen zu werden.

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  3. Anatol Stefanowitsch

    Herr Hiatt,

    eine Entwick­lung erleiden

    Nach meinem Sprachge­fühl klingt das zwar ungewöhn­lich, ist aber keines­falls falsch. Auch die von Ihnen gemeinte Inter­pre­ta­tion (so etwa endure) halte ich für möglich, allerd­ings ist die offen­sichtlichere Inter­pre­ta­tion die, an die ich angeknüpft habe (so etwa suf­fer. Um die von Ihnen gewün­schte Inter­pre­ta­tion deut­lich­er zu machen, würde man wohl so etwas sagen wie „die Entwick­lung (pas­siv) mit­machen“ oder „die Entwick­lung über sich erge­hen lassen“.

    ach, er denkt, dass wir Kol­le­gen sind, er ehrt mich mit dem großar­ti­gen Titel eines ‘Über­set­zers’, vielle­icht meint er, ich bin älter als ich es in der Wirk­lichkeit bin

    Ein „Kol­lege“ im weit­eren Sinne ist für mich jed­er, der pro­fes­sionell mit Sprache zu tun hat (Lehrer, Über­set­zer, Lek­toren, etc.) — und zwar unab­hängig vom Alter 🙂

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