Ringen um Verständnis

Von Anatol Stefanowitsch

Wer im Inter­net über alltäglichen Sex­is­mus, Ras­sis­mus, Homo­pho­bie und andere Arten der Diskri­m­inierung schreibt — zum Beispiel über die sex­is­tis­che Wer­bung eines Musikver­sand­haus­es oder ein­er Fluglin­ie, über spär­lich gek­lei­dete Elfen mit Bar­bie-Kör­pern in Über­raschung­seiern für Mäd­chen, über ras­sis­tis­che Stereo­type im beliebtesten Kinder­buch der Welt, über Frauen stereo­typ­isierende Wer­bung in ein­er fem­i­nis­tis­chen Zeitrschift, über Radiosendun­gen über Sex­is­mus, zu denen nur Män­ner ein­ge­laden wer­den, usw. –, braucht auf zwei Dinge nicht lange zu warten: Men­schen, die fest­stellen, dass das Beschriebene völ­lig irrel­e­vant ist und ganz und gar nichts mit „echter“ Diskrim­inerung zu tun hat und Men­schen, die sich empört gegen den ver­meintlichen Ver­such wehren, ihnen Ver­hal­tensvorschriften zu machen, wo sie doch ganz genau wis­sen, dass ihr Ver­hal­ten keines­falls diskri­m­inierend sein kann (falls es Diskri­m­inierung in unser­er mod­er­nen Gesellschaft über­haupt noch gibt).

Da wed­er die Fest­stel­lung noch die Empörung nor­maler­weise mit Argu­menten unter­füt­tert wird und da Erk­lärungs- und Diskus­sionsver­suchen meist mit ein­er stumpfen Wieder­hol­ung der Fest­stel­lun­gen und der Empörung begeg­net wird, steigt mit jedem Mal die Ver­lock­ung, diese Men­schen als unverbesser­liche Dummköpfe oder bösar­tige Trolle abzuschreiben, ihre Kom­mentare zu löschen oder gar nicht erst freizuschal­ten und sich auch son­st nicht mehr auf Gespräche mit ihnen einzulassen.

Allerd­ings sind diese Men­schen — und zwar ganz unab­hängig davon, ob sie tat­säch­lich Trolle oder Dummköpfe sind — Teil des Sys­tems, in dem die Diskri­m­inierung stat­tfind­et, und dieses Sys­tem wird sich nicht verän­dern lassen, solange eine Mehrheit (oder auch nur eine große Min­der­heit) die Diskri­m­inierung nicht sieht und fol­glich nicht für real hält. Wir müssen uns deshalb fra­gen, wo die Ursachen für den Man­gel an Ver­ste­hen liegen.

Mit dieser Frage beschäfti­gen sich auch die Sozi­ologin­nen Sher­ryl Klein­man und Martha Copp (2009), die ähn­liche Prob­leme nicht von Blogkommentator/innen son­dern aus ihrer jahrzehn­te­lan­gen Erfahrung mit Studieren­den ken­nen und die aus deren Reak­tio­nen vier unbe­wusste und tief ver­wurzelte All­t­ags­the­o­rien abgeleit­et haben, die das Ver­ste­hen von Ungle­ich­heit und Diskri­m­inierung erschweren:

1.) Schaden ist direkt und unmit­tel­bar. Men­schen gehen davon aus, dass die schädlichen Kon­se­quen­zen ein­er Hand­lung sofort ein­treten und klar sicht­bar sind und dass schädlich­es Ver­hal­ten klar von nicht-schädlichem Ver­hal­ten unter­schieden wer­den kann.

2.) Schädlich­es Ver­hal­ten hat psy­chol­o­gis­che Ursachen. Men­schen gehen davon aus, dass die Ursachen für schädlich­es Ver­hal­ten in der Psy­che von Indi­viduen zu suchen sind — etwa in bösen Absicht­en oder in psy­chol­o­gis­chen Störungen.

3.) Schaden entste­ht nur durch absichtsvolles Han­deln. Men­schen gehen davon aus, dass nur solche Hand­lun­gen schädlich sein kön­nen, die darauf aus­gerichtet sind, jeman­dem zu schaden, oder die dies bewusst in Kauf nehmen. Ver­hal­tensweisen, die Spaß machen oder Freude bere­it­en sollen, kön­nen dage­gen nicht schädlich sein

4.) Schaden kann immer einzel­nen Indi­viduen zuge­ord­net wer­den. Meschen gehen von ein­fachen Ursache-Wirkungs-Beziehun­gen aus, bei dem jed­er Schaden auf eine bes­timmte Hand­lun­gen eines einzel­nen zurückgeht.

Aus diesen All­t­ags­the­o­rien fol­gen gewisse Vorstel­lun­gen darüber, welche Ver­hal­tensweisen schädlich sein kön­nen, und welche nicht.

Aus 1.) fol­gt die Vorstel­lung, dass Ver­hal­tensweisen ohne sofor­tige und sicht­bare Schä­den über­haupt keinen Schaden verur­sachen. Dass sich hun­derte klein­er, nicht sicht­bar­er Schä­den anhäufen und in der Summe zu großen Schä­den führen, wird damit aus­ge­blendet. Aus 2.) und 3.) fol­gt, dass wohlmeinende und psy­chol­o­gisch unauf­fäl­lige Men­schen keinen Schaden anricht­en kön­nen und dass gut­ge­meintes Ver­hal­ten keine neg­a­tiv­en Kon­se­quen­zen hat. Aus 4.) fol­gt, dass es keine struk­turellen Ursachen für gesellschaftliche Schä­den geben kann.

Diese All­t­ags­the­o­rien stören die Diskus­sion von Ungle­ich­heit, Diskri­m­inierung und sozial schädlichem Ver­hal­ten in zweifach­er Weise.

Erstens machen sie es denen, die sich dieser All­t­ags­the­o­rien nicht aus­re­ichend bewusst sind, schw­er, Diskri­m­inierung und schädlich­es Ver­hal­ten über­haupt als solch­es zu erken­nen. Nur bewusst ver­let­zen­des Ver­hal­ten einzel­ner mit sofort sicht­baren neg­a­tiv­en Kon­se­quen­zen wird dann als schädlich akzep­tiert — also z.B. frauen- oder frem­den­feindliche oder homo­phobe Belei­di­gun­gen oder Gewalt­tat­en. Gut gemeintes Ver­hal­ten (Frauen die Tür aufhal­ten), geschlechtsspez­i­fis­che Nor­men (Make-Up, bes­timmte Far­ben und Klei­dungsstile), „scherzhaft“ oder „neu­tral gemeinte“ Ver­wen­dun­gen ras­sis­tis­ch­er, sex­is­tis­ch­er oder homo­phober Sprache, „geschlechtsspez­i­fis­ches“ Spielzeug, unre­al­i­sis­che Kör­per­bilder und stereo­type Rol­len­verteilun­gen in Wer­bung und Medi­en usw. wer­den nicht als Prob­lem erkan­nt, da sie meist nicht in bös­er Absicht geschehen, da sie sich in beste­hende gesellschaftliche Struk­turen ein­fü­gen und nicht einzel­nen, gestörten Indi­viduen zugeschrieben wer­den könne, da sie schein­bar keine unmit­tel­bar sicht­baren Schä­den anrichten.

Zweit­ens machen sie es denen, die sich dieser All­t­ags­the­o­rien nicht aus­re­ichend bewusst sind, schw­er, angemessen mit ihrem eige­nen Anteil an diskri­m­inieren­dem Ver­hal­ten und diskri­m­inieren­den Struk­turen umzuge­hen. Das eigene schädliche Ver­hal­ten wird nicht erkan­nt (ich kann nichts falsch gemacht haben, wenn ich keine böse Absicht hat­te), der Hin­weise auf struk­tru­elle Ungerechtigkeit­en und vor allem auf struk­turelle Priv­i­legien wird als per­sön­liche Schuldzuweisung ver­standen (da Schaden ja immer Indi­viduen zuge­ord­net wird).

Bei unseren Diskus­sio­nen von All­t­ags­diskri­m­inierung soll­ten wir deshalb darauf acht­en, diese All­t­ags­the­o­rien expliz­it einzubeziehen und deut­lich zu machen, dass eine rosa Bar­bie-Elfen in pornographis­ch­er Posen allein oder eine einzelne Anzeige, in der mit rosa Hand­taschen­klis­chees für Smart­phone­tar­ife gewor­ben wird, kein Mäd­chen in die Mager­sucht treiben und keine Frau dazu brin­gen wird, sich selb­st nur an ihrem Poten­zial als Sexob­jekt zu messen oder auf eine anspruchsvolle Kar­riere zu verzicht­en. Dass ein einzelnes Kinder­buch in dem ein schwedis­ch­er Trunk­en­bold und seine narzis­stis­che Tochter über ein dunkel­häutiges Süd­seevolk herrschen die jun­gen Leser/innen nicht zu Rassis/innen machen wird. Dass eine einzelne Radiosendung, in der Män­ner für Frauen sprechen, den Zuhören­den nicht den Ein­druck ver­mit­teln wird, dass Frauen nichts Rel­e­vantes zu sagen hätten.

Dass diese Dinge aber im Zusam­men­spiel mit hun­derten ähn­lich­er Erfahrun­gen daran mitwirken, dass sex­is­tis­che, ras­sis­tis­che und andere diskri­m­inierende Struk­turen aufge­baut und fix­iert wer­den. Und zwar unab­hängig davon, ob das beab­sichtigt oder auch nur fahrläs­sig in Kauf genom­men wird, und unab­hängig davon, ob der Schaden, den diese Struk­turen anricht­en, in jedem Fall sofort erkennbar ist.

Außer­dem müssen wir darüber nach­denken, welche weit­eren All­t­ags­the­o­rien möglicher­weise das Ver­ständ­nis diskri­m­inieren­der Struk­turen behin­dern. Eine solche The­o­rie scheint mir z.B. zu sein, dass nur offen­sichtliche Vorteile als Priv­i­legien betra­chtet wer­den, nicht aber die Abwe­sen­heit von Nachteilen (siehe dazu auch John Scalzis wirk­lich guten Blog­beitrag).

Welche weit­eren All­t­ags­the­o­rien fall­en Ihnen/euch ein?

 

KLEINMAN, Sher­rly und Martha Copp (2009). Deny­ing social harm: Stu­dents’ resis­tance to lessons about inequal­i­ty. Teach­ing Soci­ol­o­gy, 37(3), 283–293. [Link (Abo/Paywall)]

 

[Hin­weis: Ich möchte hier All­t­ags­the­o­rien disku­tieren, und son­st nichts. Kom­mentare, die mit dieser Frage nichts zu tun haben und Kom­mentare, die auch nur Anflüge von grup­pen­be­zo­gen­er Men­schen­feindlichkeit bein­hal­ten, wer­den gelöscht.]

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

Dieser Beitrag wurde unter Altes Sprachlog abgelegt am von .

Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

57 Gedanken zu „Ringen um Verständnis

  1. jgoschler

    Behäl­ter­meta­pher
    Prob­lema­tisch kön­nte auch sein, dass Men­schen dazu neigen, sich selb­st in diskrete Kat­e­gorien einzuord­nen und dann davon aus­ge­hen, dass sie das davor beschützt, gle­ichzeit­ig in eine andere Kat­e­gorie zu fall­en. Die All­t­ags­the­o­rie hierzu kön­nte sein: Wenn ich in einem Behäl­ter bin, kann ich nicht gle­ichzeit­ig in einem anderen sein. Wenn also jemand sich selb­st als net­ten Men­schen einord­net — z.B. weil er der alten Nach­barin beim Einkaufen hil­ft, ehre­namtlich als Fußball­train­er mit Kindern arbeit­et und immer fre­undlich grüßt — kann er nicht gle­ichzeit­ig Rassist/Sexist oder anderes sein, denn “das sind böse Men­schen und ich bin ja schon nett” — die sind in einem anderen Behäl­ter als ich, der ich im “net­ten Behäl­ter” bin. Das kön­nte dur­chaus dazu führen, dass selb­st nicht ganz harm­los “gemeinte” ras­sis­tis­che oder sex­is­tis­che Bemerkun­gen oder Hand­lun­gen nicht viel an der Selb­st­wahrnehmung als gutem Men­schen ändern.

  2. Alexander Erben

    Grup­pen­ab­sichtsver­mu­tung (The­o­rie 3x+4x)
    Zwar habe ich im Moment keine zusät­zliche All­t­ags­the­o­rie, würde die 3. und 4. etwas erweit­ern bzw. gegen­büer der indi­vidu­ellen Ebene auch den Grup­pe­naspekt beto­nen wollen:
    Die ‘Absichtsvo­raus­set­zung’ und ‘ein­deutige Schaden­szuord­nung’ gilt auch dann wenn über Diskri­m­inierung auf struk­tureller Ebene gesprochen wird. Entsprechend wird man per sehr oft in die ver­schwörungs­the­o­retis­chen Ecke geschoben, wenn in der Fest­stel­lung struk­tureller Diskri­m­inierung von Gruppe x durch Gruppe y die Behaup­tung ein­er glob­alen + präzise geziel­ten Agen­da mit klaren und bewussten Absicht­en ver­mutet wird.

