Hacktivism [Kandidaten für den Anglizismus des Jahres]

Von Anatol Stefanowitsch
Button für den Anglizismus des Jahres 2011

But­ton für den Anglizis­mus des Jahres 2011

Mit den Nominierun­gen für den Anglizis­mus des Jahres haben wir es dies­mal nicht ganz leicht: Viele Vorschläge sind zwar sowohl sprach­lich inter­es­sant als auch gesellschaftlich höchst rel­e­vant, ohne dass die Sprachge­mein­schaft das aber bish­er auf bre­it­er Ebene wahrn­immt. Liq­uid Democ­ra­cy und Post-Pri­va­cy fall­en in diese Kat­e­gorie, und Hack­tivism lei­der auch.

Hack­tivism ist eine Ver­schmelzung der Wörter hack und activism und beze­ich­net im Englis­chen den poli­tisch motivierten und nicht autorisierten Zugriff auf infor­ma­tion­stech­nis­che Sys­teme, z.B. Com­put­er­net­zw­erke. Der Ein­trag zu Hack­tivism in der (englis­chen) Wikipedia schreibt die Wortschöp­fung einem Mit­glied der Hack­er­gruppe Cult of the Dead Cow zu und stützt sich dabei auf einen Artikel im Mag­a­zin Wired, in dem es heißt

But no one called tech­nol­o­gy-enabled polit­i­cal activism “hack­tivism” until 1998, when cDc mem­bers Omega, Reid Flem­ing and Ruf­fin were chat­ting online and were, Ruf­fin said, “bounc­ing some wacky ideas around about hack­ing and polit­i­cal lib­er­a­tion, most­ly in the con­text of work­ing with Chi­nese hack­ers post-Tianan­men Square.”

The next morn­ing Omega sent an e‑mail to the cDc list­serv and includ­ed for the first time the word hack­tivism in the post,” Ruf­fin said. “Like most cDc inven­tions, it was used seri­ous­ly and iron­i­cal­ly at the same time — and when I saw it my head almost explod­ed.” [Michelle Delio, Hack­tivism and how it got here, Wired, 14.7.2004]

Tat­säch­lich muss das Wort aber älter sein. Erstens nen­nt das Oxford Eng­lish Dic­tio­nary nen­nt als Erst­be­leg einen Beitrag aus der News­group misc.legal.computing vom 10. Jan­u­ar 1998, indem es heißt „There is a phe­nom­e­non called ‘hack­tivism’ that is valid if it is thought through and the point is deliv­ered with lucid­i­ty, rather than ado­lescense.“ Es ist unwahrschein­lich (aber natür­lich the­o­retisch möglich), dass das Wort zu diesem Zeit­punkt noch keine zehn Tage alt war. Zweit­ens, und das ist entschei­dend, ist das eng ver­wandte Wort hack­tivist (aus hack und activist) laut OED schon drei Jahre früher belegt:

Ever since 1990, when about 300 queers descend­ed on the park at the behest of a local com­put­er hack­tivist unfor­tu­nate­ly named Doug Swal­low, gays and les­bians have annu­al­ly stormed the Mag­ic King­dom – with the tac­it encour­age­ment from the man­age­ment. [James Han­na­ham, Deep Dis­ney: Gay day in the Mag­ic King­dom, The Vil­lage Voice, 27. Juni 1995]

Es ste­ht aber außer Frage, dass Cult of the Dead Cow bei der Pop­u­lar­isierung des Wortes eine wichtige Rolle spiel­ten, unter anderem durch die von ihnen betriebene Web­seite hacktivism.org, die inzwis­chen nur noch über die Way­back Machine des Inter­net Archive ver­füg­bar ist.

