Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2014: Selfie

Von Susanne Flach

Wir haben nie ein beson­ders großes Geheim­nis darum gemacht, dass Self­ie ein absoluter Top­kan­di­dat auf den Titel ist. Wir lieben Self­ie. Bei uns kam das dig­i­tale Selb­st­por­trait ja auch vor allem lin­guis­tisch beson­ders gut an — der vierte Platz im let­zten Jahr lag auch an der starken Konkur­renz. Und als Senkrecht­starter 2013 waren wir entzückt (obwohl nicht über­rascht), dass es auch 2014 nominiert wurde.

Nun wirkt es schon fast schon lame, Self­ie ern­sthaft für den Anglizis­mus des Jahres 2014 in Betra­cht zu ziehen, wenn wir doch den Anspruch haben, die inno­v­a­tivste und fortschrit­tlich­ste Wörter­wahl zu orchestri­eren. Mit einem Ein­trag im DUDEN gehört Self­ie ja qua­si zum Estab­lish­ment. Und außer­dem war Self­ie schon Wort des Jahres in Großbri­tan­nien, den Nieder­lan­denSpanien, Bel­gien, auf den Philip­pinen, in Pin­ter­est und in Twit­ter, mehrfach nominiert und son­derkat­e­gorieaus­geze­ich­net in den USA und short­ge­lis­tet in zu vie­len Län­dern und Wahlen, um sie hier alle aufzuzählen. Der Lin­guist Geoff Nun­berg dürfte nicht der einzige sein, für den Self­ie das per­sön­liche Wort des Jahres ist. (Die Frage, was Self­ie in den Sprachen der Welt heißt, klingt da schon ver­gle­ich­sweise merkwürdig.)

Short­list­fähig war Self­ie aber natür­lich auch 2014, weil es in den Ref­eren­zko­r­po­ra und auch bei Google­Trends nochmals deut­lich zugelegt hat. Im DeReKo find­en sich für Self­ie und seine Kom­posi­ta 2013 50 Tre­f­fer, für 2014 bere­its 306 (40 vs. 262 nur für Self­ie) — und das, obwohl im DeReKo für 2014 vor­erst nur die Hälfte der Textmenge ver­füg­bar ist. ((Die Zahlen sind möglicher­weise etwas anders als angegeben, weil das neue COS­MAS-Inter­face noch nicht flüs­sig läuft und eine genaue (Nach-)Zählung meinem Zeit­man­gel zum Opfer gefall­en ist. So habe ich nur Sin­gu­lar­belege in die Rech­nung mit ein­be­zo­gen und auch die Tokenisierung manuell nicht weit­er auf­bere­it­et. )) Das ist also auch mit ein­er π‑x-(y)-Rechnung eine Größenord­nung der zehn­fachen Steigerung für 2014 gegenüber 2013.

Kein Wun­der: mit Oscar-Self­ieKan­z­lerin­nen-Podol­s­ki-Self­ie, Affen-Self­ie, Self­ies an unangemesse­nen Orten oder Oba­ma-Werbe-Self­ie ist die Kul­tur­prak­tik 2014 prak­tisch und lin­guis­tisch ja nun wirk­lich in jedem Zipfel der Gesellschaft angenom­men (sog­ar in Poli­tik- und Feuil­leton­spal­ten großer Medi­en). Wir wollen natür­lich auch nicht ver­schweigen, dass es Men­schen gibt, die davon gen­ervt sind (wohl aber eher nicht vom Begriff an sich).

