Aus einer alltäglichen Perspektive ist das Latein schon deshalb uninteressanter als andere Sprachen, weil es im Prinzip eine tote Sprache ist — auch wenn sie in einer sehr eingeschränkten Funktion, als Amtssprache des Vatikan, künstlich am Leben gehalten wird.
Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist das Latein zunächst eine Sprache wie alle anderen. Für Sprachwissenschaftler, die sich mit den modernen Nachkommen dieser Sprache befassen, ist es natürlich ein Glücksfall, dass sie recht umfangreich dokumentiert ist. Für alle anderen ist sie als Objekt sprachwissenschaftlicher Studien sicher etwas weniger interessant als lebendige Sprachen, weil ihr die Muttersprachler fehlen (für Linguisten ist die Arbeit mit Muttersprachlern ein unverzichtbares Werkzeug), weil die Gesamtmenge der in dieser Sprache vorliegenden Texte beschränkt ist und weil sie sich nicht mehr weiterentwickeln kann. Trotzdem — grundsätzlich ist sie uns gleich viel Wert.
Ich sage das so deutlich, damit niemand auf die Idee kommt, dass ich aus beruflichen Gründen irgendetwas gegen das Lateinische haben könnte. Auch persönlich habe ich nur gute Erinnerungen an den Lateinunterricht. Aber ich ärgere mich immer wieder über die Lügen und Halbwahrheiten, die manche Latinisten verbreiten, um das Objekt ihrer altphilologischen Begierde wichtiger aussehen zu lassen, als es eigentlich ist. Dabei werden im Prinzip immer die gleichen Behauptungen wiederholt — sehr schön zu sehen diese Woche in der taz, in einem Artikel, der in seiner Überschirft behauptet: Latein ist wieder „In“.
Nach ein paar allgemeinen und leider für die taz enttäuschend undifferenzierten bildungsbürgerlichen Befindlichkeitsfloskeln über die Tätowierungen von Angelina Jolie und David Beckham, die alten Römer, den Plan der katholischen Kirche, die lateinische Messe wieder zuzulassen und nach der abstrusen Behauptung, die Hollywood-Filme „O Brother, Where Art Thou“ und „Cold Mountain“ seien „Coverversionen von Homers Odysee“ gibt der Artikel brav die latinistische Propaganda wieder.
Dabei geht es gleich mitten in die Bildungspolitik:
Die Pisa-Studie, die erstmals just im Jahr 2000 die deutsche Bildung auf die hinteren Ränge verwies, kam da für die aussterbenden Unterrichtszweige gerade zur rechten Zeit. Schließlich sind Eltern nun noch bedachter darauf, ihren Kindern eine ordentliche Bildungsgrundlage zu verpassen.
Die abstruse Idee, es könne einen Zusammenhang zwischen guten Lateinkenntnissen und guten Pisa-Ergebnissen geben, habe ich schon oft gehört. Ich erinnere zum Beispiel, dass kurz nach Veröffentlichung der ersten Pisa-Studie Günter Jauch in irgendeiner Talkshow als Bildungsexperte geladen war (vermutlich, weil er fehlerfrei Quizfragen von einem Monitor ablesen kann), wo er dann lateinische Verben deklinierte und sich ausführlich darüber ausließ, dass alles Schlechte dieser Welt mit den fehlenden Lateinkenntnissen der jungen Menschen zusammenhinge.
Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die Pisa-Studie testet nur drei Bereiche: Lesen von (deutschsprachigen) Texten, Mathematik und Naturwissenschaften. Wenn man die Ergebnisse deutscher Schüler verbessern will, muss man mit ihnen also drei Dinge tun: Lesen üben, Rechnen üben und ihnen ein paar grundlegende naturwissenschaftliche Zusammenhänge erklären. Was man mit Sicherheit nicht tun muss, ist, ihnen Latein beizubringen, denn das hilft weder beim Lesen, noch beim Rechnen, noch bei der Analyse chemischer Reaktionsgleichungen. Das lässt sich eigentlich durch ein bisschen Nachdenken herleiten, aber wer externe Evidenz braucht, der findet sie in der Pisa-Studie selbst: in keinem der Länder, die in der Pisa-Studie vor Deutschland gelandet sind (und von denen gab es ja eine ganze Menge), wird mehr Latein unterrichtet, als in Deutschland — ja, in vielen dieser Länder wird Latein gar nicht mehr unterrichtet (wie der taz-Artikel an anderer Stelle ganz richtig anmerkt).