  3. impala

    Ich kann nicht mit ein­er noch nicht erwäh­n­ten All­t­ags­the­o­rie aufwarten, aber zum The­ma Sex­is­mus und Homo­pho­bie kann ich jedem Pas­coes Buch Dude, you’re a fag* nur anrat­en. Die Sozi­olo­gin Pas­coe hat für diese Feld­studie 18 Monate an ein­er kali­for­nischen High School ver­bracht, um zu unter­suchen wie Männlichkeit kon­sti­tu­iert wird und wie insti­tu­tion­al­isierte und oblig­a­torische Het­ero­sex­u­al­ität und die Homo­pho­bie junger Män­ner sich äußern und mit diesem Männlichkeits­bild in Zusam­men­hang stehen.
    Sie beschreibt sehr anschaulich, wie Ablehnungs- und Bestä­ti­gungsrituale junger Män­ner entste­hen und sich ver­fes­ti­gen und dabei sog­ar von Lehrern und anderem erzieherischen Per­son­al bestätigt und ermutigt wer­den, oft sog­ar unabsichtlich.
    Das Bild mag in Ameri­ka krass­er sein als hier, weil die gesellschaftlichen Umstände etwas weniger pro­gres­siv sind als in West- und Nordeu­ropa, lässt sich aber in Bezug auf die kon­sti­tu­ierte Männlichkeit gut auch auf diese Gesellschaften über­tra­gen und skizziert einen der wichtig­sten Gründe, warum auch hier sex­is­tis­che Wer­bun­gen à la Lufthansa immer noch ohne gesellschaftliche Empörung in Umlauf gebracht wer­den und Homo­sex­uelle erst vors Bun­desver­fas­sungs­gericht ziehen müssen, bis sich ein klein­er Kreis CDU-Abge­ord­neter pseu­do-proak­tiv für sie engagiert.
    Pas­coe, C.J. (2007) Dude, you’re a fag: mas­culin­i­ty and sex­u­al­i­ty in high school. Berke­ley: Uni­ver­si­ty of Cal­i­for­nia Press.

  4. Dilettant

    @jgoschler
    Damit wären wir ein­er der beliebtesten (und pein­lich­sten) Vertei­di­gungsstrate­gien gegen entsprechende Vor­würfe: “Ich bin selb­stver­ständlich kein Rassist/Antisemit/Homophober/etc., einige mein­er besten Fre­unde sind schließlich Schwarze/Juden/Lesben/Schwule/etc.”
    Unter­stellt, die Tat­sachen­be­haup­tung des zweit­en Satzteils trifft zu — ist das nur eine (schlechte) Vertei­di­gungsstrate­gie, oder ist es tat­säch­lich eine All­t­ags­the­o­rie? Anders gesagt: Glauben die Leute tat­säch­lich, dass der logis­che Schluss vom Fre­un­deskreis auf die eigene Ein­stel­lung zuläs­sig ist?

  5. Xplosiv

    Eine weit­ere All­t­ags­the­o­rie, der ich z.B. öfter mal begeg­ne, wenn ich mit anderen Frauen über Sex­is­mus rede, ist die Annahme, dass etwas, was einen selb­st nicht stört, auch andere Men­schen nicht stören kann. So kom­men oft Aus­sagen zus­tande wie “Ist doch kein Prob­lem, dass die Wer­bung Klis­chees, wie “alle Frauen sind scharf auf Schuhe”, auf­greift. Schließlich trifft das Klis­chee auf mich zu, also stimmt es auch. Und ich finde es witzig und auch in Ord­nung, in diesem Punkt belächelt zu wer­den, als sollen sich die Emanzen nicht so haben.”
    Und auf eine ähn­liche Art und Weise kön­nen Men­schen, die sich in ihrer star­ren Gen­der-Rolle gän­zlich wohl fühlen, oft nicht ver­ste­hen, weshalb andere Men­schen ein Prob­lem damit haben, von den Medi­en solche Rol­len­bilder aufgezwun­gen zu bekommen.

  6. Robroy

    Ich gehöre zu der Sorte Men­sch, der bei vie­len der genan­nten Fällen das Prob­lem­be­wusst­sein abge­ht, bzw. diese für lang nicht so gravierend hält wie Sie und andere. Gle­ichzeit­ig halte mich aber für jeman­den, mit dem man vernüftig argu­men­ta­tiv disku­tieren kann (aber ich gehöre auch nicht zu den­jeni­gen, die häu­fig Blog­posts kom­men­tieren, hier oder ander­swo. Daher entschuldige ich mich schon mal vor­sor­glich, falls auf eine Erwiderung Ihrer­seits von mir keine Reak­tion mehr fol­gen sollte.).
    Auf mich wirkt die Pos­tulierung der ersten dieser All­t­ags­the­o­rien wie der Ver­such ein­er Immu­nisierung der The­o­rie, dass die kri­tisierten Ver­hal­tensweisen schädlich sind. Vielle­icht tritt ein Schaden nicht sofort ein und nur in Verbindung mit anderen Fak­toren, aber wenn eine entsprechende Kausalkette mit einem klar sicht­baren Schaden am Ende nicht geblidet (und vor allem auch empirisch nachgewiesen) wer­den kann, liegt das Prob­lem m.E. nicht bei den­jeni­gen, die die Prob­lematik abstre­it­en. Anson­sten kann ich mit genug Kreativ­ität von so ziem­lich allem was ein Men­sch tut oder lässt schädliche Auswirkun­gen behaupten.
    Die Prob­lematik des let­zten Teils der The­o­rie “dass schädlich­es Ver­hal­ten klar von nicht-schädlichem Ver­hal­ten unter­schieden wer­den kann” ver­ste­he ich nicht. Ist es nicht Die Posi­tion von Ihnen und anderen Blog­gern, die sie ver­linkt haben, dass bes­timmte Ver­hal­tensweisen — die ich und andere je nach Fall für gän­zlich unprob­lema­tisch oder zumin­d­est für rel­a­tiv harm­los hal­ten — klar schädlich wirken (vielle­icht nicht für sich alleine, aber in Kom­bi­na­tion mit anderen Faktoren)?

  7. Joachim

    Sys­temtren­nung
    Ich weiß nicht, ob es vielle­icht schon in 4 enthal­ten ist, aber eine mir häu­fig begeg­nende All­t­ags­the­o­rie ist, dass Diskri­m­inierung grund­sät­zlich von ein­er streng abgrenzbaren Gruppe auf eine andere Gruppe aus­geübt wird. Struk­turelle Diskri­m­inierung wird dadurch als eine Art Kampf ein­er Men­schen­gruppe gegen eine andere Missverstanden.

  8. David

    Auf mich wirkt die Pos­tulierung der ersten dieser All­t­ags­the­o­rien wie der Ver­such ein­er Immu­nisierung der The­o­rie, dass die kri­tisierten Ver­hal­tensweisen schädlich sind. Vielle­icht tritt ein Schaden nicht sofort ein und nur in Verbindung mit anderen Fak­toren, aber wenn eine entsprechende Kausalkette mit einem klar sicht­baren Schaden am Ende nicht geblidet (und vor allem auch empirisch nachgewiesen) wer­den kann, liegt das Prob­lem m.E. nicht bei den­jeni­gen, die die Prob­lematik abstreiten.

    Ein­mal an die Hauswand Pis­sen greift den Putz nicht an. Wenn man nun betont, daß vielfach­es und regelmäßiges Pis­sen den Putz irgend­wann doch angreifen und zertören wird, ohne daß ihn dabei let­ztlich ein konkreter einzel­ner Piss­er kaputt gemacht hätte, ist das dann auch schon ein Ver­such, die The­o­rie vom schädlichen Pis­sen zu immunisieren?

  9. kathy

    bloß kein Opfer werden
    Meines Eracht­ens spie­len die Nar­ra­tive von Eigen­ver­ant­wor­tung, Selb­st­bes­tim­mung und vor allem Selb­stver­wirk­lichung eine ganz zen­trale Rolle.
    Ich nehme mal das Beispiel Frauen­quote (weils für mich rel­e­vant war/ist): Frauen wer­den dabei häu­fig zur homo­ge­nen Masse gemacht, die ein­heitlich für (!) die Quote sein sollte, weil es sie ja bet­rifft. Das schreibt Ihnen zu, sie müssten eigen­ver­ant­wortlich und selb­st­bes­timmt (und vor allem sel­ber) darum kämpfen, in bes­timmte Posi­tio­nen zu kom­men. die Rede ist dann von (man­gel­nder) Frauensolidarität.
    Zugle­ich hat die Quote aber irgend­wie auch sowas wie die Kon­no­ta­tion ein­er “Opfer-Hil­fe” erfahren. Deswe­gen kön­nen sich viele (v. a. junge) Frauen damit nicht iden­ti­fizieren, weil sie es ja selb­st (durch Leis­tung, Selb­st­bes­tim­mung, Eigen­ver­ant­wor­tung etc.) schaf­fen wollen (und sollen). bleibt man in der Logik der Selb­stver­wirk­lichung, ver­hin­dert Opfer­hil­fe die wahre Selbstbestimmung.
    Diese Nar­ra­tive “ich kann alles erre­ichen, was ich will” verdeck­en Diskri­m­inierung in mehrfach­er Hinsicht:
    a) wer­den diejeni­gen, die es geschafft haben, sich gegen Diskri­m­inierung zu wehren, durch dieses Nar­ra­tiv manch­mal blind für Diskri­m­inierung (ich habs geschafft, also kann es jede schaffen)
    b) wer­den sie zum Feigen­blatt für Diskri­m­inierung (Wir haben ne Kan­z­lerin, also kann es jede schaffen)
    c) fol­gt daraus: wenn Du es nicht schaffst, liegt es an Dir (und nicht an Struk­turen etc).

  10. tungl

    Vielle­icht eine weit­ere All­t­agth­e­o­rie: Men­schen, die von Diskri­m­inierung selb­st betrof­fen sind, kön­nen nicht “objek­tiv” darüber disku­tieren. Im Gegen­satz dazu wird die Per­spek­tive der Mehrheitsgesellschaft/der priv­iligierten Gruppe als neu­tral dargestellt/wahrgenommen.
    Es wird dabei so getan, als betr­e­ffe Diskri­m­inierung nur die Gruppe, gegen die sie sich richtet. Das dialek­tis­che Ver­hält­nis von Über- und Unter­priv­iligierung wird dabei völ­lig ignori­ert. Daher kön­nen z.B. Deutsche ohne Migra­tionsh­in­ter­grund sich ein­bilden, sie kön­nten die Lage von Einwanderern/Menschen mit MH objek­tiv und fair bew­erten, während sie Äußerun­gen der Betrof­fe­nen selb­st partei­isch, eigen­nützig und ein­seit­ig abtun.

  11. Robroy

    David: Nö, aber ange­blich soll ja schon das Behar­ren auf den Nach­weis eines klar sicht­baren Schadens (meinetwe­gen auch durch mehrfache Wieder­hol­un­gen ein­er bes­timmten Hand­lung, oder durch das Zusam­men­wirken ver­schieden­er Hand­lun­gen) prob­lema­tisch sein.

  12. Anna

    @jgoschler (Behäl­ter­meta­pher)
    Das stelle ich genau so in meinem (erweit­erten) Umfeld fest: “Du irrst dich, wenn du meine Witzeleien als sex­is­tisch empfind­est, weil ich ja links wähle.”

  13. Tas

    Vielle­icht nicht stark genug, eine eigene All­t­ags­the­o­rie zu sein, doch ich beobachte oft den Ver­such, die Diskri­m­inierun­gen und Vorteile ver­schieden­er Grup­pen als gle­ich­w­er­tig zu definieren. “Klar ist es doof als Schwuler nachts allein um seine Gesund­heit fürcht­en zu müssen, aber dafür dür­fen die viel mehr Gefüh­le zeigen.” “Aber Behin­derte dür­fen bil­liger Bus fahren, das gle­icht doch aus, dass sie an der Hälfte der Hal­testellen gar nicht reinkommen.”

  14. Nathalie

    In Anlehnung an Joachims Beitrag würde ich noch die fol­gende All­t­ags­the­o­rie for­mulieren: Die Mit­glieder ein­er Gruppe kön­nen durch ihr Ver­hal­ten nicht zur (struk­turellen) Diskri­m­inierung der eige­nen Gruppe beitra­gen. Oder anders herum: Wenn einzelne Mit­glieder ein­er Gruppe etwas tun, kann es nicht schädlich für diese Gruppe sein.

  15. Elaria

    Auf den Punkt / West­liche Überlegenheit
    Lieber Herr Stefanowitsch,
    danke das Sie The­men die mir am Herzen liegen, so wun­der­bar auf den Punkt brin­gen. Heute zum Beispiel wurde mir gesagt “ob ich auf dem Fem­i­nis­mus­trip hän­genge­blieben bin, Frauen in D erleben sone Dinge nicht.” Solche Aus­sagen brin­gen mich fast zur Weißg­lut. Die Struk­turen zu ver­ste­hen halte ich auch für sin­nvoller, als die weitver­bre­it­ete Mei­n­ung “Trolle” ein­fach zu ignori­eren. Allerd­ings frage ich mich ob denn jede Fem­i­nistin einen Lehrauf­trag für Unverbesser­liche hat, denn es kostet doch sehr viel Kraft und hat sel­ten Erfolg. Ich habe Ihren Beitrag übri­gens gern auf meinem Blog ver­linkt. http://lippyanswer.blogspot.de/…woche-mukke.html
    Zum Thema:
    Eine weit­ere All­t­ags­the­o­rie ist vielle­icht in der west­lichen Über­legen­heit und dem Demokratiev­er­ständ­nis zu find­en. Die Ansicht, dass zum Beispiel im aufgekärten Deutsch­land die Emanzi­pa­tion rechtlich abgeschlossen ist, nie­mand gefoltert oder poltisch ver­fol­gt wird, lässt vielle­icht Manche zu dem Schluss kom­men, dass sex­is­tis­che und ras­sis­tis­che Äußerun­gen in D keine direk­ten Auswirkun­gen haben. Es geht uns doch gut. Die Frauen dür­fen hier doch sog­ar Aut­o­fahren. Was Ihnen fehle, ist lediglich der Humor [sic!]

