Das Ego in der Sprache

Von Susanne Flach

Let­zte Woche wurde in PSYCHOLOGICAL SCIENCE eine Studie veröf­fentlicht, die die These bestätigt sieht, dass sich der Wan­del kul­tureller Werte von „gemein­schaftlich“ zu „individuell/materialistisch“ in der Sprache wider­spiegelt (Green­field 2013). Über die Studie berichtete bish­er Psy­ch­Cen­tral, einige Wis­senschafts­blogs, Nachricht­en­seit­en wie CBS oder der TELEGRAPH und im deutschsprachi­gen Raum ORF und WISSENSCHAFT AKTUELL. Das Ergeb­nis der Studie: die Urban­isierung unser­er Gesellschaft kor­re­liert mit der Abnahme von „gemein­schaftlichen“ Wörtern (oblig­ed, give, act, obe­di­ence, author­i­ty, belong, pray) und der Zunahme von Begrif­f­en, die „Mate­ri­al­is­mus“ verkör­pern (choose, get, feel, indi­vid­ual, self, unique, child) und so spiegelt Sprache direkt den Wan­del gesellschaftlich­er Werte wider.

Bere­its let­zten Som­mer haben Wis­senschaft­lerIn­nen mit ein­er ähn­lichen Studie für Aufhorchen gesorgt, als man für den Zeitraum zwis­chen 1960 und 2009 die Ver­wen­dung von Per­son­al­pronomen und „indi­vid­u­al­is­tis­chen“ Wörtern unter­sucht hat. Dass das aus lin­guis­tis­ch­er Per­spek­tive höchst prob­lema­tisch ist, zeigen zwei der Studie wider­sprechende Rep­lika­tio­nen von Mark Liber­man im Lan­guageL­og (Teil 1, Teil 2).

Auch die Green­field-Studie ist max­i­mal selt­sam. Die Grun­dan­nahme eines tief­greifend­en Gesellschaftswan­dels spielt übri­gens keine Rolle — es geht hier nur um die These, dass sich dieser in der Sprache wider­spiegelt und, wichtig, dass dies die Dat­en zeigen, die Green­field unter­sucht hat. Aber: die Studie hat sowohl aus qual­i­ta­tiv­er als auch aus quan­ti­ta­tiv­er Sicht ekla­tante Schwächen. Der Kom­plex­ität wegen wird dieser Kom­men­tar deshalb eine Wochen-Serie, die stel­len­weise etwas tech­nisch wird, aber wir fan­gen leise an.

Die erste qual­i­ta­tive Schwäche ist die Auswahl der unter­sucht­en Begriffe. Als Aus­gangspunkt nimmt Green­field die Ver­ben oblig­ed (‚verpflichten(d)‘) und choose (‚wählen‘) um bei­de Pole zu illus­tri­eren. Warum aus­gerech­net diese bei­den, bleibt unerk­lärt. Für Green­field gehen sie offen­bar auf the­o­retis­che Vorüber­legun­gen zurück, denn sie bauen auf dem Gegen­satz von zwei Gesellschaft­skon­struk­ten auf: „Gemein­schaft“ (die Gruppe, ländlich, gemein­schaft adap­tion) und „Gesellschaft“ (Indi­vidu­um, urban, gesellschaft adap­tion). Aber ist es plau­si­bel, dass oblig­ed und choose alleine dazu dienen kön­nen, zwei sehr grundle­gende Konzepte zu unter­schei­den — PFLICHT und WAHL/FREIHEIT? Unerk­lärt bleibt auch, warum bei oblig­ed das Par­tizip gewählt wurde, bei choose aber nicht. Gän­zlich unkom­men­tiert bleibt das große Prob­lem, dass sie impliz­it ja annimmt, dass die Begriffe heute und 1800 ver­gle­ich­bare Bedeu­tun­gen hat­ten. ((Bei oblig­ed ist das Prob­lem ver­mut­lich noch kom­plex­er, weil es schon 1800 ver­gle­ich­sweise häu­fig als Par­tizip ver­wen­det wird bzw. einen adjek­tivis­chen Charak­ter aufweist.))

