Anglizismus des Jahres: Zwischenmeldung

Von Anatol Stefanowitsch
Button für den Anglizismus des Jahres 2011

But­ton für den Anglizis­mus des Jahres 2011

Obwohl die Nominierun­gen zum Anglizis­mus des Jahres noch bis zum 31. Dezem­ber laufen, ist es höch­ste Zeit für eine Zwis­chen­mel­dung. Bis heute sind näm­lich bere­its 46 Wortvorschläge einge­gange (einige davon mehrfach). Zum Ver­gle­ich: Im let­zten Jahr wur­den bis Ende Dezem­ber nur 38 Wörter nominiert.

Bei den The­men­bere­ichen, aus denen die nominierten Wörter stam­men, gibt es einen auf­fäl­li­gen Unter­schied zum let­zten Jahr: Die Finanzkrise, die uns ja eigentlich schon länger beschäftigt, ist mit­tler­weile offen­sichtlich so präsent, dass sie sich in ein­er Rei­he von Vorschlä­gen wieder­spiegelt: Bail-out, Com­pli­ance, Euro-Bonds, Hair­cut, Rating/raten, und Stresstest (wobei let­zteres natür­lich auch bei der öffentlichen Diskus­sion um die Abnei­gung der Stuttgarter gegen einen neuen Bahn­hof eine Rolle gespielt hat).

Der dom­i­nante Bere­ich ist aber, wie im let­zten Jahr, der Bere­ich IT und Inter­net. Einige der nominierten Wörtern beze­ich­nen Tech­nolo­gien: Cloud, Handy-Tick­et­sys­tem, Onlei­he, Smart­phone, Tablet. Andere Wörter beze­ich­nen den Umgang mit diesen Tech­nolo­gien, näm­lich die Sub­stan­tive Con­tent­farm, Copy & Paste, Copy-and-Paste-Kul­tur und Cyberwar/Cyberkrieg und die Ver­ben adden, cir­clen, frien­den, liken, screen­shot­ten, tren­den und twit­tern. Das ist nur natür­lich, denn Wörter wer­den immer in kul­turellen und gesellschaftlichen Zusam­men­hän­gen entlehnt, in denen schnelle und tief­greifende Verän­derun­gen stat­tfind­en, und das Inter­net wird auf abse­hbare Zeit ein solch­er Bere­ich sein.

Das zeigt sich vor allem auch in ein­er Rei­he von Wortkan­di­dat­en, die soziale Prak­tiken beze­ich­nen, die ihren Ursprung oder ihren natür­lichen Ent­fal­tungsraum im Inter­net haben, aber von dort aus auch in die Gesellschaft ins­ge­samt hineinge­tra­gen wer­den: Bar­camp, Hack­tivism, Liq­uid Democ­ra­cy, Nerd, Nerd­brause, Nerd­mäd­chen, Nerd­partei, Occu­pist, Occu­py, Occu­py-Bewe­gung, Post-Pri­va­cy, Shit­storm, und whistle­blowen.

Die klas­sis­chen Medi­en sind bish­er mit nur zwei Vorschlä­gen — Cast­ing-Truck und Script­ed Real­i­ty — sehr schwach vertreten, eben­so wie gesellschaftliche Prak­tiken außer­halb des Inter­nets — Burn-Out, Car­shar­ing und gen­dern. Inter­es­san­ter­weise ist der eher uner­wartete Bere­ich Ernährung zweimal vertreten: Bub­ble Tea und Cup­cake.

Auch ein paar Ein­deutschun­gen sind nominiert, näm­lich Fazial­palmierung, Fratzen­buch und real­isieren (in der Bedeu­tung „ein­er Sache gewahr wer­den“). Außer­dem ist mit -gate erst­mals auch ein Affix dabei.

Die Jury wird sich nun in den näch­sten Tagen daran machen, die bish­er vorgeschla­ge­nen Wörter zu sicht­en und die Kan­di­dat­en auszuwählen, die den Kri­te­rien genü­gen. Die Jury, das sind, wie im let­zten Jahr, Susanne Flach, Kristin Kopf, Michael Mann und ich, sowie der neu hinzugekommene Jan Wohlge­muth. Sie alle sind nicht nur Experten für ver­schiedene rel­e­vante Bere­iche der Sprach­wis­senschaft (Sprachkon­takt, Sprachgeschichte, Lexiko­gra­phie und Lehn­wort­ty­polo­gie), son­dern beschäfti­gen sich auch pop­ulär­wis­senschaftlich mit Sprache und Sprachen. In dieser pop­ulär­wis­senschaftlichen Funk­tion wird die Jury in den näch­sten Wochen auch inter­es­sante Wortkan­di­dat­en her­aus­greifen und disku­tieren. Wer hier nichts ver­passen will, sollte regelmäßig im offiziellen Anglizis­mus-des-Jahres-Blog vor­beis­chauen, wo die Beiträge erscheinen oder ver­linkt wer­den. Auch über die Face­book-Seite des Sprachlogs wird über alle Beiträge informiert.