  16. Gerhard

    @Dilettant @Joachim
    Eure Gedanken weitergeführt:
    Ange­hörige ein­er Gruppe, die Diskri­m­inierun­gen aus­ge­set­zt ist, diskri­m­inieren selb­st nicht, würde dann die All­t­ags­the­o­rie lauten.

  17. BVG-Insasse

    Höflichkeit unter Mitmenschen
    “Gut gemeintes Ver­hal­ten (Frauen die Tür aufhalten)”
    Ich finde dieses Beispiel als extrem ungün­stig, da ich das Aufhal­ten von Türen in kein­er Art und Weise als diskri­m­inier­ent empfinde. Woher soll eine Frau, der ich die Tür aufhalte, wis­sen, ob ich ihr jet­zt die Tür aufhalte, weil sie eine Frau ist, oder weil ich dies bei jedem machen würde?
    Ich jeden­falls halte allen Men­schen (Män­nern, Frauen, Kindern, Alten, …) die Tür auf, falls es sich anbietet.
    Ich habe die Ten­denz beobachtet, nor­males zwis­chen­men­schlich­es Ver­hal­ten als Diskri­m­inierung auszule­gen, falls es nicht dem eige­nen Welt­bild oder den eige­nen Wün­schen entspricht.

  18. Till Westermayer

    Zus­tim­mung!
    Keine weit­ere All­t­ags­the­o­rie, aber eine Bestä­ti­gung, dass das ein guter Ansatz ist, um Ver­hal­ten zu erk­lären. Aus mein­er eige­nen Gen­der-Stud­ies-Prax­is her­aus kenne ich fol­gen­des Debat­ten­frag­ment näm­lich nur zu gut:
    Ich: Und hier sehen wir, dass soundso­viel Prozent der Frauen und soundso­viel Prozent der Män­ner in Teilzeit arbeit­en. Für mich ist das auch ein Hin­weis darauf, dass hier bes­timmte Vorstel­lun­gen über Geschlechter­rollen herrschen.
    Gesprächspart­ner­In: Na, aber die wer­den doch ihre Gründe haben, sich für Teilzeit zu entschei­den. Ich kenne da zum Beispiel Frau X, da war das ein­fach klar, dass sie in Teilzeit geht und er voll weit­er­ar­beit­et. Das hat in deren Leben­s­pla­nung gut reingepasst.
    Ich: Das Prob­lem ist nicht die einzelne Entschei­dung, aber das, was in der Summe dabei her­auskommt. Die Struk­turen, die sich aus den vie­len indi­vidu­ellen Entschei­dun­gen ergeben — und dann eben in Zahlen wie diesen abbilden.
    Gesprächspart­ner­In: Aber das kann doch jed­er selb­st entscheiden.
    Ich: Argh!
    Sowas wie die “indi­vid­u­al­is­tic fal­la­cy” oder so. Und ein wichtiger Grund, warum es Sozi­olo­gie geben muss.

  19. schneeschwade

    Ich glaube, in Bezug auf Diskri­m­inierungs­diskus­sio­nen ist die All­t­ags­the­o­rie viel­er Men­schen: “Das ist doch eh nur so ein link­er Scheiß!”
    Ich glaube, dass Lager­denken da tat­säch­lich eine große Rolle spielt.
    Aber das ist nur die eine Hälfte.
    Das eigentliche Prob­lem, das ich auch sehe, ist, dass Diskus­sio­nen um Diskri­m­inierung nie nur über Diskri­m­inierung gehen. Es geht dabei eben auch um gesellschaftliche Deu­tung­shoheit. Ich meine das jet­zt ganz neu­tral und nicht polemisch: In Diskri­m­inierungs­de­bat­ten wer­den Macht­fra­gen verhandelt.
    Das sieht man alleine schon daran, über welche Diskri­m­inierun­gen gere­det wird und über welche nicht. Nach mein­er Ein­schätzung sind das in absteigen­der Reihenfolge:
    — Diskri­m­inierung nach Geschlecht
    — nach “Rasse”/Ethnie/Herkunft
    — nach sex­ueller Orientierung
    — nach Behinderung
    Ganz sel­ten z.B. wird über Diskri­m­inierung von äußer­lich unat­trak­tiv­en Men­schen gere­det (die es ja nach­weis­lich gibt). Ich habe let­zthin sog­ar von ein­er Studie gele­sen, in der der Nach­weis geführt wurde, dass Einzelkinder bessere Kar­ri­erechan­cen hät­ten als Geschwis­terkinder. Das ist eine Diskri­m­inierung über die gar nicht gere­det wird. Schlussendlich: Wenn jemand käme und sagte: “Ich werde diskri­m­iniert, weil ich katholisch bin”, wäre, so prophezei­he ich, bei vie­len die Reak­tion nicht Mitleid, son­dern Häme.
    Ich glaube, es täte der Diskus­sion gut, wenn sie weniger ver­bis­sen geführt würde, wenn wir alle etwas entspan­nter sagen würde: “Diskri­m­inierung passiert immer und über­all. Wenn wir uns alle anstren­gen, kann sie weniger wer­den. Aber ganz tot kriegen wir sie nie.”

  20. Dierk

    @Dilettant
    Die glauben das.
    Das Phänomen der Selb­st­täuschung — ein­er notwendi­gen Strate­gie, um [halb­wegs] erfol­gre­ich durchs Leben zu kom­men — lässt darauf schließen: Wir sehen uns selb­st als nett, hil­fre­ich, moralisch gut, richtig denk­end. Selb­st Leute, die Men­schen ander­er Herkun­ft ver­prügeln oder ihre [Not]Unterkünfte anzün­den und hof­fen, dass auch einige der Bewohn­er ver­bren­nen, hal­ten sich nicht für böse, ja, nicht ein­mal für Ras­sis­ten. Ihr Argu­ment lautet immer ‘Ich habe nichts gegen Aus­län­der, wenn sie in ihrem Land bleiben.’
    Der US-amerk­i­nais­che Satirik­er Stephen Col­bert hat daraus einen run­ning gag gemacht; er zeigt ein Foto von sich, er grinst darauf bre­it, hält ein Mit­glied irgen­dein­er “Min­der­heit” im Arm und zeigt auf diese … ‘Mein Fre­und der Mexikaner/Indianer/Schwarze/Franzose/etc.!’

  21. Ludmila

    @BVG-Insasse: Zum The­ma ‘Tür aufhalten’
    Ich kann da eine pri­ma Geschichte zum Besten geben, wie sex­is­tisch aufge­laden für manche Men­schen ein sim­ples ‘Tür-aufhal­ten’ ist.
    Ich war mal mit Kol­le­gen auf einem Betrieb­saus­flug und sind Stärkung in ein Café eingekehrt. Beim Raus­ge­hen war ich in ein Gespräch mit Kol­le­gen ver­tieft, die hin­ter mir gin­gen und bekam so nicht mit, dass ein Gast­wissenschaftler vor mir die Tür aufhal­ten wollte.
    Ich griff also automa­tisch selb­st zur Tür und machte mir auf, bevor der Kol­lege vorau­seilen und es für mich tun kon­nte. So weit, so unspektakulär.
    Anschließend aber meinte besagter Kol­lege ’scherzhaft’ zu mir, er hätte mir ja liebend gerne die Tür aufge­hal­ten, aber dass es die deutschen Frauen ihm echt schw­er machen wür­den galant zu sein, weil die so ver­dammt emanzip­iert seien und alles selb­st machen müssten.
    Ich hab dem Typen dann ganz klar und laut ins Gesicht gesagt, dass Frauen eben nicht dazu da seien, um sein Über­legen­heits­ge­fühl zu befriedi­gen und dass es ja wohl sein höch­steigenes Prob­lem wäre, wenn er sich an emanzip­ierten Frauen stört.
    Es geht nicht um das ‘Tür aufhal­ten’ an sich, son­dern die Inten­tion die dahin­ter steck­en kann, nicht muss. Ich halte grund­sät­zlich auch jedem Men­schen, die Tür auf, der/die hin­ter mir geht. Aber ich beziehe daraus kein Über­legen­heits­ge­fühl oder starre anschließend der betr­e­f­fend­en Per­son anerken­nend auf den Hintern.

  22. Phaeake

    Tür aufhal­ten
    Ich finde die Diskus­sion zum The­ma “Tür aufhal­ten” sehr auf­schlussre­ich und daher das Beispiel sehr gut gewählt.
    Ver­ste­he ich Sie, Lud­mil­la, richtig, dass Sie den Ver­such des Gast­wissenschaftlers, Ihnen die Tür aufzuhal­ten, an sich nicht als diskri­m­inierend inter­pretiert hät­ten, son­dern zu dieser Ein­schätzung erst durch dessen “scherzhafte” Verbindung des Vor­falls mit dem Emanzi­pa­tion­s­the­ma gelangt sind?

  23. ben_

    Schiefe-Ebene-Argu­men­ta­tion
    Hm … ist die Argu­men­ta­tion, “dass sich hun­derte klein­er, nicht sicht­bar­er Schä­den anhäufen und in der Summe zu großen Schä­den führen […]” nicht eine noch schwächere Vari­ante des Schiefe-Ebe­nen-Argu­mentes und damit selb­st eine eher ein Argu­men­ta­tion­s­muster der All­t­ags­the­o­rie? Ich weiß noch aus dem Philoso­phie Studi­um, dass der Schiefe-Ebe­nen-Argu­men­ta­tion (zumin­d­est von meinen Profs) immer mit großer Skep­sis begeg­net wurde.
    Daher würde ich sel­ber immer eher eine Argu­men­ta­tion bevorzu­gen, bei der ich eine moralisch-ethis­che Posi­tion beziehen, wohl wis­send, dass ich da ggf. Gefahr laufe, dass die als über­zo­gen betra­chtet wird. Ich finde es bess­er für die Posi­tio­nen einzutreten, die man für richtig hält und ggf. damit über’s Ziel hin­auszuschießen. Gren­zen ziehen, auch wenn sie evtl. nicht kon­sis­tent sind.

  24. impala

    Wenn jemand käme und sagte: “Ich werde diskri­m­iniert, weil ich katholisch bin”, wäre, so prophezei­he ich, bei vie­len die Reak­tion nicht Mitleid, son­dern Häme.

    Ob es in unserem Kul­turkreis Katho­liken gibt, die echt diskri­m­iniert wer­den, sei nochmal dahingestellt, aber wenn dem so ist, stießen diese wahrschein­lich in der Tat auf weniger Mitleid, weil sie sich ein­er religiösen Gruppe angeschlossen haben, die in ihrer Geschichte nach allen Regeln der Kun­st diskri­m­iniert und aus­ge­gren­zt hat und dies auch heute noch tut.
    Im Übri­gen erlebt man in vie­len Diskus­sio­nen (v.a. in den USA aber in abgeschwächter Ver­sion auch hier) um die Homoe­he immer wieder, dass Gläu­bige sich diskri­m­iniert fühlen, weil sie sich daran gehin­dert fühlen, die “tra­di­tionelle” Ehe zu “schützen” und ihren Glauben auszuleben, d.h. andere zu diskri­m­inieren und benachteili­gen zu wollen.

  25. Pechmarie

    Behäl­ter­meta­pher andersrum
    The­o­rie: “Man kann jeman­den in eine bes­timmte Gruppe einord­nen ohne dadurch automa­tisch gle­ich die gesamte Gruppe zu diskriminieren.”
    Ich habe lange nach ein­er knack­i­gen For­mulierung für diesen an sich eher banalen Sachver­halt gesucht und bin mit dem Ergeb­nis nicht zufrieden, daher eine kurze Erläuterung aus mein­er eige­nen Erfahrung:
    Als in der Schweiz lebende Deutsche bin ich Teil ein­er großen und recht unbe­liebten Min­der­heit und füh­le mich deswe­gen häu­fig diskriminiert.
    Was mich bei vie­len kleineren und auch eini­gen größeren Vor­fällen dabei am meis­ten stört ist, dass “wir Deutschen” ja keineswegs eine so homo­gene Gruppe sind, wie wir hier häu­fig dargestellt werden.
    Natür­lich bin ich Deutsche (in mein­er Erfahrung fällt man dadurch in der Schweiz vor allem sprach­lich, aber auch in einem deut­lich kon­fron­tieren­deren Ver­hal­ten in Kon­flik­t­si­t­u­a­tio­nen auf), aber außer­dem bin ich noch alles mögliche andere: ich bin eine Frau, habe eine sex­uelle Ori­en­tierung, einen Beruf, einen famil­iären Hin­ter­grund, poli­tis­che Ansicht­en, Hob­bies, Inter­essen usw.
    Auf Dauer ist es wirk­lich ver­let­zend, ständig als Teil ein­er Gruppe wahrgenom­men zu wer­den, die es in mein­er Lebenswirk­lichkeit ein­fach nicht gibt.
    Wie gesagt, das sind keine Gedanken von unaus­lot­bar­er Tiefe, aber wenn es denn mal tat­säch­lich zu Diskus­sio­nen kommt endet es meis­tens an diesem Punkt.
    Für Vorschläge, das grif­figer zu for­mulieren bin ich dankbar.