Kom­men wir anhand dieses Paars zu ein­er großen method­isch-quan­ti­ta­tiv­en Schwierigkeit, die direkt auf das qual­i­ta­tive Prob­lem auf­baut (eigentlich maun­zt die Katze längst aus dem Brun­nen, aber dann wäre ich jet­zt fer­tig und kön­nte schlafen mensen gehen). Green­field nutzt zur Analyse den Google NGram View­er, ein Tool, mit dem man auf ges­can­nte Büch­er (Google­Books, 1800–2000) zugreifen kann. Ob der NGram View­er bzw. das Google­Books-Kor­pus für ern­sthafte Stu­di­en wirk­lich taugt, darüber ist sich die Jury noch uneins, Kul­turpsy­chologIn­nen sind da etwas weniger skep­tisch. Für heute habe ich ver­sucht, Green­fields Grafiken und Grundthese zu replizieren; die Orig­i­nal­grafiken sind für alle, die auf die Zeitschrift keinen Zugriff haben, in diesem Artikel per Screen­shot abgedruckt.

Lek­tion 1 der Kor­puslin­guis­tik: wer Fre­quen­zen von Begrif­f­en sucht, sollte seine Suchan­frage so stellen, dass alle Wort­for­men des Begriffs gefun­den wer­den. Soll heißen: will ich die Ver­wen­dung von choose unter­suchen, muss (s/he) choos­es, (s/he) had cho­sen und choos­ing (a career) gefun­den wer­den. Das ist offen­bar nicht geschehen, oben Green­field (2013: Fig. 2), repliziert hier; unten meine Rep­lika­tion: ((In meinen replizierten Grafiken sehen Zu- und Abnah­men nicht so drama­tisch aus, wie in Green­fields Pub­lika­tion, das liegt an meinen Screen­shots direkt von NGram.))

greenfield_fig2_replication

greenfield_fig2_lemmareplication  Auf den ersten Blick fall­en die Unter­schiede gar nicht so drama­tisch aus, vor allem nicht für oblige; aber choose hat doch eine ganze Menge vergessen­er Tre­f­fer, die ganze Lin­ie ver­schiebt sich deut­lich nach oben. Was aber wichtiger ist und was Green­field über­haupt nicht macht: ist der Anstieg für choose sig­nifikant? Nicht nur, dass kein Test durchge­führt wird — sie stellt sich die Frage über­haupt nicht. Einen Test kann man an den NGram-Dat­en ohne größeren Aufwand nicht direkt durch­führen, aber mit Dat­en aus einem aus­ge­wo­ge­nen Kor­pus, dem Cor­pus of His­tor­i­cal Amer­i­can Eng­lish (COHA), kann man das ganz gut nach­stellen: das, was so gle­ich­för­mig aussieht, ist nicht signifikant:

choose

Iden­ti­fika­tion eines Trends in Fre­quen­z­dat­en (nach Hilpert & Gries 2009); Trend­ko­r­re­la­tio­nen bewe­gen sich zwis­chen ‑1 und +1, Werte um 0 lassen die Abwe­sen­heit eines Trends vermuten.

(Dass der Ver­lauf für oblige (hoch)signifikant ist, ist dage­gen auch ohne Test anzunehmen.)

Zwar bedeuten diese Zahlen nicht automa­tisch, dass es nicht doch ein inter­es­santes zugrun­deliegen­des Muster in der Ver­wen­dung von choose gibt, und/oder dass sich Fak­toren über­lap­pen, aber dass daraus ein direk­ter Beleg abgeleit­et wird, kul­turelle Werte gin­gen in eine bes­timmte Rich­tung, geben die Dat­en schlicht nicht her (und genau das ist die Schlussfol­gerung). Für eine aus­sagekräftige Mus­ter­erken­nung müsste man die lexikalis­che und syn­tak­tis­che Ver­wen­dungskon­texte näher unter­suchen und über­lap­pende Fak­toren rausfiltern.