Auch die früh­esten Belege, den ich für das Wort Hack­tivism im Deutschen find­en kon­nte, gehen auf das Kon­to von Cult of the Dead Cow: Der erste Beleg stammt aus dem Online-Mag­a­zin Tele­po­lis von 1998:

Näch­sten Monat will die Hack­er­gruppe Cult of Dead Cow, die unlängst mit Back Ori­fice große Aufmerk­samkeit gefun­den hat, ange­blich eine neue Site ins Web für den Hack­tivism stellen, um den dig­i­tal­en Aktivis­ten die nöti­gen Mit­tel zur Ver­fü­gung zu stellen, ihre Aktio­nen durch­führen und miteinan­der in Aus­tausch treten zu kön­nen. „Hack­tivism ist“, so kann man dort bis­lang allerd­ings nur lesen, „eine Poli­tik des Hack­ens, Phreak­ens oder Erzeu­gens von Tech­niken, um ein poli­tis­ches oder gesellschaftlich­es Ziel zu erre­ichen.“ [Flo­ri­an Rötzer, Infowar und poli­tis­ch­er Aktivis­mus, Tele­po­lis, 23.9.1998]

Im sel­ben Artikel kommt übri­gens auch schon die Ein­deutschung Hack­tivis­mus vor, die ins­ge­samt aber noch sel­tener geblieben ist als das Wort Hack­tivism. Selb­st das find­et sich näm­lich in den Jahren 1998–2011 nur 24 Mal im Google-News-Archiv, ohne, dass dabei eine steigende Ten­denz auszu­machen wäre. Im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus sieht es noch schlechter aus. Dort find­en sich über­haupt nur zwei Tre­f­fer: Ein­er von 1999 (in dem es um Cult of the Dead Cow geht), und ein­er von 2011. In dem Artikel von 2011 deutet sich eine radikale Ausweitung der Bedeu­tung des Wortes an:

Rund 100000 Mit­glieder des sozialen Net­zw­erks Face­book haben sich auf der Seite „Kein Stuttgart 21“ organ­isiert. Tausende von ihnen haben ihr Pro­fil­fo­to zudem mit dem But­ton „Oben bleiben — Kein Stuttgart 21“ verse­hen. Andere beteili­gen sich an Aktio­nen wie der von Food­watch: Die Ver­braucheror­gan­i­sa­tion hat­te aufgerufen, für Nimm-2-Bon­bons beim Inter­netkaufhaus Ama­zon schlechte Bew­er­tun­gen abzugeben. „Hack­tivism“ wird das poli­tis­che Engage­ment übers Web genan­nt. [Nürn­berg­er Nachricht­en, Bock auf Poli­tik, 12.2.2011]

Hier wird Hack­tivism von sein­er ursprünglichen Bedeu­tung „poli­tisch motiviertes Ein­drin­gen in Com­put­er­net­zw­erke“ auf jede Art von net­zgestütztem Aktivis­mus aus­gedehnt. Auf der Grund­lage des Google-News-Archiv lässt sich aber nicht ver­muten, dass diese Bedeu­tungsausweitung Sys­tem hat: Alle Artikel aus dem Jahren 2009–2011 ver­wen­den das Wort in sein­er ursprünglichen Bedeu­tung. Sin­nvoll wäre eine Ausweitung des Wortes auch gar nicht, denn für net­zgestützten Aktivis­mus gibt es bere­its die deut­lich weit­er ver­bre­it­eten Wörter Online-Aktivis­mus, Inter­ne­tak­tivis­mus, Net­za­k­tivis­mus und sog­ar Cyber­ak­tivis­mus.

Ins­ge­samt ist Hack­tivism wohl wed­er neu genug, noch aus­re­ichend weit ver­bre­it­et, um sich in diesem Jahr für den Anglizis­mus des Jahres zu qual­i­fizieren. Vielle­icht schafft es das aber in ein paar Jahren: Da es derzeit recht sel­ten ist, hat es ein großes Poten­zial für Häu­figkeitssprünge nach oben. Das ist kein Ruf nach mehr Hack­tivism (obwohl der sowieso kom­men dürfte), son­dern nur die Hoff­nung, dass diese schöne Wortschöp­fung sprach­lich erfol­gre­ich sein möge.

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

Dieser Beitrag wurde unter Altes Sprachlog abgelegt am von .

Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.