  26. Noyt der Tiger

    Grundle­gend schön-schwierige Prämissen
    Ich lese diskri­m­inieren mit der mod­er­nen Bedeu­tung des Ety­mol­o­gis­chen Wörter­buchs des Deutschen als “jmdn. abson­dern, ihn durch unangemessene, unwürdi­ge Behand­lung in den Augen der anderen her­ab­set­zen”. Und dann ergeben sich für mich drei ganz andere, grundle­gen­dere All­t­ags- und Wis­senschaft­san­nah­men, die das Ver­ständ­nis oder bess­er die Besei­t­i­gung diskri­m­inieren­der Struk­turen behindern.
    1. Diskri­m­inierung entste­he aus Ungle­ich­be­hand­lung von Grup­pen. Daraus leit­et man näm­lich ab, dass Gle­ich­be­hand­lung dieser Grup­pen die Diskri­m­inierung beseit­ige. Da man aber nun ständig auf die Verteilung zwis­chen den Grup­pen achtet, wird die Unter­schei­dung ob des grup­pieren­den Merk­mals ver­all­ge­mein­ert und damit die Diskri­m­inierung teils erst geschaf­fen, jeden­falls aber per­pe­tu­iert und oft verstärkt.
    Würde man hinge­gen die Grup­pierung ver­mei­den — dann ver­schwände die Bedeu­tung der entsprechen­den Unter­schei­dung. Das ist zwar schw­er umzuset­zen, aber zumin­d­est in Ansätzen möglich. Man muss etwa in Wer­bung oder Presse dann Dif­feren­zen inner­halb der Gruppe beto­nen — statt Grup­pen gegeneinan­der zu stellen.
    2. Ungle­ich­heit bedeute Mehr- oder Min­der­w­er­tigkeit. Daraus leit­et man näm­lich ab, dass jede Dif­feren­zierung auch zu ein­er Bew­er­tung führt und damit zur Abw­er­tung ein­er Gruppe und zur Aufw­er­tung der anderen Gruppe.
    Würde man hinge­gen etwa mit Kon­fuz­ius jede Ungle­ich­heit als Ander­sar­tigkeit und damit als Entwick­lungschance begreifen — dann wäre keine indi­vidu­elle oder gesellschaftliche Ein­grup­pierung diskri­m­inierend. Das ist zwar schw­er zu ver­mit­teln, aber zumin­d­est in Eige­nar­beit möglich. Man muss etwa in Wis­senschaft oder Poli­tik dann auch Ander­s­denk­ende akzep­tieren — statt sie abw­er­tend zu belehren.
    3. Priv­i­legien seien zwin­gend diskrim­ierend. Daraus leit­et man näm­lich ab, dass jedes Priv­i­leg zu beseit­i­gen ist. Dann wird auf die Priv­i­legien aber beson­ders geachtet und ihre gesellschaftliche Wirkung über diese Achtung oft mit­be­grün­det oder verstärkt.
    Würde man hinge­gen etwa mit dem Tao­is­mus die zwin­gende Verbindung aller Priv­i­legien mit der entsprechen­den Verpflich­tung beto­nen — dann wäre kein Priv­i­leg mehr diskri­m­inierend. Das ist zwar schw­er umzuset­zen, aber zumin­d­est wirtschaftlich möglich. Man muss etwa im Helfen oder Dienen dann auch Freude empfind­en kön­nen — statt immer Lohn zu fordern.
    Dann wird die Lösung der Prob­leme aber deut­lich kom­pliziert­er und wir kom­men mit unseren üblichen, über­wiegend auch oben dargestell­ten Kat­e­gorien nicht weit­er. Wir müssen dann etwa disku­tieren was Schaden ist. Wir müssen aufhören ständig auf irgendwelche Diskri­m­inierun­gen hinzuweisen oder gar pos­i­tive Diskri­m­inierun­gen einzuführen — denn mit Bei­dem wirken wir an der Diskri­m­inierung kräftig mit.
    Wir kön­nen dann anstren­gend schön erleben, dass man von jedem Wesen etwas ler­nen kann — so trol­lig oder dumm es auch sein mag, es ist in vielem bess­er als wir es sind. Und das gilt auch für kleine Äußerun­gen und oft für schein­bar beson­ders trol­lige oder dumme. Und wir kön­nen von denen, die in einem Stereo­typ gern leben, ebenso­viel ler­nen wie von denen, die ihn kat­e­gorisch ablehnen. Und wir kön­nen (etwa an der Tür, beim Spielzeug oder in der Klei­dung) mit den Rollen spie­len, kön­nen bei­de erleben und wer­den merken, dass wir dadurch erst uns vervollständigen.
    Und dann spüren wir vielle­icht: Diejeni­gen, die schein­bar alles erre­icht haben, die haben in Wirk­lichkeit nichts erre­icht. Diejeni­gen aber, die schein­bar nichts erre­icht haben, die haben in Wirk­lichkeit viel erre­icht. Und diejeni­gen, die jeden Augen­blick mit kindlich­er Neugi­er leben, die erre­ichen alles — auch die Lösung aller Struk­tur­prob­leme unser­er Gesellschaft(en).

  27. Phaeake

    Nach­frage an Pechmarie
    Pech­marie schrieb: “The­o­rie: “Man kann jeman­den in eine bes­timmte Gruppe einord­nen ohne dadurch automa­tisch gle­ich die gesamte Gruppe zu diskriminieren.”
    Ist das Ihres Eracht­ens eine All­t­ags­the­o­rie, die das Ver­ständ­nis diskri­m­inieren­der Struk­turen behin­dert? Würde es also das das Ver­ständ­nis diskri­m­inieren­der Struk­turen befördern, wenn man sich klar machte, dass man mit jed­er Einord­nung eines Indi­vidu­ums in eine Gruppe aufo­ma­tisch die gesamte Gruppe diskri­m­iniert? Wenn Sie das so gemeint haben, wäre ich ander­er Auf­fas­sung. Das zu begrün­den möchte ich aber erst unternehmen, wenn ich mir sich­er bin, dass Sie es so gemeint haben.

  28. gnaddrig

    @ Elar­ia: Lehrauftrag
    Allerd­ings frage ich mich ob denn jede Fem­i­nistin einen Lehrauf­trag für Unverbesser­liche hat, denn es kostet doch sehr viel Kraft und hat sel­ten Erfolg.
    Das müssen Sie schon selb­st entschei­den. Je wichtiger Sie es find­en, dass mehr Leute das mit der Diskri­m­inierung und dem Priv­i­leg ver­ste­hen, desto eher wer­den Sie sich selb­st einen solchen Lehrauf­trag geben. Auch wenn es eine ziem­lich frus­tri­erende Sisy­phus-Arbeit” sein kann.
    Mir geht so, dass ich The­men, die mir wichtig sind, in Wellen mal mehr mal weniger aktiv beackere. Da die eige­nen Bemühun­gen ja sowieso nur ein Tropfen im Ozean ist und für sich genom­men nicht viel bewirken, kann man sich die Ruhep­hasen auch gön­nen, in denen man weniger aktiv ist. Wenn genü­gend Leute an dem­sel­ben Seil ziehen, wird sich am Ende doch etwas bewe­gen, und wenn es lange dauert.

  29. U

    Der Ein­er-ist-schuld-Mythos
    Wichtig zu beto­nen scheint mir, dass es in der All­t­ags­the­o­rie wichtig zu sein scheint, dass immer nur EINE Per­son schuldig sein kann, nie bei­de oder ver­schiedene Seit­en. Das berühmte “Du hast ange­fan­gen”. Wobei ein “Du hast aber mit­gemacht.” oder ein “Du hast es nicht ver­hin­dert.” unter­schla­gen wird. Zwei Sätze, die viele völ­lig ver­wirren, weil die Schuldzuweisung in die Absur­dität geführt wird.
    Ich denke, dahin­ter ste­ht die religiöse Vorstel­lung von indi­vidu­eller Schuld (und Sühne).

  30. stefle

    Ich würde Ana­tol im großen und ganzen beipflicht­en. Wir müssen wirk­lich mal genauer hin­schauen, wie diese häu­fi­gen Missver­ständ­nisse bei Diskus­sio­nen über Diskri­m­inierung entste­hen. In let­zter Zeit ist wohl die Gen­der-Diskus­sio­nen beson­ders promi­nent, aber eine Meta-Diskus­sion, die alle möglichen Arten von Diskri­m­inierung in Zusam­men­hang betra­chtet, scheint mir dur­chaus notwendig.
    Was mich stört, ist dass Ana­tol unter­schwellig fol­gen­den Kon­text vorgibt:
    Die ver­link­ten Blog­a­r­tikel (Die Raum­mas­chine, Dr.Mutti, Sprachlog, antipro­dukt, Mäd­chen­mannschaft) beschreiben die jew­eili­gen Diskri­m­inierun­gen richtig und bew­erten sie angemessen, die “empörten” Kom­men­ta­toren dage­gen sind jedoch unverständig.
    Ana­tol spitzt es noch weit­er zu: Die Kom­men­ta­toren erst machen die Diskus­sion so gut wie unmöglich (Zitat Ana­tol: “Da wed­er die Fest­stel­lung noch die Empörung nor­maler­weise mit Argu­menten unter­füt­tert wird und da Erk­lärungs- und Diskus­sionsver­suchen meist mit ein­er stumpfen Wieder­hol­ung der Fest­stel­lun­gen und der Empörung begeg­net wird, steigt mit jedem Mal die Ver­lock­ung, diese Men­schen als unverbesser­liche Dummköpfe oder bösar­tige Trolle abzuschreiben, ihre Kom­mentare zu löschen oder gar nicht erst freizuschal­ten und sich auch son­st nicht mehr auf Gespräche mit ihnen einzulassen.”)
    Mich stört noch etwas anderes: Ana­tol hebt beson­ders her­vor, dass das “Ver­ste­hen von Ungle­ich­heit und Diskri­m­inierung” bei den besagten Kom­men­ta­toren erschw­ert sei. Ich bezwei­fle aber, dass hier tat­säch­lich das Ver­ste­hen im Vorder­grund ste­ht. Meines Eracht­ens geht es dur­chaus um sub­jek­tive Ein­schätzun­gen – nicht bloss um die Wahrnehmung von Unter­schei­dun­gen. Das Wort Diskri­m­inierung ist da dop­pelsin­nig. Es bedeutet eben auch: Benachteili­gung. Ana­tol irrt, wenn er meint, dass es hier in erster Lin­ie um Ver­ständ­nis­prob­leme geht. Es geht immer auch um ein Abwä­gen von Vor- und Nachteilen, ein Prozeß des gesellschaftlichen Aushan­delns. Natür­lich darf er sich in diesem Blog­a­r­tikel auf das reine Ver­ständ­nis­prob­lem beschränken, das allein finde ich noch nicht kri­tik­würdig. Die von ihm zitierten Klein­mann und Copp sprechen aber expliz­it von “Schaden”. Das ist ein­deutig ein wer­tender Begriff, und es macht keinen Sinn, die Beurteilung eines Schadens auf die Frage des “Ver­ste­hens” zu reduzieren.
    Ich sehe sog­ar die Gefahr, dass durch diese Reduk­tion neue Missver­ständ­nisse in der ohne­hin schon schwieri­gen Diskus­sion provoziert wer­den könnten.
    Sehr gut lässt sich das Prob­lem in Ana­tols For­mulierung von “All­t­ags­the­o­rie” Nr.1 erkennen:
    1.) Schaden ist direkt und unmit­tel­bar. Men­schen gehen davon aus, dass die schädlichen Kon­se­quen­zen ein­er Hand­lung sofort ein­treten und klar sicht­bar sind und dass schädlich­es Ver­hal­ten klar von nichtschädlichem Ver­hal­ten unter­schieden wer­den kann.
    Wenn aber schädlich­es Ver­hal­ten nicht klar von nichtschädlichem Ver­hal­ten unter­schieden wer­den kann, gerät die Diskus­sion AUTOMATISCH in eine schwierige Lage. Zunächst müsste mit ger­adezu objek­tiv­er Gewis­sheit bewiesen wer­den, dass über­haupt ein Schaden vor­liegt. Andern­falls machst es keinen Sinn, anderen ein man­gel­ndes Ver­ständ­nis zu unter­stellen. Diese behauptete “All­t­ags­the­o­rie” ist gut dazu geeignet, sich um Beweise herumzu­drück­en. Man sagt ein­fach: Der Schaden ist “nicht direkt und unmit­tel­bar”, wer ihn nicht erken­nt, ist von sein­er All­t­ags­the­o­rie fehlgeleitet.
    Die fol­gen­den “All­t­ags­the­o­rien” 2 und 3 sagen eigentlich das gle­iche (ich sehe jeden­falls keinen Unter­schied). Auch Ana­tol fasst sie im Ver­lauf des Blog­a­r­tikels zusam­men. Ich glaube, dass diese “All­t­ags­the­o­rien” tat­säch­lich weit erbre­it­et sind. Aber eigentlich betr­e­f­fen sie sehr viele Diskus­sio­nen. Leute fühlen sich durch die Mei­n­ung des anderen per­sön­lich ange­grif­f­en, auch wenn das nicht gewollt war.
    “All­t­ags­the­o­rie” 4. finde ich ähn­lich kri­tisch wir Nr.1. Muss ger­ade los, vielle­icht führe ich das heut abend näher aus.