Von diesem quan­ti­ta­tiv­en kom­men wir also direkt wieder auf ein qual­i­ta­tives Prob­lem zurück: Green­fields näch­ste Analyse enthält einen Ver­gle­ich von give („gemein­schaftlich“) und get („indi­vid­u­al­is­tisch“). Die Fre­quen­züber­lap­pun­gen sind wieder ähn­lich, die fehlende Lem­ma­suche hat hier auch kaum Ein­fluss (beste­ht aber natür­lich). Das Prob­lem ist, dass Green­field mit give und get zwei hochfre­quente Lex­eme gewählt hat, die in seman­tisch sehr viel bre­it­eren Kon­tex­ten auftreten, als ihre intu­itiv angenommene „Kernbe­deu­tung“ von Geben und Nehmen. Ihr Denk­fehler ist in diesem Fall, dass sie expliz­it davon aus­ge­ht, dass nur hochfre­quente Begriffe ein­er Analyse über­haupt stand­hal­ten kön­nen (Green­field 2013: 3). Das ist aber aus zwei Grün­den zu kurz gedacht: erstens wer­den in der Kor­puslin­guis­tik ver­gle­ich­bare seman­tis­che Entwick­lun­gen dur­chaus schon mit han­del­süblichen Kor­po­ra zwis­chen ein­er und ein paar hun­dert Mil­lio­nen Wörtern unter­sucht (COHA, z.B. ist mit 400 Mio Wörtern so Megako­r­pus, das Gigako­r­pus NGram hat für Amerikanis­ches Englisch gut 150 Mil­liar­den). Das — zweit­ens — größere Prob­lem: give und get gehören zu ein­er speziellen Gruppe von Ver­ben, die soge­nan­nte Funk­tionsver­bge­füge bilden (light verb con­struc­tions), in Pas­sivkon­struk­tio­nen auf­tauchen (to get hit) oder Par­tikelver­ben sind (to get up), solche Prozesse betr­e­f­fen vor allem hochfre­quente Ver­ben. Wenn wir intu­itiv annehmen, dass get mit ‚bekommen/erhalten‘ über­set­zt wer­den kann, dann über­sieht man, dass get in so vie­len Kon­struk­tio­nen vorkommt, die mit ‚erhal­ten‘ wenig bzw. nichts mehr zu tun haben:

We haven’t got close to the mat­ter yet, we aren’t real­ly work­ing at it. [BNC APM 2655]

We’ve got to change, dar­ling, so you’d bet­ter get up. [BNC CDY 975]

All I got to do is turn the key. [BNC H8M 967]

She’s such a hap­py lit­tle soul just get­ting on with her life,’ said Mr God­win. [BNC K4E 1241]

get + PREPOSITION wie to get through the day oder she’s get­ting away with it gehören genau­so dazu wie get + ADV/ADJ/V‑Verbindungen, get­ting dark, to get mar­ried oder to get worse.  An give wiederum lässt sich illus­tri­eren, dass viele Ver­wen­dun­gen metapho­risch sind (this gave us more time) und so auf den ersten Blick gar nicht zu sehen ist, was sich da geän­dert hat und ob Änderun­gen der Art des Trans­fers oder der trans­ferierten Dinge eine Rolle spie­len. Spätestens hier sind wir an einem Punkt angekom­men, an dem klar ist, dass man der­ar­tige Unter­suchun­gen max­i­mal auf der Text‑, aber schw­er­lich auf der rein quan­ti­ta­tiv­en Wor­tebene machen kann bzw. dass es eher gefährlich ist, aus nack­ten Fre­quen­zen die Fol­gerung zu ziehen, die gezo­gen wurde.

(Ob der Anstieg für get über die let­zten 200 Jahre über­wiegend an der Zunahme von Funk­tionsver­bge­fü­gen oder Par­tikelver­ben liegt, war meine erste These. Das empirisch zu über­prüfen stellte sich aber am Woch­enende als unge­mein schwierig her­aus und braucht etwas Zeit.)

Es bringt uns aber zum näch­sten Punkt, der oben schon ange­sprochen wurde: wie wur­den die Begriffe über­haupt aus­gewählt? Warum ist ein „Antonympa­ar“, wie Green­field es nen­nt, nicht, sagen wir share und take? Die fall­en doch genau­so intu­itiv in das Geben und Nehmen der let­zten 200 Jahre, oder? Okay, der Ver­lauf von take ist eher unspan­nend (NGram hier; COHA: zunehmend, aber eben auch Teil von Funk­tionsver­bge­fü­gen und Par­tikelver­ben, take notice, take up). Aber share, hm, nimmt halt dann doch sehr deut­lich zu in NGram (COHA-Dat­en für share: Kendall’s τ = 0.484, ptwo-sided < 0.01**):