Aber wir sind ja die inno­v­a­tivste und fortschrit­tlich­ste Wörter­wahl und unterziehen alle aus­sicht­sre­ichen Nominierun­gen ein­er knall­harten Prü­fung. Was also macht Self­ie denn wirk­lich inter­es­sant? Lin­guis­tisch? Auch 2014? Let­ztes Jahr schrieb ich davon, wie niedlich diese Verkleinerungs­form ist, die aus dem Aus­tralis­chen Englisch kommt (wo -ie-Diminu­tive sehr charak­ter­is­tisch sind). Es hat­te sich auch 2013 schon angedeutet: Self­ie und seine Bestandteile wer­den pro­duk­tiv und bilden Kom­posi­ta und Ableitun­gen, meist auf -elfie wie Shelfie (‚„Por­trait“ des Bücher­re­gals‘), Legsie (‚mit Beinen‘, aber auch: Lelfie) oder Belfie (‚Hin­tern‘). Was kann denn da noch kommen?

Neben Ver­bre­itung und Fre­quenz eine ganze Menge sprach­lich­er Inte­gra­tion: denn inter­es­sant ist, dass Self­ie im DeReKo 2014 gegenüber 2013 deut­lich sel­tener in soge­nan­nten Meta-Kon­tex­ten auftritt: es wird etwa sel­tener in Anführungsze­ichen geset­zt (20% vs. 4%) und weniger häu­fig bis gar nicht mehr wird es als „Selb­st­por­trait“ erk­lärt. Das weist darauf hin, dass es ein­er­seits etabliert und ver­bre­it­et ist und ander­er­seits als weniger fremd wahrgenom­men wird. Außer­dem hat es sel­tener den Charak­ter ein­er Fremdzuweisung („Ich würde das nicht sagen oder drüber schreiben, aber hier habt ihr’s halt.“). Inter­es­sant ist auch, dass Self­ie in der Metaver­wen­dung recht ras­ant eine Art Metafunk­tion entwick­elt hat, näm­lich die, ein Self­ie-Derivat zu erklären:

Als Protest gegen den Self­ie-Wahn riefen die Youtube-Come­di­ans von Y‑Titty vor kurzem zum Sug­lie-Tag (Self­ie + „ugly“: hässlich) auf. Einige verz­er­rte Gri­massen schwirren seit­dem durchs Netz.

MANNHEIMER MORGEN, 26. April 2014

Das „Helfie“ für ein Foto der Frisur (hair self­ie), das „Welfie“ für einen Foto beim Train­ing (work­out self­ie) oder das „Drelfie“ als ein im betrunk­e­nen Zus­tand gemacht­es Self­ie. Damit schließt sich auch der Kreis zum ersten bekan­nten „Self­ie“.

RHEIN-ZEITUNG, 20. Novem­ber 2013

Charak­ter­is­tisch an den Self­ie-Derivat­en auf -elfie ist ja, dass diese aus zwei Sil­ben beste­hen, wovon die erste in der Ableitung mit einem Konsonanten(cluster) im Anlaut verse­hen wird. Und weil so natür­lich nur eine ziem­lich begren­zte Anzahl an Kom­bi­na­tio­nen möglich ist, ist der Self­ie-Typ dann in oft nur einem einzi­gen Laut kodiert. Müßig zu erwäh­nen, dass diese Bil­dun­gen in Iso­la­tion nahezu vol­lkom­men intrans­par­ent sind (Telfie? Welfie? Usie? Drelfie? Helfie?) — das Wort­bil­dungsmuster im Kon­text aber dann doch ziem­lich gut funktioniert:

Jün­gere Zuschauer – die gibt’s beim The­atertr­e­f­fen auch, einige davon sind allerd­ings Schaus­pielschüler – erfan­den ein neues Kul­turgut: den Telfie. Der entste­ht direkt nach der Vorstel­lung und zeigt den Pro­tag­o­nis­ten vor ver­wüsteter Theaterbühne.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 17. Mai 2014

Sich alleine fotografieren und im Netz präsen­tieren? Self­ies mögen vielle­icht 2013 cool und hip gewe­sen sein, doch damit ist es vor­bei. 2014 wird das Jahr der Usies — wenn man der Gerüchteküche im Inter­net glauben darf.