  31. Mareike Kaa

    Inter­es­san­ter Artikel …
    … inter­es­sante Ein­wände von stefle.
    Vor allem sollte man sich immer vor Augen hal­ten, dass man sich selb­st genau­so leicht wie das Gegenüber von diesen All­t­ags­the­o­rien blenden lassen kann.

  32. Studierendenfutter

    wenn die leute sich frei­willig gegen­seit­ig zer­fleis­chen, wer nun mehr priv­i­legien hat oder wer auf der straße knutschen oder hal­lo sagen darf usw., dann feuen sich die machthaber, denn nie­mand rückt ihnen auf die pelle. die guten men­schen beschäfti­gen sich lieber damit, nie­man­des gefüh­le zu verletzen.
    aber wehe es sagt ein­er, das sei labori­eren am nebenwiderspruch.

  33. RRohleder

    Opfer als bessere Menschen”-Theorie
    Eine weit­ere All­t­ags­the­o­rie, die mir schon häu­figer begeg­net ist, lässt sich unge­fähr for­mulieren als
    a) “Men­schen, die Opfer von Diskri­m­inierung sind, sind dafür die moralisch besseren Menschen.”
    bzw. daraus fol­gt dann auch
    b) “Men­schen, die Opfer von Diskri­m­inierung sind, müssen sich als die moralisch besseren Men­schen verhalten.”
    Um fürs Erste bei der sex­is­tis­chen Ver­sion dieser The­o­rie zu bleiben, die ich als Frau zwangsläu­fig am Besten kenne: Das wäre die Annahme, dass Frauen von Natur aus koop­er­a­tiv­er, fried­lieben­der, für­sor­glich­er die besseren Chefinnen oder die besseren Poli­tik­erin­nen wären. Das Unschöne daran ist, dass eine solche The­o­rie dur­chaus häu­fig von Men­schen mit fem­i­nis­tis­chen Grundüberzeu­gun­gen kommt, die nicht sehen, dass sie sich damit in eine schwierige Ecke manövri­eren. Denn wenn ich bes­timmte Eigen­schaften und Fähigkeit­en nur deshalb hätte, weil ich eine Frau bin, hieße das ja im Umkehrschluss, dass ich andere genau deshalb nicht habe. Und schon hat man wieder alles Mögliche als natür­lich begrün­det, was ich zumin­d­est nicht für natür­lich halte.
    Hinzu kommt, dass diese The­o­rie selb­st auch noch auf andere Art zur Basis von Diskri­m­inierung wer­den kann, näm­lich dann, wenn b) greift, also wenn daraus der Anspruch abgeleit­et wird, dass eine Men­schen­gruppe, gegen die diskri­m­iniert wird, sich selb­st moralisch aber gefäl­ligst ein­wand­frei zu ver­hal­ten habe.
    Um kurz noch beim Sex­is­mus-Beispiel zu bleiben: Ver­hal­ten, das bei einem Poli­tik­er für macht­poli­tisch nor­mal gilt, wird bei ein­er Poli­tik­erin in den Medi­en viel schneller als “eiskalt” und machtbe­sessen verurteilt, weil es als ‘unweib­lich’ ver­standen wird. Ist zumin­d­est mein (sta­tis­tisch zugegeben­er­maßen ger­ade nicht weit­er unter­mauert­er) Eindruck.
    Aus diesem moralis­chen Anspruch ergibt sich gle­ich noch eine weit­ere Alltagstheorie:
    c) “Men­schen, gegen die diskri­m­iniert wird, dür­fen selb­st nicht diskri­m­inieren. Tun sie es doch, ist die Diskri­m­inierung gegen sie völ­lig gerechtfertigt.”
    Das ist dann keine Form von Nat­u­ral­isierung mehr son­dern eher eine Form von “die müssten das doch bess­er wissen”.
    Damit meine ich etwa Aus­sagen, die ich schon von eigentlich sehr klu­gen und ten­den­ziell links wäh­len­den Men­schen gehört habe, die aber find­en, Mus­lime in Deutsch­land wären deshalb ein Prob­lem, weil unter ihnen Sex­is­mus und Homo­pho­bie so weit ver­bre­it­et seien. Mein Ein­druck ist bei solchen Aus­sagen, dass Sex­is­mus und Homo­pho­bie von Men­schen aus mus­lim­isch geprägten Längern in eine völ­lig andere und viel grund­sät­zlichere Kat­e­gorie ein­ge­ord­net wird als Sex­is­mus und Homo­pho­bie von, sagen wir, Men­schen, die schon seit Gen­er­a­tio­nen im sel­ben nord­deutschen Dorf leben. Bei den einen wer­den prob­lema­tis­che Ein­stel­lun­gen direkt als Grund benutzt, sie hier nicht haben zu wollen — bei den anderen nicht.
    Möglicher­weise ist das genau betra­chtet alles eine Form von All­t­ags­the­o­rie 3, dass Schaden nur durch absichtsvolles Ver­hal­ten angerichtet wer­den kann, also nicht durch wohlmeinen­des. Diese Form von zunächst wohlmeinen­der The­o­rie kann aber eine Menge Schaden anrichten.

  34. Noyt der Tiger

    @RRohleder, @All: Bess­er gibt es nicht
    Zu Ihrem c hätte ich eine ‘Umkehrung’, die in der Gesellschaft all­ge­mein akzep­tiert ist — bis hin­auf zu höch­sten Poli­tik­ern, Jour­nal­is­ten (siehe Spiegel-Beitrag) oder Juris­ten (siehe das Urteil in Sachen des NPD-Vor­sitzen­den Voigt, wobei das Ver­hal­ten des Hote­liers wahrschein­lich aber unbe­wiesen auf eine Ini­tia­tive des Lan­des zurückgeht):
    ¬c) Men­schen, die diskri­m­inieren, dür­fen diskri­m­iniert werden.
    Damit ist aber auch gesagt, dass wir eigentlich nicht gegen Diskri­m­inierung sind — son­dern nur für eine andere Diskri­m­inierung. Und das ist ein (aus mein­er Sicht) typ­isch deutsches Problem…
    Aber das liegt daran, dass wir Ander­sar­tigkeit über­haupt nicht ver­tra­gen kön­nen. Und zwar generell nicht — denn ange­blich gibt es eine richtige Lösung. Das bet­rifft auch — und jet­zt begebe ich mich bewusst auf heik­les Ter­rain — den soge­nan­nten Sex­is­mus. Ein Französin meinte ein­mal bei einem Deutsch­land-Besuch: Kein Wun­der, dass Ihr keine Kinder habt.
    Deutsche Män­ner sollen wie deutsche Frauen sein und deutsche Frauen wollen wie deutsche Män­ner sein — so jeden­falls die offizielle Ansicht. Als Mann ver­liere ich dort fast alles. Und zwar nicht, weil ich damit Macht, Pres­tige oder Anse­hen ver­löre — die lasse ich sowieso lieber Anderen, denn sie sind mir zu lang­weilig. Nein, weil damit Chan­cen der Begeg­nung ver­schwinden, Chan­cen für die vier Freuden pro Tag, Chan­cen mein­er Entwick­lung. Wenn die Frauen in meinem Leben genau­so borniert gewe­sen wären wie ich — dann wäre ich ja immer noch der­selbe. Wie trau­rig. Und wie unlebendig.
    Ich will aber leben. Ich will mich entwick­eln. Und ich will von Macht wegkom­men, von Ein­seit­igkeit und von Ver­ach­tung. Aber das kann ich nicht allein — dazu bin ich viel zu men­schlich. Ich brauche dazu das Andere, ich brauche dazu die ‘Idioten’ und die ‘Trolle’ eben­so wie die ‘Wis­senschaftler’ und die Weisen. Ich brauche alle Men­schen und die Diskus­sion mit Ihnen, ihre Nach­sicht und ihre Geduld aber auch ihre Härte und ihre Ungeduld. Sie müssen auch men­schlich sein, denn son­st friere ich. Und dann schalte ich in den Vertei­di­gungsmodus, dann bin ich unbarmherziger Tiger…
    Aber darum freue ich mich eigentlich über die von Ihnen ange­führte Kri­tik gewiss­er Poli­tik­er als ‘eiskalt’, als ‘machtbe­sessen’ oder als ‘berech­nend’. Ohne diese Störung durch eine Frau hät­ten wir Män­ner nie unsere Fehler erken­nen kön­nen, es wäre immer so weit­er gegan­gen. Nun aber — so meine Hoff­nung — nun kön­nen wir den Schat­ten der Macht sehen. Und ihn bekämpfen. Und wenn es ein paar Män­ner gibt wie diesen ‘Casper’ — ja dann sehen wir hof­fentlich auch die Nachteile rein­er ‘Weib­lichkeit’. Und dann erken­nen wir vielle­icht mit der Bibel, dass jede Sache ihre Zeit hat, und jedes Verhalten.
    Zu den All­t­ags­the­o­rien nur aus dem Blog noch fol­gende Vorschläge:
    d) Men­schen, die klug sind, diskri­m­inieren weniger.
    e) Men­schen, die links wählen, diskri­m­inieren weniger.
    f) Men­schen, die belehren wollen, diskri­m­inieren nicht.
    Dass sie alle falsch sind, das scheint mir offen­sichtlich. Aber sich­er diskri­m­iniere ich auch damit schon wieder — habe ich doch dumm eben­so vergessen wie Mitte oder Rechts, und wie sieht es mit Erk­lären aus?

  35. Robroy

    David: Da ste­ht: “Men­schen gehen davon aus, dass die schädlichen Kon­se­quen­zen ein­er Hand­lung sofort ein­treten und klar sicht­bar sind und dass schädlich­es Ver­hal­ten klar von nicht-schädlichem Ver­hal­ten unter­schieden wer­den kann.”
    Herr Ste­fanovitch hält es also offen­bar für prob­lema­tisch, wenn Men­schen davon aus­ge­hen, dass der Schaden ein­er Hand­lung nur gegeben ist, wenn ein solch­er sofort ein­tritt (soweit kein Ein­spruch) und wenn Leute an einen Schaden nur glauben, wenn ein solch­er klar sicht­bar ist (hier wider­spreche ich, dieses Krite­fi­um halte ich keines­falls für zu viel verlangt).

  36. AW

    @ kathy über “kein Opfer sein”
    *zus­timm*, kenne ich auch.
    Eine Ergänzung: Das “ich kann alles erre­ichen was ich will”-Narrativ spielt mE nicht immer eine so zen­trale Rolle, wennn Frauen gle­ich­stel­lungspoli­tis­che Maß­nah­men von sich weisen. Oft haben sie das Gefühl, durchd diese Maß­nah­men als irgend­wie defiz­itär ange­sprochen zu wer­den. Zum Beispiel wenn es Sem­i­nar extra für Frauen zum The­ma “Selb­st­mar­ket­ing” oder “selb­st­be­wusst reden” gibt. Mich stört das zB, obwohl ich glaube, das Frauen struk­turell benachteiligt sind und das aktiv bekämpft wer­den soll. Das wäre viele­icht eine weit­ere Vari­ante, wie Diskrim­minierung ver­steckt und sta­bil­isiert wird: selb­st die Aktiv­itäten, die struk­turelle Benachteili­gung bekämpfen sollen, fan­gen an, an ver­meintlich per­sön­lichen Defiziten herumzu­dok­torn. Zumin­d­est ergibt sich diese Assozi­a­tion schnell.