ngram_share_lemma

Das Prob­lem: es kön­nte schlicht Zufall sein, dass die in der Studie unter­sucht­en Begriffe sich so ver­hal­ten, wie sie es tun. Also Zufall der Auswahl. Green­field spricht wieder­holt davon, dass die Dat­en von ihrer These voraus­ge­sagt wer­den. Aber dann sind fol­gende lem­ma­tisierte Wort­paare nicht erk­lär­bar, die ich hier aus COHA extrahiert habe:

selfish_share

Wenn die These wasserdicht wäre, sollte sie bei self­ish (adj.) eine Zunahme, bei share (v.) eine Abnahme vorher­sagen. Bei­des ist nicht der Fall. Ähn­lich­es gilt für Green­fields Analyse von self und indi­vid­ual, die sie hier vorn­immt und für bei­de Buch­staben­ket­ten einen Anstieg iden­ti­fiziert („Buch­staben­kette“ war Absicht: lei­der ist auch in diesem Fall wed­er nach Wor­tart, noch nach Wort­for­men kon­trol­liert; der Kon­text ihrer Analyse lässt ver­muten, dass sie Nomen im Sinn hat­te). Die Dat­en in COHA lassen den Schluss des Anstiegs aber nicht zu:

self_individual_coha

Es gibt sicher­lich noch mehrere Wortkom­bi­na­tio­nen, an denen man das weit­er testen kön­nte — aber ich finde share und self­ish aus dem intu­itiv­en Ste­greif schon recht deut­liche Gegen­beispiele für die so klar vertretene These; im Fall von self und indi­vid­ual sind die Dat­en falsch. Natür­lich kön­nte man argu­men­tieren — wenn man es wollte –, dass wir ego­is­tis­ch­er gewor­den sind und nicht mehr drüber sprechen. Aber dieses zirkuläre Fass fan­gen Sie nie wieder ein.

Fassen wir für heute erst­mal zusam­men: was Green­field in die Dat­en rein­li­est, ste­ht so nicht drin. Das heißt nicht, dass da nicht was drin ste­hen kön­nte, aber ohne dass Stör­fak­toren auf Wort‑, Phrasen‑, Satz- und sog­ar Tex­tebene plau­si­bel kon­trol­liert wer­den, ist das ein schwieriges Unter­fan­gen. Außer­dem ist nicht klar, nach welchen Kri­te­rien die Begriffe aus­gewählt wur­den und ob es sich damit nicht um Zufall­spro­duk­te handelt.

Lesen Sie am Mittwoch: die Sache mit den Bürg­er­recht­en und den Kindern und andere selt­same Dinge.

Literatur

Green­field, Patri­cia. 2013. The Chang­ing Psy­chol­o­gy of Cul­ture From 1800 Through 2000. Psy­cho­log­i­cal Sci­ence, 7 August 2013 (ahead of print). DOI: 10.1177/0956797613479387 [Link, Pay­wall]

Hilpert, Mar­tin & Ste­fan Th. Gries. 2009. Assess­ing fre­quen­cy changes in mul­ti­stage diachron­ic cor­po­ra: Appli­ca­tions for his­tor­i­cal cor­pus lin­guis­tics and the study of lan­guage acqui­si­tion. Lit­er­ary and Lin­guis­tic Com­put­ing 24(4). 385–401.

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12 Gedanken zu „Das Ego in der Sprache

  1. Dierk

    Ich wollte eigentlich was lau­niges über die Nicht­wahl von cho­sen schreiben, finde aber einen wirk­lich inter­es­san­ten Punkt im Daten­ver­gle­ich zur Benutzung.

    Auch wenn gesellschaftlich­er Wan­del immer ein Prozess ist, braucht es doch einen Zeit­punkt, an dem wir Gesellschaftsmod­ell A deut­lich von Gesellschaftsmod­ell B unter­schei­den kön­nen. Green­field stellt die These auf, dass es eine Zeit gab, in der die Gesellschaft wesentlich gemein­schaftlich ori­en­tiert war, während sie heute wesentlich ego­man sei.