N24, 14. Jan­u­ar 2014

(Das Sekre­tari­at des Juryvor­sitz schick­te mir noch eine Liste mit cou­plie, legsie und foot­sie [transparent(er), etwas anderes Muster], gelfie [‚Gym-Self­ie‘, ver­wandt mit Welfie], yogi ‚Yoga­selfie‘, und belfie [‚Hin­tern­selfie‘].)

Und das sind noch nicht mal unbe­d­ingt reine Ein­mal­bil­dun­gen: Welfie ist im DeReKo ins­ge­samt fünf Mal belegt — in min­destens drei unter­schiedlichen Kon­tex­ten; ähn­lich­es gilt für Belfie und Drelfie. Das ist für eine Art Kon­fix, also für einen Wort­teil, der sich nicht mit freien anderen Teilen zusam­men­tut, doch ziem­lich beachtlich — in dieser kurzen Zeit! (Über­legen wir mal, wie lange der let­ztjährige Sieger, das Suf­fix -gate, gebraucht hat, um pro­duk­tiv zu wer­den.) Das Muster hat sich wirk­lich erstaunlich schnell erstaunlich bre­it gemacht in der deutschen Lexikon­land­schaft. ((Die logis­che Kon­se­quenz übri­gens: das (aus­baufähige) Self­ie-Alpha­bet. ))

Nun kön­nte man sagen, dass das ein wenig das Prob­lem ist. Denn nominiert ist — anders als let­ztes Jahr bei -gate — ja nicht ein Bestandteil von Self­ie, son­dern Self­ie selb­st. Die Entwick­lung von Self­ie zeigt aber, wie sin­nvoll und bere­ich­ernd das Wort an sich ist — und es ist ja der Aus­gangspunkt für all diese Phänomene. Denn let­z­tendlich sind diese nicht weniger niedlichen Derivate Indika­tor dafür, dass sich Self­ie auch lin­guis­tisch als eine Art Ober­be­griff für eine het­ero­gene Aus­drucks­form des mod­er­nen Narziss­mus etabliert hat. Und es wäre natür­lich zu hoch gegrif­f­en, -elfie als Mor­phem mit der Bedeu­tung ‚(narzis­stis­ches) Bild, Por­trait von Din­gen und Per­so­n­en im dig­i­tal­en Social Media-Kon­text‘ zu beze­ich­nen — aber jet­zt mal so vom Prinzip her: sehr span­nend. (Und meine Erstis kön­nen möglicher­weise von Glück reden, dass Mor­pholo­gie schon durch ist für dieses Semester.)

So, und wer redet jet­zt noch davon, dass alle anderen Self­ie schon vor uns zum [WORTWAHL EINFÜGEN] gekürt haben? Wir haben halt die Argu­mente, die anderen einen guten Geschmack. Egal, ob ich die Jury von diesem Kan­di­dat­en überzeu­gen kann — für mich ist Self­ie auch dieses Jahr „Anglizis­mus der Herzen“. Ich denke, damit bin ich nicht alleine.

4 Gedanken zu „Kandidaten für den Anglizismus des Jahres 2014: Selfie

  1. Ferrer

    An Self­ie finde ich bemerkenswert die phonetis­che Nähe zu self­ish, was sich oft in der Attitüde des Self­iemach­ers während der Auf­nahme wieder­spiegelt. So nehme ich es jeden­falls wahr.

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    1. Susanne Flach Beitragsautor

      @Ferrer: das ist natür­lich nicht nur eine phonetis­che, son­dern auch eine mor­phol­o­gis­che (Stamm: self-) und seman­tis­che (SELF). Let­z­tendlich ist self­ish aber dann doch noch etwas anders (deut­lich neg­a­tiv­er kon­notiert); nicht jedes Self­ie muss eine self­ish per­son abbilden. Der Zusam­men­hang ist arg konstruiert.

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  2. Pingback: Kandidaten für den Anglizismus 2014: Selfie | ANGLIZISMUS DES JAHRES

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