  37. MoebiusAL

    Eine These, diverse Fragen
    Ich denke, eine wesentliche All­t­ags­these ist auch “wenn es häu­fig ist, ist es nor­mal; wenn es nor­mal ist, ist es okay oder zumin­d­est aktept­abel”. Eine dazu passende Recht­fer­ti­gung, die vielle­icht auch etwas von ein­er All­t­ags­these hat, ist “ich hab die Welt nicht so geschaf­fen, aber ich muss in ihr leben und will keine Nachteile dadurch haben, dass ich auf nor­males Ver­hal­ten verzichte”. Kürz­er und ähn­lich ist die Recht­fer­ti­gung “das machen doch alle/die meisten/viele so”.
    Wenn man mit der bre­it­en Masse schwimmt, erwartet man dafür keine Kri­tik; wenn man sie dann doch zu hören bekomm, scheint sie ungerecht. Ein Teil der Abwehrhal­tung mag darin liegen, dass man für etwas kri­tisiert wird, das man bis­lang nicht als falsch gese­hen hat und das all­ge­mein ver­bre­it­et ist — “wieso werde aus­gerech­net ich für etwas kri­tisiert, das gang und gäbe ist”.
    Ver­schär­fend gibt es noch Fälle, in denen das, was Fehlver­hal­ten mit sich bringt, trotz­dem beliebt und erfol­gre­ich ist. Ein Beispiel wären solche Wer­beanzeigen, die auf der Erfahrung beruhen, dass Män­ner auf sex­uelle Reize reagieren und mit ein­er knapp bek­lei­de­ten Frau etwas Angenehmes verbinden (und damit auch mit dem Umfeld). Nachteilig dürften solche Anzeigen erst dann wer­den, wenn in der Gesellschaft der Reflex weit ver­bre­it­et ist “was für eine schändliche Art, Wer­bung zu machen”. Inter­es­sant ist in diesem Zusam­men­hang auch die Aus­sage ein­er het­ero­sex­uellen Fre­undin von mir, die meint, dass sie Wer­beanzeigen mit knapp bek­lei­de­ten Frauen denen mit knapp bek­lei­de­ten Män­nern vorzieht — weil der weib­liche Kör­p­er ein­fach ästhetis­ch­er sei. Ein inter­es­san­ter Fall von gesellschaftlich­er Prägung.
    Ein anderes Beispiel für erfol­gre­ich­es Fehlver­hal­ten sind die oft finanziell prof­itablen Roman­tic Come­dies: Abge­se­hen von dümm­lichen Rol­len­klis­chees ist auch das Beziehungsver­hal­ten und ‑ver­ständ­nis in diesen Fil­men abso­lut pathol­o­gisch. Ich halte Roman­tic Come­dies (und erst recht Arztro­mane) für das Beziehungsver­hal­ten schädi­gen­der als die meis­ten Arten von Pornogra­phie. Von anderen erfol­gre­ichen Fällen wie “Twi­light” und “50 Shades of Grey” will ich gar nicht erst anfangen…
    @Ludmila: Vielle­icht war besagter Mann auch in einem Rol­len­bild gefan­gen, näm­lich dem, dass er, um höflich zu sein und “richtig zu han­deln”, der Frau die Tür aufhal­ten muss. Wenn es nicht dazu kommt, ist es sein Fehler, weil er es nicht getan hat, er hat sich falsch ver­hal­ten und fühlt sich schuldig. Um diese Schuld zu min­dern, weist er mit sein­er “scherzhaften” Bemerkung im Sub­text darauf hin, dass er es eigentlich bess­er weiß und dass er sich auch gerne richtig ver­hal­ten hätte, aber die Möglichkeit nicht hatte.
    Ich habe auch als Kind gel­ernt, dass man Frauen die Tür aufhält (nicht expliz­it beige­bracht bekom­men, son­dern durch Beobach­tung und Kon­text), und assozi­iere dieses Ver­hal­ten mit Respekt. Inzwis­chen halte ich jedem, der direkt nach mit zur Tür kommt, die Tür auf — es ist für den anderen vielle­icht ein biss­chen beque­mer, hat aber auch etwas mit “ich hab Dich gese­hen, Du bist es wert, dass man Dich wahrn­immt, und dass man sich für Dich bemüht” zu tun. Über­legen­heit füh­le ich nicht wirk­lich, eher das gute Gefühl, etwas Richtiges getan zu haben. Insofern war die Reak­tion auf seine Bemerkung vielle­icht (und ich betone vielle­icht) nicht gerecht — weil er sein Ver­hal­ten kom­plett anders ver­standen hat.

  38. Noyt der Tiger

    Sozi­ol­o­gisch-Psy­chol­o­gisch Problematisch
    Diskri­m­inierung werde beseit­igt, indem man sie benen­nt oder bekämpft.
    Wäre nochmal die aus mein­er Sicht prob­lema­tis­chste These, die auch im Kom­men­tar von @MoebiusAL vorkommt — und dort auch wider­legt wurde. Denn was man bekämpft, das beobachtet man so stark, dass man es ver­tieft. Und weil viele ja in diesen so beobachteten ‘überkomme­nen’ Rollen glück­lich scheinen, darum wächst auch die Sehn­sucht danach — trotz ratio­naler Aversion.
    Viel sin­nvoller ist daher der Ver­such, Alter­na­tiv­en vorzuleben — per­sön­lich, in den Medi­en, in der Poli­tik etc. Wer­den doch so Ratio­nal­ität und Intu­ition ver­söh­nt. Dann dürfte es mit dem Ein­wurf von @AW etwa aber nicht nur Sem­i­nare für Frauen geben, son­dern auch Sem­i­nare für Män­ner und Sem­i­nare für Grup­pen. Aber an der ‘Pos­i­tiv­en Diskri­m­inierung’ will ja nie­mand rüt­teln — und damit nicht am Vor­bild für jede Diskriminierung.
    Diskri­m­inierte oder ‘Opfer’ seien schwach.
    Jeden­falls in dauer­haften (Gruppen)Beziehungen ist das aber nicht der Fall, son­dern oft das Gegen­teil. Wer immer eigenes Kön­nen beweisen muss, der ist schwach. Wer hinge­gen den eige­nen Teil zum Gelin­gen eines Pro­jek­tes und des Grup­pen­lebens beiträgt, der ist stark — auch wenn sein Wirken im Ver­bor­ge­nen bleibt, oft ger­ade dann. Und wenn mann/frau das nicht merkt, dann oft ob fehlen­der Erfahrung mit dem Gegen­teil oder ob Selb­stver­liebtheit. Wer etwa nicht immer nur aber doch auch ein­mal auf gute Assis­tenz zurück­greifen kon­nte, der weiß was ich meine. Aber das Prinzip ist viel allgemeiner.
    Diese Sit­u­a­tion ändert man nicht durch Bemitlei­den oder durch Ein­satz gegen etwas — nein viel effizien­ter durch Vor­leben per­sön­lich­er Schwäche trotz sit­u­a­tiv­er Stärke und Anerken­nen per­sön­lich­er Stärke trotz sit­u­a­tiv­er Schwäche. Im asi­atis­chen Kul­turkreis ist das übri­gens ganz klar: Jede Führungsper­son ist das nur wegen und mit der geleit­eten Gruppe. Daher respek­tiert und schätzt man sich gegenseitig.
    Diskri­m­inierung werde durch Ver­hal­tensän­derung beseitigt.
    Diskri­m­inierend ist aber wie schon @Ludmila ansprach nicht das Ver­hal­ten selb­st, son­dern die damit ver­bun­dene Inten­tion. Und @MoebiusAL hob tre­f­fend her­vor, dass es mehr um die Inter­pre­ta­tion der Ver­hal­tensin­ten­tion geht als um die wirk­liche Inten­tion. Und darin liegt ger­ade in Deutsch­land ein großes Prob­lem, denn unser Fühlen ist nicht so frei — und darum kann das wirk­liche Fühlen des Han­del­nden nicht gut von Anderen rezip­iert wer­den, es fehlt das Mit­fühlen (siehe nebe­nan beim MPI). Und damit müssen hier ob des Diskri­m­inierungsrisikos viele Hand­lun­gen unter­lassen wer­den, die ander­swo nor­mal sind (und dort wed­er diskri­m­inierend gemeint sind noch so erlebt wer­den). Das ist aber ein Teufel­skreis­lauf, denn damit fühlt man noch weniger mit und muss immer noch mehr Hand­lun­gen unterlassen.
    Viel sin­nvoller wäre der Aus­tausch von Ein­stel­lun­gen und Fühlen. Damit wür­den sich die Grup­pen näm­lich annäh­ern, die Beziehung sich auch durch ‘Stre­it’ ver­tiefen und mit der Sicht auf den Anderen auch das Ver­hal­ten zum Anderen ganz automa­tisch und tief­greifend ändern. Und vor allem wür­den sich ger­ade unsere Kinder dann eben­falls das Wichtig­ste abschauen: das Inter­esse an anderen Mei­n­un­gen und Menschen.

  39. Jan

    Neuer Vorschlag für Alltagstheorie
    Ich habe mir ger­ade sehr inter­essiert die bish­erige Diskus­sion durchge­le­sen und dabei eine All­t­ags­the­o­rie noch nicht gefun­den, die ich auch für rel­e­vant halte. Man kön­nte sie auch als die “Merkel-The­o­rie” beze­ich­nen und etwa so for­mulieren: “Dass wir jet­zt schon eine Frau als Bundeskanzler(in) haben, zeigt ja wohl, dass Frauen in unser­er Gesellschaft alles erre­ichen kön­nen, wenn sie wollen.”
    Das inter­es­sante an dieser The­o­rie ist, dass sie deut­lich macht, dass promi­nente weib­liche Führungsper­so­n­en möglicher­weise eine zwiespältige Rolle in der Diskri­m­inierungsen­twick­lung habe kön­nen. Denn ander­er­seits hört und liest man ja immer wieder, dass es für junge Frauen ger­ade wichtig sei, wenn es erfol­gre­iche Rol­len­vor­bilder gäbe, an denen man sich als selb­st­be­wusste (und eventuell kar­ri­ere­be­wusste) Frau ori­en­tieren könne.
    Gle­ichzeit­ig kann eine Zunahme solch­er weib­lichen Führungsper­so­n­en auch dazu führen, dass die Diskus­sion um die Diskri­m­inierung von Frauen zurück­ge­wor­fen wird, weil sich so ein neuer “Beleg” für die Gle­ich­stel­lung der Frauen in unser­er heuti­gen Gesellschaft find­et. Dass es sich bei diesen weni­gen weib­lichen Führungsper­so­n­en natür­lich um krasse Aus­nah­men han­delt, wird dann leicht überse­hen, weil sie eben so leicht wahrnehm­bar sind (und jede Beset­zung ein­er wichti­gen Führungsrolle mit ein­er Frau von den Medi­en auch aus­führlich aufge­grif­f­en und kom­men­tiert wird, siehe DAX-Vorstandsposten).
    Man kön­nte diese All­t­ags­the­o­rie also auch “Infor­ma­tions-Ver­füg­barkeit­s­the­o­rie” nen­nen, weil es darum geht, wie leicht ver­füg­bar bes­timmte Indika­toren für Gle­ich­stel­lung bzw. Diskri­m­inierung von Frauen sind. Und Angela Merkel ist eben nun mal eine sehr leicht ver­füg­bare Infor­ma­tion, während Sta­tis­tiken zu Frauen in Führungspo­si­tio­nen schon deut­lich schwieriger ver­füg­bar sind (und deshalb von sehr viel weniger Men­schen genutzt werden).

  40. Gerald Fix

    Zu Punkt 1 (direk­ter Schaden)
    Wenn Men­schen denken, dass nur direk­tes und unmit­tel­bares Han­deln schädlich ist — wie entste­hen dann Sprich­wörter wie “Steter Tropfen höhlt den Stein” oder Bilder wie das vom Tropfen, der das Fass zum Über­laufen bringt?
    Offenkundig ist den meis­ten Leuten doch bewusst, dass kleine Ursachen auf Dauer Wirkung zeigen kön­nen. Mir leuchtet jeden­falls Punkt 1 nicht ein.

  41. stefle

    Sind nicht Linkshän­der “struk­turell” beachteiligt? Also durch gesellschaftliche Nor­men, und nicht durch indidu­elles Ver­hal­ten? Würde ich doch meinen!
    Und kön­nen Ver­fechter von “All­t­ags­the­o­rie 4” das nicht erkennen?
    Fühlen die sich deshalb per­sön­lich ange­grif­f­en, wenn man sie auf Benachteili­gung der Linkshän­der hinweist?
    Weil All­t­ags­the­o­rie 4 ihne­nen sagt: Benachteili­gun­gen MÜSSEN IMMER indi­vidu­ell, d.h. durch ungute Absicht­en einzel­ner, verur­sacht sein.

  42. Pechmarie

    @Phaeake
    Jet­zt, wo Sie direkt nach­fra­gen, muss ich sagen, dass das wirk­lich ungeschickt for­muliert ist.
    Ich argu­men­tiere natür­lich zurzeit stark aus der Sicht ein­er Betrof­fe­nen, d.h. was mich nervt ist, dass ich per­ma­nent auf meine Sit­u­a­tion als “Deutsche in der Schweiz” reduziert werde, obwohl ich mich selb­st (zumin­d­est bevor ich ständig in diese Kat­e­gorie ein­ge­ord­net wurde) nie primär als solche betra­chtet habe.
    Für mich per­sön­lich gibt es diese Gruppe über­haupt nicht, obwohl es natür­lich in der Schweiz wirk­lich sehr viele Deutsche gibt, die offen­bar von der Mehrheits­bevölkerung (bzw. den deutschsprachi­gen Schweiz­er Medi­en) als eine sehr ein­heitliche Gruppe wahrgenom­men werden.
    Hier kann ich lei­der wirk­lich nur für mich selb­st sprechen: für mich gibt es tat­säch­lich ein Grup­penge­fühl von “Expats”, mit dem ich mich irgend­wie iden­ti­fizieren kann, eine “deutsche Gruppe” gibt es nicht, obwohl ich regelmäßig als “Sauschwob” oder “Schis­dytschi” ange­fein­det werde.
    Ich verkehre sehr viel mir anderen Aus­län­dern (aber eben auch ein­er ganze Menge von Leuten, die meine diversen Inter­essen unab­hängig mein­er Nation­al­ität teilen), wenig mit anderen Deutschen.
    Wie gesagt, ich finde, dass meine Ver­suche diesen Sachver­halt grif­fig zu for­mulieren kläglich scheit­ern, doch glaube ich, dass ich mit­tler­weile zumin­d­est ansatzweise nachvol­lziehen kann, was für Zumu­tun­gen man als Türke oder Türkin in Deutsch­land ver­mut­lich häu­fig aus­ge­set­zt ist.
    Das lernt man wohl selb­st erst, wenn man mal Teil ein­er der eher unpop­ulären “Min­der­heit­en” ist.