    In seinem N‑Gram kreuzen sich die Häu­figkeit­en der unter­sucht­en Wörter etwa bei 1930 [jaja: zwis­chen 1925 und 1930], in deinem bere­its 100 Jahre vorher. Stimmte Green­fields These, wären wir nach seinen Dat­en seit 1930 ego­man, nach deinen seit 1830.

    Bei­des geht nicht — außer, ich ver­wässere die These soweit, dass diese Dat­en ohnedies keine Rolle mehr spie­len. Die bloße Fest­stel­lung ‘Es gibt Zeit­en, in denen Autoren — und vielle­icht die Gesellschaften, in denen sie leben — stärk­er ich­be­zo­gen sind und welche, in denen die The­men eher gemein­schafts­be­zo­gen sind’ ist triv­ial, direkt ein­sichtig und uninteressant.

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    1. Susanne Flach Beitragsautor

      @Dierk: das ist mir hin­ter­her aufge­fall­en, dass die „Kreuzung“ dann ja viel früher auftritt. In Green­fields Argu­men­ta­tion­slogik hätte das tat­säch­lich einen Ein­fluss (an ein­er Stelle wird das in der Studie auch fast expliz­it so gesagt). Allerd­ings hängt die Kreuzung natür­lich mit Grund­fre­quen­zen des Wortes ab und ich glaube nicht, dass die so aus­sagekräftig sind, son­dern dass es rel­a­tiv gese­hen um die Zu- und Abnahme der Begriffe geht, noch nicht mal so sehr im Paarweisen.

      Zur Textba­sis und the­men­be­zo­ge­nen Dat­en kommt dann Mittwoch noch was.

      Und: ertappt! Green­field ist eine Frau 😛

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  2. Kathrin

    Alles in allem finde ich die Analyse sehr gut und schlüßig. Nur die Wahl von “self­ish” finde ich unl­o­gisch; der Ver­lauf von self­ish würde die These von Green­field eher stützen. Self­ish ist ein neg­a­tiv kon­notiertes Wort, das ego­is­tis­ches Ver­hal­ten verurteilt. Es ist also ein Wer­turteil, welch­es Ego­is­mus als nicht wün­schenswert ansieht. Wenn das Ver­hal­ten von Men­schen sel­tener als ego­is­tisch kri­tisiert wird, mag das dur­chaus daran liegen, dass Ego­is­mus nun nicht mehr als neg­a­tiv son­dern als nor­mal oder gar erstrebenswert gese­hen wird. Man würde Wort faul ja auch eher in ein­er Gesellschaft antr­e­f­fen, in der Arbeit einen sehr hohen Stel­len­wert hat und als nötig oder moralisch über­legen gilt.

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    1. Susanne Flach Beitragsautor

      @Kathrin: ich bin mir nicht sich­er, ob ich Ihnen fol­gen kann (fürchte aber, dass Sie genau das Fass auf­machen, was die Argu­men­ta­tion zirkulär und somit alles erk­lär­bar macht). Zwar sprechen Sie irgend­wie einen wichti­gen Punkt an, denn bei kein­er der Wort­suchen ist ohne Kon­tex­t­analyse wirk­lich klar, worauf sie sich beziehen. Warum aber der abnehmende Gebrauch von self­ish Green­fields These stützen soll, sehe ich nicht; das würde doch dann auch auf oblige zutr­e­f­fen (siehe oben). Und meine These ist ja nicht, dass wir weniger ego­is­tisch gewor­den sind, son­dern dass die Dat­en das nicht so zeigen, wie Green­field behauptet.

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  3. Erbloggtes

    Dass give und get häu­fig in kon­ven­tionellen Meta­phern und Wen­dun­gen vorkom­men, würde ich für eine Chance für die Analyse halten:

    Intu­itiv und ohne sprach­wis­senschaftliche Vor­bil­dung würde ich die These vom Zusam­men­hang von sprach­lichem und gesellschaftlichem Wan­del anhand von Wort­neu­bil­dun­gen und neu aufk­om­menden Wen­dun­gen unter­suchen. Ger­ade sich etablierende Meta­phern sagen ja einiges über das Denken der Leute aus, die sich damit verständigen.