Wir freuen uns auf viele weit­ere Nominierun­gen (über die Nominierungs­seite).

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

9 Gedanken zu „Anglizismus des Jahres: Zwischenmeldung

  1. Achim

    Anglizis­mus welchen Jahres?
    Ich dachte, ihr sucht Neuzugänge aus dem per­fi­den Albion und seinen abtrün­ni­gen Kolonien. Im Blo­gein­trag sind aber viele Beispiele für längst etablierte Anglizis­men enthalten.
    Hab ich da was falsch verstanden?

  2. Matthias

    Achim, du hast da, falls ich mich nicht irre, nichts falsch ver­standen. Die von A.S. oben genan­nten Wörter beziehen sich auf die Gesamtheit der bish­er ein­gere­icht­en Vorschläge. Bevor die Jury tagt, wird die Liste durch Anwen­dung der for­malen Kri­te­rien (u.a. Entste­hungs­jahr) noch aus­gedün­nt. Allerd­ings wurde dies auch schon im Vor­jahr nicht streng beachtet, d.h. der Fokus lag weniger auf dem Jahr der ersten Ver­wen­dung des Anglisz­imus’, son­dern auf dem Jahr, in welchem das Wort in sein­er Bedeutung/Wahrnehmung einen riesi­gen Sprung nach vorn gemacht hat.

  3. Anatol Stefanowitsch

    Kri­te­rien
    Achim, Matthias: Richtig, viele der Nominierun­gen wer­den die näch­ste Runde nicht über­leben, da wer­den erst­mal die Wörter aus­sortiert, die ganz ein­deutig schon länger etabliert sind. Der Rest wird dann genauer geprüft, vor allem in Bezug auf die Frage, wann das Wort sich tat­säch­lich im all­ge­meinen Sprachge­brauch durchge­set­zt hat. Auch da fall­en dann noch Vorschläge weg. Das war im let­zten Jahr auch so, da hat es weniger als die Hälfte der Vorschläge in die Endrunde geschafft.

  4. wihelm

    kyril­lis­che Anglizismen
    richtig span­nend wird es bei Anglizis­men die ins kyril­lis­che über­set­zt wur­den und diese eins zu eins zurück. sind oft der brüller. dafür sollte es hier noch ne eigene kat­e­gorie geben. aus mein­er rich­tung gibts sowas wie re-kbek — rakeback

  5. Krischan

    Fazial­palmierung
    Pri­mal, dass der Begriff dabei ist. Ich finde, das ist eine wun­der­schöne Wortschöp­fung für “facepalm”, die, glaube ich, Fefe (Felix von Leit­ner) zuzuschreiben ist.

  6. phaeake

    Fazial­palmierung (2)
    Das ist auch mein per­sön­lich­er Favorit. Bevor ich ergoogelt habe, was das Wort bedeutet, dachte ich an einen Euphemis­mus für “Verabre­ichung ein­er Ohrfeige”. Ich fände das Wort auch in dieser Bedeu­tung schön.

  7. NörglerIn

    Über­flüs­sig wie ein Kropf
    Unwort des Jahres, Jugend­wort des Jahres, Anglizis­mus des Jahres — wozu soll das nur gut sein?
    Was macht das eine bess­er als das andere?

  8. Gregor

    Bitrte kein “-gate”
    Zusam­menset­zun­gen mit “-gate” am Ende, die auf poli­tis­che Skan­dale gemünzt sind, erfüllen wohl kaum das Neuheit­skri­teri­um. Die erste solche Kon­struk­tion, an die ich mich erin­nere, ist “Waterkant­gate” für den Skan­dal um Uwe Barschel. Das war damals wohl noch neu und ziem­lich witzig wegen des Gle­ichk­langs “Watergate”/“Waterkant”. Alles, was inzwis­chen nachgekom­men ist, amt ein­fach dieses Prinzip nach, ohne mehr zum bieten als die Verbindung irgen­deines Begriffs mit “-gate”. Irgen­wann wer­den auch ursprünglich orig­inelle Prä­gun­gen banal.

  9. Mareike Kaa

    Weit­er­er Vorschlag
    Ich bin mir zwar nicht sich­er, ob es allen Auswahlkri­te­rien stand­hält, aber wie wäre es denn mit Peg­ging (Sex­u­al­prak­tik)?
    Anson­sten finde auch ich den Facepalm sehr, sehr schön.

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