  43. Noyt der Tiger

    Angst als alleinige Quelle?
    @Pechmarie brachte mich ger­ade auf eine oben allen­falls angeris­sene, aber nicht wirk­lich benan­nte All­t­ags­the­o­rie, die aber einigem im Beitrag von Ana­tol Ste­fanow­itsch widerspricht.
    Diskri­m­inierung selb­st ist sozial schädlich.
    Ist es doch ver­mut­lich genau anders herum — Diskri­m­inierung erfüllt eine sehr wichtige soziale Funk­tion und darum ist sie sozial nüt­zlich, jeden­falls für eine Gruppe.
    Entste­ht die (meiste) Diskrim­inerung doch aus der Angst, den eige­nen Sta­tus, die eigene Funk­tion oder das eigene sichere Nest (teils) zu ver­lieren. Das passt näm­lich sehr gut zu meinen Ken­nt­nis­sen über die Schweiz — die von @Pechmarie ange­sproch­ene Ver­ach­tung gegen den gemeinen Deutschen ist danach wohl neueren Datums und ent­stand erst mit dem wirtschaftlichen Abstieg der Schweiz.
    Und je länger ich darüber nach­denke, umso mehr scheint mir Angst die Grund­lage jed­er Diskrim­i­na­tion zu sein. Das würde näm­lich viele Unter­schiede zwis­chen Natio­nen erk­lären und auch zwis­chen Grup­pen oder Per­so­n­en. Denn Angst gibt es nur, wenn man um Ressourcen konkur­ri­ert — wenn man sich ergänzen kann und für jeden Platz ist, dann fehlt die Angst und mit ihr schwindet wohl auch die Diskriminierung.
    Aber dann ist es noch weniger sin­nvoll, gegen das Symp­tom zu kämpfen. Denn rein psy­chol­o­gisch muss dann die Angst ver­drängt wer­den und wächst darum irra­tional. Also soll­ten wir die Angst bekämpfen, statt sie durch Verängs­ti­gung, Bestra­fung oder Ver­höh­nung der Ängsti­gen zu fördern…

  44. Pechmarie

    @Noyt der Tiger
    Klar haben die Schweiz­er Angst,
    im mein­er Erfahrung in erster Lin­ie um ihre VERDAMMT SCHÖNE SPRACHE:
    zB Mani Mat­ter http://www.youtube.com/watch?v=G83PIixn0iM
    oder http://www.youtube.com/watch?v=yhNUdU1q7hM
    (mit Über­set­zung) es Zund­höt­zli natür­lich nicht vergessen…
    bei­des bärndütsch
    oder vol­lkom­men willkür­lich von der Schnitzel­bängg 2012(Basel)
    http://www.youtube.com/watch?v=NLCxHcbYOk8 baseldytsch
    Und sie haben damit ver­mut­lich auch recht.
    Das tragis­che daran ist, dass die viele Deutsche in der Schweiz die Schweiz­erdeutschen Dialek­te (mit etwas Übung) ohne größere Prob­leme ver­ste­hen und auch gerne sprechen ler­nen wür­den, aber die all­ge­meine Mei­n­ung dazu ist: “Wenn Deutsche Schweiz­erdeutsch sprechen wollen, dann müssen sie das per­fekt tun.” (aus dem Gedächt­nis zitiert aus Qual­ität­spub­lika­tio­nen wie 20 Minuten oder Blick am Abend).
    Von 0 auf 100 ohne Übung geht halt lei­der nicht.

  45. Phaeake

    @Pechmarie @Noyt der Tiger
    @Pechmarie
    Danke für die Erläuterung. Vielle­icht stellt fol­gende Aus­sage auch eine All­t­ags­the­o­rie dar, die das Ver­ständ­nis von Diskri­m­inierung erschw­ert: Jede pauschalierende Aus­sage über eine Gruppe ist eine Diskriminerung.
    Ich finde ihre Berichte als Deutsche in der Schweiz sehr auf­schlussre­ich. Und auch in meinen Augen stellen Anfein­dun­gen und Beschimp­fun­gen wie die von Ihnen zitierten ganz klar eine Diskri­m­inierung dar, die durch nichts zu recht­fer­ti­gen ist.
    Dass allerd­ings die Schweiz­er die deutschen Gas­tar­beit­er als Gruppe ein­heitlich­er wahrnehmen als die Grup­pen­mit­glieder sich sel­ber sehen, scheint mir ein all­ge­mein gültiger grup­penpsy­chol­o­gis­ch­er Mech­a­nis­mus zu sein, der noch keine Diskri­m­inierung ist. Wer mit Musik wenig am Hut hat, sieht “die Musik­er” gerne als homo­gene Gruppe. Die Musik­er sel­ber sehen him­mel­weite Unter­schiede zwis­chen Rock‑, Pop‑, Jazz- und klas­sis­chen Musik­ern. Let­ztere sehen gewaltige Dif­feren­zen zwis­chen Stre­ich­ern und Bläsern, etc.
    Natür­lich ist es mäßig intel­li­gent, wenn ein Nicht­musik­er sagt: Die Musik­er sind ein lustiges Völkchen, gehen nach der Probe gerne einen trinken, sind sen­si­bel etc. Aber ist das Diskriminierung?
    @Noyt der Tiger
    Es hat nicht unmit­tel­bar was mit Diskri­m­inierung zu tun, aber es würde mich schon sehr inter­essieren, woran sie den “wirtschaftlichen Abstieg der Schweiz” fest­machen. An dem Brut­toin­land­spro­dukt pro Kopf von 81.000 US-$ (zum Ver­gle­ich Deutsch­land: 43.000 US-$)? An jährlichen Wirtschaftswach­s­tum­srat­en um die 2,5%? An Arbeit­slosen­quoten um die 4%? An ein­er Infla­tion­srate um die 1%? Daran, das so viele Deutsche in der Schweiz arbeiten?

  46. Noyt der Tiger

    @Pechmarie,@Phaeake: Angst-Grup­pierun­gen
    Ich bin ganz bei Ihnen, @Phaeake und wohl prinzip­iell auch @Pechmarie: Nicht jede Grup­pierung ist Diskri­m­inierung, was ich oben mit These 2 aus­drück­en wollte. Und auch Ver­all­ge­meinerung ist menschlich.
    Phaeakes Musik­er-Beispiel ist aber aus mein­er Sicht beze­ich­nend: Warum erleben die Musik­er das denn über­wiegend nicht als Diskri­m­inierung und warum sehen wir als ‘Gesellschaft’ das ähn­lich unprob­lema­tisch? Aus mein­er Sicht, weil wir vor Musik­ern keine Angst haben, weil die uns Nicht-Musik­ern durch ihr Kön­nen keine Ressourcen stre­it­ig machen. Musik­er sind anders, nicht bess­er und nicht schlechter, sie ergänzen uns.
    Darum aber ist die Ver­all­ge­meinerung ‘Kün­stler’ diskri­m­inierungs­be­zo­gen schon sehr viel prob­lema­tis­ch­er, dort kommt es näm­lich auf die Per­spek­tive an.
    Das Konkur­renz-Prob­lem wird beson­ders kom­pliziert, wenn es um Sprache geht. Ich habe lange in Frankre­ich gelebt und kann Franzö­sisch mit­tler­weile zwar nicht ganz ohne Akzent (dazu habe ich viel zu spät ange­fan­gen), aber doch fast wie meine Mut­ter­sprache — und so gut, dass man mich im Süden für einen Fran­zosen hielt (und teils auch im Deutschen). Den­noch gab und gibt es Sit­u­a­tio­nen, wo ich bes­timmte Begriffe nicht kenne, ins­beson­dere Namen (Tiere, Pflanzen etc.). Im Deutschen wären die mir irgend­wie klar. Ich hat­te damit kein Prob­lem, ich wusste um meine Män­gel eben­so wie um meine Qual­itäten. Und die Fran­zosen hat­ten damit über­wiegend auch keines.
    Aber, und deswe­gen das Beispiel, wer sich in seinen Chan­cen beschränkt sah oder in seinen Kom­pe­ten­zen angezweifelt, der ver­suchte dann doch, mich mit meinem ‘unvol­lkomme­nen’ Franzö­sisch abzuw­erten. Das war nicht sys­tem­a­tisch möglich, weil die kri­tis­che Zahl von Deutschen dort nicht über­schrit­ten ist und ich doch in Stil und Schrift meist mehr als nur mithal­ten kon­nte (ich durfte die Sprache im Grande-Ecole-Umfeld abschauen). In der Schweiz hinge­gen gibt es mit­tler­weile sehr viele Deutsche — und vor denen hat man Angst, und das Schweiz­erdeutsch ist ja eher gesproch­ene Sprache in der es nach meinem Wis­sen nicht so sehr auf kom­plizierten Stil ankommt. Darum kann man sich wohl nur über die Aussprache als bess­er definieren und bestätigen.
    Dass das mit­tler­weile nötig scheint, hat aus mein­er Sicht drei Hauptgründe.
    1. Die Schweiz­er ler­nen Deutsch als Fremd­sprache — wenn auch sehr früh und dann im gesamten Schul­be­trieb. Den­noch ist ihre Ver­wurzelung in der Sprache nicht gle­icher­maßen bre­it und ihre Sprach­fer­tigkeit im Hochdeutschen darum oft etwas gehemmt, ger­ade auch bei hochin­tel­li­gen­ten Schweiz­ern. Und dann sind denen halt mündlich auch weniger kom­pe­tente Deutsche überlegen.
    2. Die Schweiz ist ein recht kleines Land — wenn sie also wie bish­er die besten Akademik­er auf die jew­eili­gen Stellen beset­zt, dann sind das mit­tler­weile oft Deutsche, ein­fach weil die Anzahl der Deutschen nun mal rein sta­tis­tisch zu ein­er abso­lut größeren Zahl guter Absol­ven­ten führt. Und die Schweiz zahlt ger­ade im Bil­dungssys­tem auch gut, weshalb nicht wenige Deutsche dor­thin auswandern.
    3. Auch als Antwort an @Phaeake: Die Schweiz hat zwar im Außen­ver­gle­ich kein wirtschaftlich­es Prob­lem, aber im Inneren. Soweit ich das mit­bekom­men habe, sind die Zeit­en vor­bei, wo etwa das Schweiz­er Renten­sys­tem jedem Schweiz­er ein solides Auskom­men garantieren kon­nte. Mit­tler­weile riskieren auch dort viele die Alter­sar­mut — und damit kommt Angst auf, die sich man­gels sicht­bar­er oder bess­er erkennbar­er Feinde in der Nation auf die Aus­län­der richtet, bevorzugt auf jene, die einem selb­st am ähn­lich­sten sind…

  47. Baumeister

    Ihre Prämisse, sehr geehrter Herr Prof. Ste­fanow­itsch, ist ja offen­bar, dass eine Mehrheit oder große Min­der­heit Diskri­m­inierun­gen (lediglich) nicht sieht. Das mag für die “kleine Diskrim­ierung im All­t­ag” zutr­e­f­fen: Die aufge­hal­tene Tür, der unbe­dachte Scherz usw. Darüber hin­aus — so würde ich behaupten — wird sehr bewusst diskri­m­iniert: Wenn schon ein “falsch­er” Nach­name aus­re­icht, eine Miet­woh­nung nicht zu bekom­men, wenn ganzen Bevölkerungs­grup­pen nur geringe Beruf­schan­cen eingeräumt wer­den, haben wir es schlicht mit absichtlichem Ver­hal­ten zu tun. Und die “Diskri­m­inier­er” wis­sen das sehr wohl; ihre “Empörung” ist gespielt. Es ist die Empörung der Ertappten.