    Für get und give wäre das inter­es­sant, wenn man zeigen kön­nte, dass im Unter­suchungszeitraum viele neue Meta­phern und Wen­dun­gen mit get gebildet wer­den — und dies den Anstieg verur­sacht. Nur lei­der spricht get nicht unbe­d­ingt für indi­vid­u­al­is­tis­che Wen­dun­gen: “All I got to do” ist doch eher ein Beispiel aus dem Umfeld von Pflicht und gehört damit genau zur falschen Seite.

    Der Unter­suchungszeitraum ist allerd­ings dafür ungün­stig gewählt: Zu erwarten wäre näm­lich, dass einige indi­vid­u­al­is­tis­che Neu­bil­dun­gen bere­its im 18. Jahrhun­dert vorgekom­men sind, als die klas­sis­che Nation­alökonomie die the­o­retis­chen Grund­la­gen des Kap­i­tal­is­mus formulierte.

    Für meine Ohren klingt übri­gens Green­fields ganz­er Ansatz reich­lich feu­dal­ro­man­tisch. Das mag an der Über­nahme der sehr deutschen völkischen Gemein­schafts-Ide­al­isierung und Gesellschafts-Ver­ach­tung liegen.

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    1. Susanne Flach Beitragsautor

      @erbloggtes: in der Sache würde ich dar gar nicht wider­sprechen. Natür­lich ist ger­ade der metapho­rische Wan­del, der in der Sprache all­ge­gen­wär­tig ist, stark mit unserem Sein in der physis­chen Umwelt ver­bun­den, in der wir leben (aber nicht notwendi­ger­weise der Gesellschaft). Aber was Green­field und ver­gle­ich­bare Argu­mente machen, ist einen direk­ten und unmit­tel­baren Ein­fluss der gesellschaftlichen Umwelt auf die Sprache als Erk­lärung her­anzuziehen (das sagen sie teil­weise sog­ar sehr direkt, Rest ist impliz­it) — und das ist höchst prob­lema­tisch. Der Punkt ist, wenn die konkrete „Kernbe­deu­tung“ von get als Aus­gangspunkt für neue Wen­dun­gen zählt, dann nicht, weil wir eine indi­vid­u­al­is­tis­che Gesellschaft sind, son­dern weil ihr Ele­mente innewohnen, die einen abstrak­teren Emp­fang ver­sprach­lichen kön­nen. Beispiel, das auch am Deutschen illus­tri­ert wer­den kann, ist das get-Pas­siv (to get hit):

      (1) Sie bekommt das Buch.
      (2) Sie bekommt das Buch geschenkt. (=sie erhält es gratis)
      (3) Sie bekommt das Buch geschenkt. (=als Geschenk, passiv)
      (4) Sie bekommt das Buch vorge­le­sen.

      Der Satz in (2) und (3) ist ambig zwis­chen zwei Inter­pre­ta­tio­nen, in (3) ist der Trans­fer aber nur noch impliz­it, d.h. dass ich weiß, dass etwas trans­feriert wer­den musste, wenn ich etwas geschenkt bekom­men habe. Damit ist der Weg geeb­net für die rein pas­sive Inter­pre­ta­tion in (4) die mit dem Trans­fer des Buch­es nichts mehr zu tun hat. Das metapho­rische ist die in allen Sit­u­a­tio­nen vorhan­dene Trans­fer­im­p­lika­tion, nicht die indi­vid­u­al­is­tis­che Gesellschaft. Sobald eine solche neue Kon­struk­tion ent­standen ist (2/3), bre­it­en sich die Ver­wen­dungskon­texte auf andere lexikalis­che Felder oder Kat­e­gorien aus, die mit der Kon­struk­tion bish­er nicht kom­pat­i­bel waren. Das hat aber an der Stelle nichts mit Gesellschaftsstruk­turen zu tun und ich wäre vor­sichtig, das für andere Stellen auch anzunehmen.

      (Das ist ein wenig ein kom­plex­es The­ma, aber machts das einleuchtender?)

