Shitstorm wem Shitstorm gebührt

Von Anatol Stefanowitsch

Das Oxford Eng­lish Dic­tio­nary ist ein­er lan­gen Tra­di­tion sorgfältiger lexiko­grafis­ch­er Arbeit auf höch­stem wis­senschaftlichen Niveau verpflichtet – es ist qua­si, wie sein Name schon sagt, das Oxford unter den Eng­lish Dictionaries.

Dabei spielt vor allem die Suche nach Erst­bele­gen – also den ersten schriftlich doku­men­tierten Ver­wen­dun­gen von Wörtern – eine Rolle. Diese wer­den häu­fig von lex­ophilen Laien an die Redak­tion des OED geschickt, wo sie dann sorgfältig nach allen Regeln der Wörter­buch­macherei über­prüft und gefak­tencheckt wer­den, bevor sie den bish­eri­gen Erst­be­leg eines Wortes auf die Müll­halde der Sprachgeschichte befördern dürfen.

Oder sie wer­den ein­fach aus Inter­netquellen mit notorisch unzu­ver­läs­siger Datierung über­nom­men ohne auch nur ober­fläch­lich auf Plau­si­bil­ität über­prüft zu wer­den. So geschehen im Fall eines alten Bekan­nten des Sprachlogs, dem shit­storm. Der find­et sich im OED als Unter­punkt des Ein­trags für shit und wird definiert als „a fre­net­ic or dis­as­trous event; a com­mo­tion, a tumult“ (ein hek­tis­ches oder katas­trophales Ereig­nis, ein Durcheinan­der, ein Tumult).

Dieses von vie­len als vul­gär emp­fun­dene Wort hat ja eigentlich einen exzel­len­ten Stamm­baum: Sein Erst­be­leg find­et sich in Nor­man Mail­ers Roman The Naked and the Dead von 1948 – einem Klas­sik­er der amerikanis­chen Lit­er­atur, in dem es heißtThe hell with Brown […] He’s been miss­ing all the shit storms. It’s his turn. (Sprachlogleser/innen wis­sen das natür­lich längst).

Bis vor kurzem stand dieser Erst­be­leg auch im OED, aber als ich die Ety­molo­gie des Wortes anlässlich sein­er Auf­nahme in den Duden (der ja seit eini­gen Wochen das Berlin unter den deutschen Wörter­büch­ern ist) noch ein­mal nach­schlug, stellte ich fest, dass dies nicht mehr der Fall ist. Stattdessen ste­ht dort ein schein­bar acht Jahre älter­er Beleg:

1940 G. Gra­ham/One-eyed Man is King/viii. 69 Bob had a tem­per and could cre­ate a shit storm in a minute.

Ich kann nicht genau sagen, warum, aber der Beleg kam mir gle­ich selt­sam vor. Eine Google-Suche ergab an promi­nen­ter Stelle der Tre­f­ferliste einen Ein­trag auf Google Books, der tat­säch­lich den 1. Juni 1940 als Pub­lika­tions­da­tum für das Buch The One-Eyed Man is King eines gewis­sen Gor­don Gra­ham angibt. Allerd­ings find­et sich auch ein Tre­f­fer auf World Cat, der das Pub­lika­tion­s­jahr 1982 nen­nt. Ich googelte also nach dem Namen des Autors und fand her­aus, dass er ein Ex-Sträfling ist, der zwis­chen 1957 und 1970 in ver­schiede­nen Strafanstal­ten ein­saß, danach sein Leben änderte und heute sein Geld als Moti­va­tion­scoach ver­di­ent. In einem offiziellen YouTube-Video von 2008 wirkt er etwa siebzig Jahre alt, aber selb­st wenn er dort schon achtzig sein sollte, wäre er 1940 erst zwölf gewe­sen – sehr jung für einen Autor.

Es erscheint mir deshalb wahrschein­lich, dass er das Buch The One-Eyed Man is King, in dem es beze­ich­nen­der­weise um das Leben im Gefäng­nis geht, tat­säch­lich erst nach sein­er Haftzeit geschrieben hat, und dass das bei World Cat angegebene Pub­lika­tions­da­tum stimmt. Das habe ich vor eini­gen Wochen auch (mit aus­führlicheren Bele­gen) der Redak­tion des Oxford Eng­lish Dic­tio­nary mit­geteilt, habe aber nur eine automa­tisierte Antwort erhal­ten und sei­ther nichts mehr gehört.

Da hil­ft es wohl nur, das OED mit einem Shit­storm im deutschen Wortsinne (engl. pub­lic rela­tions shit­storm) zu überziehen. Weg mit Moti­va­tion­scoach Gor­don! Der shit­storm muss ein Mail­er bleiben! Oder wir genießen ein­fach das schöne Wet­ter und akzep­tieren, dass das Oxford Eng­lish Dic­tio­nary halt auch nur ein Men­sch ist, der alles glaubt, was Google sagt.

4 Gedanken zu „Shitstorm wem Shitstorm gebührt

  1. Dierk

    Hat­tet ihr bei der Herkun­ft des Wortes auch das Idiom ‘the shit hit­ting the fan’ im Auge gehabt? Ohne das jet­zt prüfen zu kön­nen, scheint mir Mail­er eine Steigerung davon vorgenom­men zu haben, die er noch zusät­zlich ver­stärk­te, indem er es in seinem bekan­nten jour­nal­is­tis­chen Stil [mat­ter of fact­ly] benutzte.

    Antworten
  2. Anatol Stefanowitsch Beitragsautor

    @ Dierk: Ich glaube nicht, dass Mail­er das Wort shit­storm tat­säch­lich erfun­den hat. Meine Ver­mu­tung ist, dass es Sol­datenslang aus dem 2. Weltkrieg ist und Mail­er das nur als erster fest­ge­hal­ten hat. Ob der Slan­gaus­druck sein­er­seits auf the shit hits the fan zurück­ge­ht, weiß ich nicht, finde es aber nicht unplau­si­bel. Ander­er­seits sind die Angel­sach­sen generell ziem­lich besessen von shit.

    Antworten
  3. Pingback: Ironie des Suchens: Wissen 2.0 in der Bratpfanne | druckstelle

Schreibe einen Kommentar zu Anatol Stefanowitsch Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.