  48. Noyt der Tiger

    @Baumeister: Sich­er bewusste Absicht?
    Sind Sie wirk­lich sich­er, dass die ‘Empörung’ nur gespielt ist? Ich möchte das näm­lich bezweifeln und zwar aus mehreren, über­wiegend psy­chol­o­gis­chen Grün­den. Und das sind Entkräf­tun­gen von Alltagstheorien.
    Zunächst falsch: Wir kön­nten rein ratio­nal entscheiden.
    Als (Vertrags)Partner suchen wir natür­lich passende Men­schen. Und selb­st wenn wir ver­suchen ratio­nale Kri­te­rien anzuwen­den, wir bew­erten dieses Passen vielmehr über unsere Gefüh­le. Schon ein Name kann unbe­wusst schlechte Gefüh­le erzeu­gen und dabei ist egal, ob sie berechtigt sind — jed­er kann das mit Vor­na­men sehr gut nachvol­lziehen: Trägt eine Begeg­nung den Vor­na­men ein­er uns bekan­nten sym­pa­this­chen Per­son, dann wirkt auch die neu begeg­nete gle­ich net­ter (oder anders herum) Und das kann nie­mand unter­drück­en, ja nicht ein­mal wirk­lich kor­rigieren ohne aus­giebige Ken­nt­nis der Person.
    Weit­er­hin falsch: Wir kön­nten ganz Unbekan­nten vertrauen.
    Beruf und Team aber beruhen auf Ver­trauen. Und wirk­lich­es Ver­trauen kann nur zu Per­so­n­en entste­hen, die wir ken­nen. Zwar ken­nen Arbeit­ge­ber nicht Jeden, aber doch bes­timmte Grup­pen. Dort kön­nen sie also anhand gewiss­er Kri­te­rien ver­trauen. Die diskri­m­inierten Grup­pen hinge­gen ken­nen sie — zumin­d­est in der jew­eili­gen Posi­tion — oft nicht oder weniger oder falsch. Denn sie wis­sen nur sel­ten die kul­turellen Dif­feren­zen auszu­gle­ichen. Bekan­nt ist diese Phänomen etwa zwis­chen Geschlechtern: Wer­den näm­lich Frauen wie Män­ner bew­ertet, dann schnei­den sie bei iden­tis­ch­er Qual­i­fika­tion oft deut­lich schlechter ab — etwa weil sie bei ihren Ken­nt­nis­sen und Fähigkeit­en sta­tis­tisch meist eher unter- denn übertreiben. Ähn­lich­es gilt zwis­chen Osteutschen und West­deutschen. Und die kom­men alle aus ein­er ver­gle­ich­baren Kul­tur — bei anderen Bevölkerungs­grup­pen wirken da noch ganz andere Fak­toren mit und nie­mand kann das wirk­lich kompensieren.
    Schließlich falsch: Kom­mu­nika­tion sei rein sach­lich möglich.
    Jed­er Kon­takt aber erfordert Kom­mu­nika­tion, und selb­st sach­liche Aus­sagen führen oft zu Missver­ständ­nis­sen. Umso mehr, je weniger man über den Anderen weiß. Es kommt also zwis­chen (Vertrags)Partnern schon allein der Kom­mu­nika­tion wegen zu vie­len Prob­le­men. Und diese Prob­leme wach­sen mit dem fehlen­den Kul­turver­ständ­nis erneut. Was etwa bei uns direkt gesagt wer­den darf, darf in Frankre­ich nur angedeutet wer­den. Und das ist umso prob­lema­tis­ch­er, als unsere Gesellschaft ins­ge­samt (und die Wirtschaft ins­beson­dere) auf kon­flik­t­freie Kom­mu­nika­tion aus­gelegt ist. Man darf nicht stre­it­en, son­dern muss gute Mine zum bösen Spiel machen. Damit aber bilden sich interne Gräben, die irgend­wann auch die Fas­sade ein­stürzen lassen. Dürften wir stre­it­en und sähen die daraus wach­sende Beziehungstiefe als Chance, dann wäre auch Diskri­m­inierung weit weniger verbreitet.
    Die Empörung ist also oft echt, auch wenn der Empörte sich unbe­wusst trotz­dem ertappt fühlen mag. Nur liegt dort ein weit­eres Prob­lem unser­er aktuellen Diskri­m­inierungs­bekämp­fung: Jed­er, der ‘ertappt’ wird, gilt in den Augen der Gesellschaft und oft auch den eige­nen als schlecht. Sein Selb­st­be­wusst­sein wird gekränkt — und das umso mehr, als er allein doch gar nichts ändern kon­nte. Damit wächst aber die Angst, etwas falsch zu machen — und mit ihr wach­sen alle drei oben genan­nten Probleme…
    Wir erre­ichen also heute oft das Gegen­teil des Gewoll­ten — und langfristig bewe­gen wir uns dann auf den Weg der Hypokrisie zu, wie er heute schon in Ameri­ka weiträu­mig herrscht oder in angel­säch­sisch geprägten Unternehmen in Deutsch­land. Diesen Teufel­skreis­lauf kön­nen wir nur an der Wurzel unter­brechen — und damit durch Auf­gaben unser­er falschen Grund­la­gen-Prämis­sen, denn: Wenn wir alle Grup­pen ver­ste­hen ler­nen, dann passen wir zu allen. Wenn wir alle Grup­pen ken­nen, dann kön­nen wir allen ver­trauen. Wenn wir uns mit allen Grup­pen aus­tauschen, dann kön­nen wir mit allen Missver­ständ­nisse ver­ringern. Und dann nehmen wir allen die Angst vor dem Unbekan­nten und damit den inneren Grund der Diskriminierung…

  49. Sophia

    @jgoschler Behäl­ter­meta­pher
    Kurz vor­ab: Thx an den Mach­er für diesen Blogbeitrag.
    Für mich ist er nicht nur so erhel­lend, da ein­leuch­t­end (die All­t­ags­the­o­rien), so hil­fre­ich, son­dern auch bewe­gend, denn er führt ver­mut­lich eine Jede und einen Jeden, die/der hier aufmerk­sam liest, dahin, als erstes mal vor der eige­nen Tür zu kehren, wenn es um Vorurteile und Diskri­m­inierung geht.
    Und ja, je mehr ich lese, reflek­tiere, suche, welche All­t­ags­the­o­rien auch mich vielle­icht zur Akteurin von (evt. unab­sichtlich­er) Diskri­m­inierung Ander­er wer­den lassen, desto mehr Beispiele finde ich im eige­nen Tun und Denken.
    Ich möchte die Behäl­ter­meta­pher von @jgoschler erweit­ern um die Kat­e­gorie “Liebende”, Familie.
    Sie hat­te als gutes Beispiel Men­schen, die sich in die Kat­e­gorie “net­ter Men­sch” einord­nen und sich eben drum, weil sie sich als “nett, hil­fre­icht etc.” einord­nen, sich nicht gle­ichzeit­ig auch der Kat­e­gorie: diskri­m­inierend zuord­nen (kön­nen), obwohl sie es evt. sind.
    Noch gravieren­der (und eben­so ‘all­t­agsüblich’) dürfte dieses Phänomen in Fam­i­lien­ver­bän­den und unter ‘Lieben­den’ vorkommen.
    “Ich liebe eine/n…(man füge beliebig ein: z.B. Schwulen, Far­bigen, …” = ich kann unmöglich diskri­m­inierend sein gegenüber …(man füge wieder beliebig ein:…) oder “Ich bin Mutter/Vater/Tante/Cousin…”
    Hier dürfte der eventuell stat­tfind­ende Selb­st­be­trug, bzw. das fehlende Erken­nen um so gravieren­der sein, weil das Entset­zen über die Erken­nt­nis vielle­icht größer wäre/ist.

  50. stefle

    Hier ein paar All­t­ags­the­o­rien von Julia Schramm, passend zum The­ma Diskriminierung.
    http://juliaschramm.de/…und-post­struk­tu­ral­is­mus/
    Das Post­ing zeigt, wie man es sich schön ein­fach machen kann. Typ­is­che Strohmann-Argu­men­ta­tion. Ver­bun­den mit einem schw­er erträglichen Wissenschaftlichkeitsgehabe.

  51. chris

    Sisy­phusauf­gabe
    Zitat:
    “unab­hängig davon, ob der Schaden, den diese Struk­turen anricht­en, in jedem Fall sofort erkennbar ist.”
    -> Allein darunter fall­en eine unzäh­lige Menge von Begeben­heien und Abläufe. Und wenn man den Blick­winkel (also die Inten­zion) wech­selt, gibt es wiederum tausende anders zu bew­er­tende Ein­flüsse und Zielsetzungen.
    Das Prob­lem ist: Wo geho­belt wird, fall­en Späne. Aber geho­belt wer­den muß trotz­dem. Aber schon richtig: Man solle das eben üben, damit möglichst wenig Späne anfallen.
    Ein bis­chen Anmaßend und “real­itäts­fern” erk­lärt aber diese Aus­sage, dass es tat­säch­lich schw­er sei:
    kein (sozialer, kog­ni­tiv­er oder sonst­wie erforder­liche) Umgang (sprich Kon­takt), keine (spez­i­fis­che) Diskrimminierung.
    Das aber scheint nicht einzuricht­en zu sein.

    Diskrim­minierung sei in diesem Sinne (wie oben beschrieben) manch­mal tat­säch­lich nur dann zu beste­hen (sub­jek­tiv), wenn umge­hend eine (neg­a­tive) Folge daraus inter­pretiert wer­den kann oder sich ergibt. Der Erken­nt­nis im Wege ste­hend sei hier lei­der die naturgemäß beschränk­te Band­bre­ite für Objek­tiv­ität und Real­itätEN (also plur­al). Meinen Erken­nt­nis­sen zufolge kann man dabei aber über neu­rol­o­gis­che Meth­o­d­en und beglei­t­en­den ther­a­peutis­chen Maß­nah­men eine “Besserung” her­stellen. Eine beglei­t­ende ther­a­peutis­che Maß­nahme wäre eben der Artikel oben (und seine Pen­dants in den Medi­en und Öffentlichkeit). Also Gehirn­wäsche durch per­ma­nente “Bere­it­stel­lung” von Infor­ma­tio­nen (dieser Art).

  52. Irena

    Trunk­en­bold
    Ich würde in Frage stellen, dass die Ver­wen­dung des Wortes “Trunk­en­bold” dazu beiträgt, Ein­sicht­en in die Prob­lematik der Alko­ho­lab­hängigkeit und des gesellschaftlichen Umgangs damit zu generieren.
    Gut, das war auch nicht The­ma des Artikels. Dann würde ich es anders formulieren:
    Ich glaube, dass die Ver­wen­dung des Wortes “Trunk­en­bold” dazu führt, Per­so­n­en, die alko­ho­lab­hängig sind, zu diskred­i­tieren. Meines Eracht­ens ist das falsch, als dass Alko­ho­lab­hängigkeit wie alle anderen Suchtab­hängigkeit­en, nicht allein ein indi­vidu­elles, son­dern auch ein gesellschaftlich­es Prob­lem darstellen. Beson­ders in den Reak­tion auf “Trunk­en­bolde” zeigt sich, wie die Gesellschaft sich ein kor­rek­tes Leben vorstellt. Um die ras­sis­tis­chen Untertöne/ die ras­sis­tis­che Struk­tur von Pip­pi Langstrumpf zu kri­tisieren, muss man nicht andere gesellschaftliche Hier­ar­chisierun­gen aufmachen.
    Ich for­muliere es noch weit­er zugespitzt:
    Trunk­en­bolde, Asoziale, Schmarotzer etc. sind gesellschaftliche Zuschrei­bun­gen, die spez­i­fis­che Per­so­n­en als gesellschaftlich nicht wertvoll, oder: min­der­w­er­tig, oder: leben­sun­wert (mit Bezug auf die NS-Ide­olo­gie) qualifizieren.
    Nun kön­nten wir — sofern sich bei diesem Kom­men­tar eine Abwehrreak­tion zeigen sollte — die vier Kat­e­gorien von Copp und Klein­man darauf anwenden. 😉

  53. Kim

    Rechtschreibpedanz
    Danke für diesen Artikel zu einem mich bren­nend inter­essieren­den Thema!
    Ohne mich in die Diskus­sion ein­mis­chen zu wollen: In Zeile sechs ist beim Wort “Zeitschrift” ein “r” verrutscht.
    Dieser Kom­men­tar kann gerne wieder gelöscht wer­den, trägt er doch nichts weit­er Sin­nvolles bei 🙂

  54. habeleiderkeinrecht

    Die “ich habe Recht”-Theorie
    Die “ich habe Recht”-Theorie geht folgendermaßen:
    Ich habe Recht. Ich habe eine priv­i­legierte Sicht auf die Prob­leme der Welt. Ich kann den Fin­ger in die soziale Wunde leg­en. Wenn meine Mei­n­ung in mehr Köpfen wäre, dann gäbe es in der Welt weniger Schmerz. Deswe­gen rede ich mit möglichst vie­len Men­schen, um alle auf meine Seite zu brin­gen. Denn meine Seite ist der Fortschritt, und sollte sich durchsetzen.
    In meinen Augen sind das die Grundzüge ein­er sehr weit ver­bre­it­eten The­o­rie, mit der sich sehr viele Men­schen von anderen abgren­zen und gegenüber anderen erhöhen.
    Lei­der ist ist diese The­o­rie struk­turell Gewalt­tätig, was oft nicht einge­se­hen wird.

  55. habeleiderkeinrecht

    die “Ich habe Recht Theorie”
    Die “ich habe Recht”-Theorie geht folgendermaßen:
    Ich habe Recht. Ich habe eine priv­i­legierte Sicht auf die Prob­leme der Welt. Ich kann den Fin­ger in die soziale Wunde leg­en. Wenn meine Mei­n­ung in mehr Köpfen wäre, dann gäbe es in der Welt weniger Schmerz. Ich will weniger Schmerz, die anderen wollen mehr Gewalt. Deswe­gen rede ich mit möglichst vie­len Men­schen, um alle auf meine Seite zu brin­gen. Denn meine Seite ist der Fortschritt, und sollte sich durchsetzen.
    In meinen Augen sind das die Grundzüge ein­er sehr weit ver­bre­it­eten The­o­rie, mit der sich sehr viele Men­schen von anderen abgren­zen und gegenüber anderen erhöhen.
    Lei­der ist ist diese The­o­rie (auch wenn sie das Gegen­teil wün­scht) struk­turell gewalt­tätig, was wohl oft überse­hen wird.

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