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  4. Kathrin

    Ich schließe mich im Großen und Ganzen ja der Analyse an und denke nicht, dass die Studie die vertretene These ein­deutig begrün­det. Ich sehe aber einen Unter­schied zwis­chen Wörtern wie give, get, choose, oblig­ed und self­ish: Self­ish ist — zumin­d­est wenn ich mich richtig an meinen Englis­chunter­richt erin­nere — ein Wort, das ein neg­a­tives Wer­turteil bein­hal­tet während die anderen Wörter neu­tral sind. Deshalb hätte ich andere Begriffe gewählt. An self und indi­vid­ual habe ich nichts auszuset­zen, aber Wörter, welche so ein­deutig ein bes­timmtes Wertesys­tem bein­hal­ten wie self­ish finde ich als Beispiel nicht geeignet. Und in diesem Fall würde ich eher den Schluss ziehen (wenn ich daraus über­haupt etwas schließen würde), dass die These von Green­field stimmt, da ein Wort, das eine Verurteilung des Ego­is­mus bein­hal­tet, weniger ver­wen­det wird. Ich finde nicht, dass das zirkuläre Logik ist: Je mehr ein Wert an Bedeu­tung ver­liert, desto weniger wird deine Abwe­sen­heit mit­tels der entsprechen­den neg­a­tiv­en Wörter the­ma­tisiert bzw. verurteilt. Das scheint mir eine solide Annahme. Deshalb finde ich es sin­nvoller, rel­a­tiv wert­freie oder neu­trale Wörter wie self oder indi­vid­ual (die sich ja auch auf die Bedeu­tung des Indi­vidu­ums beziehen) zu wählen- so wie du das ja gle­ich anschließend gemacht hast.

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  5. Erbloggtes

    @Susanne: Du leugnest ihn nicht, aber Du rel­a­tivierst den Zusam­men­hang von Sprache und Gesellschaft. Ich halte es beispiel­sweise für eine Illu­sion, ein sprach­prä­gen­des “Sein in der physis­chen Umwelt” anzunehmen, das nicht gesellschaftlich ver­mit­telt wäre. Daher hat alles mit Gesellschaft und ihren Struk­turen zu tun — Sprach­wis­senschaft als Sozialwissenschaft.

    Aber ich bin sehr überzeugt von Dein­er Kri­tik an Green­field. Gesellschaftsstruk­tur lässt sich nicht auf den Nen­ner “indi­vid­u­al­is­tisch” oder “kollek­tivis­tisch” bringen.

    Gegen Deine abschließende These, dass die Ver­bre­itung von sprach­lichen Wen­dun­gen in andere Ver­wen­dungskon­texte nichts mit Gesellschaftsstruk­turen zu tun habe, würde ich opponieren: Natür­lich gibt es keine ger­ade Lin­ie. Aber wenn es über­haupt so etwas wie Gesellschaftsstruk­turen, Denkstruk­turen oder Sprech­struk­turen gibt, dann sind sie nicht als unab­hängig voneinan­der vorstell­bar. (Aber eben auch nicht so, dass eine Gesellschafts­for­ma­tion sich durch die Häu­figkeit eines Schlüs­sel­be­griffs ausdrückt.)

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    1. Susanne Flach Beitragsautor

      @Erbloggtes: ein sprach­prä­gen­des „Sein in der physis­chen Umwelt“ war auf die Schnelle vielle­icht unglück­lich for­muliert, aber es gibt sprach­liche Struk­turen, die mit der Gesellschaft(sstruktur) nichts zu tun haben, son­dern daraus resul­tieren, dass wir als Men­schen in der Umwelt existieren. Sim­ples Beispiel ist die Art, wie wir grundle­gende, abstrak­te Konzepte ver­sprach­lichen: ZEIT IST RAUM (wahlweise auch ZEIT IST EIN OBJEKT IM RAUM). Zeit ist etwas, was wir physisch nicht erfahren kön­nen (und wenn, dann nur über das ganze Leben). Raum hinge­gen ist es — und dies zeigt sich in der Art, wie wir über Zeit reden: die Zeit ren­nt uns davon, über einen Zeitraum hin­weg. Das dürfte vom Prinzip her in jed­er Kul­tur so sein, unab­hängig von der Gesellschaftsstruk­tur. Und was andere Struk­turen ange­ht, ich fürchte, da sind wir noch eher am Anfang, was natür­lich nicht heißt, dass Sprach­wis­senschaft keine Sozial­wis­senschaft ist (im Gegen­teil, bin voll dieser Meinung).

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  6. Erbloggtes

    Willkom­men in der Geburtsstunde ein­er neuen Diszi­plin: Transzendentalsprachphilosophie!*

    Was sind die Bedin­gun­gen der Möglichkeit ein­er Sprache? — In jed­er Kul­tur: Gesellschaft. Das ist das syn­thetis­che Urteil a pri­ori der Metalinguistik.

    Was sind Raum und Zeit? — Raum: Form der sprach­lichen Anschau­ung der Zeit? Und Zeit: Form der sprach­lichen Anschau­ung des Raumes (Zeit verge­ht — wie ein Haus, wie eine Stadt)? (Ver)geht die Zeit auf metapho­rischen Füßen durch den metapho­rischen Raum? Nein, sie unter­schei­den sich als sprach­liche Anschau­ungs­for­men, haben je eigene Bedin­gun­gen, nicht abgeleit­ete. Ihr Schnittpunkt ist die Sprecher­po­si­tion des *jet­zt* und *hier*, doch von da an (von dort aus) herrschen Unter­schiede. “mor­gen” zum Beispiel ist ein gut bes­timmter Zeit­be­griff, “dort” als Raum­be­griff reicht aber an Bes­timmtheit nicht an “mor­gen” her­an, weil der Raum nicht als eindi­men­sion­aler Strahl aufge­fasst wird.

    * Den Begriff Tran­szen­den­tal­sprach­philoso­phie führte Jür­gen Roth 2004 auf Hel­mut Gip­per zurück. Gip­per hat dem­nach jedoch im Gefolge Leo Weis­ger­bers die denken­prä­formierende Wirkung von Sprache allein auf die “Mut­ter­sprache” bezo­gen und damit in völkisch­er Tra­di­tion Nation­al­sprache und nationales Bewusst­sein als notwendig/normal verknüpft. Das ist natür­lich nicht tran­szen­den­tal, son­dern Unsinn.

    Es bleibt viel zu tun! 🙂

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  7. Daniel

    Da hat Frau Grün­feld offen­bar wenig Wis­senschaftlich­es geleis­tet. Nur schon die Auswahl von Wort­paaren scheint mir eher nicht sin­nvoll. Ich würde viel lieber die die Summe von 20 “gemein­schaftlichen” gegenüber 20 “ego­is­tis­chen” Wort­paaren aufgeze­ich­net sehen. Auch die Ver­wen­dung von Wörtern, die sehr häu­fig in üblichen Kon­struk­tio­nen vorkom­men, die nichts mit dem The­ma zu tun haben, senkt den Wert enorm. Nimmt denn das Psy­cho­log­i­cal Sci­ence alle Arbeit­en an? Dann kann ich ja auch mal was veröffentlichen.

    Über­haupt ist die Ver­suchung gross, nur Wörter zu zeigen, die die These stützen. Die Aus­sagen “moved in the pre­dict­ed direc­tions” und “as pre­dict­ed by the the­o­ry” im Abstract scheinen das nahezulegen.

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    1. Susanne Flach Beitragsautor

      @Daniel: die Begriffe, die als „gemein­schaftlich“ eingestuft und über NGram abge­fragt wur­den (ver­mut­lich alle nicht lem­ma­tisiert): give.V, benev­o­lence.N, act.V, deed.N, author­i­ty.N, belong.V, pray.V, con­form.V, pow­er.N, wor­ship.V, join.V. Die gegen­sät­zliche Gruppe, die Green­field „gesellschaftlich“ nen­nt, was deinem „ego­is­tisch“ entspricht (davon spricht Green­field selb­st nicht): choose.V, deci­sion.N, get.V, acqui­si­tion.N, feel.V, emo­tion.N, child.N, unique.ADJ, indi­vid­ual.N, self.N, baby.N, spe­cial.ADJ, per­son­al.ADJ, ego.N. Entsprechend ihrer These nimmt die eine Gruppe ab, die andere zu. Eine erste Rep­lika­tion lässt aber nur eine Zufallsverteilung ver­muten — weil viele Begriffe in Bezug auf ihre Fre­quenz nicht sig­nifikant verän­dern bzw. der These ent­ge­gen­läu­fig ver­hal­ten. Ich erstelle derzeit eine Liste mit „meinen“ eige­nen Wörtern, die nach Gut­dünken in eine der bei­den Konzepte passen, um die Willkür­lichkeit nachzustellen.

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