Angesichts der zeitlichen Beschränkungen, denen der Schulunterricht unterworfen ist, müsste eigentlich jedem klar sein, dass man die Zeit, die man mit der Lektüre von Cäsars Gallischem Krieg oder Ovids Metamorphosen verbringt, besser in das Lernen einer lebendigen Sprache investieren sollte. Die Latinisten sehen das anders, und der taz-Artikel gibt die Begründung brav wieder:
Wenn es vernünftig ist, „lebendige“ Sprachen wie Italienisch, Spanisch, Englisch oder Französisch zu lernen, dann wird die „tote“ Sprache erst recht zum Muss: Latein und seine Grammatik sind die Grundlage und Mutter weitgehend aller europäischen Sprachen.
Selbst wenn die hier behauptete Verwandschaftsbeziehung tatsächlich bestehen würde, wäre das kein Grund, Latein zu lernen. Wer Autofahren will, lernt ja auch nicht erst Reiten und wer Schreiben lernen will, beginnt nicht mit Höhlenmalereien. Und genauso gilt natürlich: wer Englisch lernen will, lernt nicht erst Anglo-Friesisch; wer Russisch lernen will, lernt nicht erst Altkirchenslawisch; wer Schwedisch lernen will, lernt nicht erst Altnordisch. Die Geschichte einer Sprache ist völlig irrelevant für ihre Sprecher. Ich spreche zum Beispiel schon mein ganzes Leben lang Deutsch, ohne ein Wort Alt- oder Mittelhochdeutsch zu beherrschen.
Die behauptete Verwandschaftsbeziehung gibt es aber ohnehin nicht. Das Lateinische ist keineswegs „Grundlage und Mutter weitgehend aller europäischen Sprachen“ — es ist bestenfalls „Grundlage und Mutter“ der romanischen Sprachen (Französisch, Italienisch, Katalanisch, Portugiesisch, Rumänisch, Spanisch, und ein paar kleiner Sprachen, deren Sprecher ich hier um Entschuldigung bitte, dass ich sie nicht alle aufzähle). Die romanischen Sprachen sind aber nur einer von drei großen Zweigen der Indo-Europäischen Sprachfamilie, die in Europa gesprochen werden. Die anderen beiden sind die germanischen Sprachen (Deutsch, Englisch, Friesisch, Jiddisch, Niederländisch, alle skandinavischen Sprachen, usw.) und die slawischen Sprachen (Bulgarisch, Kroatisch, Polnisch, Russisch, Serbisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch, Ukrainisch, Weißrussisch, usw.). Und das sind nur die großen Zweige. Hinzu kommen kleinere Zweige wie die baltischen Sprachen, die hellenischen Sprachen (von denen nur das Griechische übrig geblieben ist), die keltischen Sprachen und ein paar Sprachen, die nicht in die Indo-Europäische Sprachfamilie gehören, aber trotzdem in Europa gesprochen werden (z.B. das Baskische, das Estnische, das Finnische, das Türkische und das Ungarische). Keine dieser vielen Sprachen stammt in irgedeiner Weise vom Latein ab — für die indo-europäischen Sprachen außerhalb der romanischen Sprachfamilie ist der letzte gemeinsame Vorfahre mit dem Lateinischen das Proto-Indo-Europäische, und für die anderen Sprachen gibt es möglicherweise überhaupt keinen gemeinsamen Vorfahren.
Bestenfalls hat das Latein eine herausgehobene kulturgeschichtliche Stellung. Es war das Englisch der Vormoderne — eine durch eine wirtschaftliche und militärische Weltmacht gestützte Lingua Franca. Aber auch das versuchen die Latinisten als Pluspunkt zu verkaufen: das Lateinische sei ein Phänomen,
das mit ein wenig Glück dazu führen könnte, dass die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund besser gelingt: „In manchen Berliner Schulklassen ist die Antike das einzige Element, das Polen, Letten, Deutsche, Türken verbindet“, sagt Kipf. Gerade junge Deutschtürken hätten oft einen Aha-Effekt, so seine Erfahrung: Schließlich war auch die heutige Türkei einst Teil des Imperium Romanum.
Etwa nach dem Motto: Seht, liebe Migrantenkinder, vor vielen hundert Jahren sind wir alle gemeinsam von ein paar kriegslüsternen norditalienischen Stämmen unterdrückt worden — wir wissen also, wie ihr euch fühlt.
Die alten Sprachen — nicht nur das Lateinische, sondern auch das Altgriechische, das Sanskrit, das klassische Aztekisch und Maya, das Althebräische, das Altarabische, das Altchinesische, das Altnordische und all die anderen Sprachen, von denen uns mehr oder weniger ausführliche Texte überliefert sind — sind ein wertvoller Teil unseres gemeinsamen Menschheitserbes. Ihr Studium ermöglicht es uns, in die Kultur unserer Vorfahren einzutauchen, deren rhetorisches und erzählerisches Geschick zu bewundern und aus ihren Triumphen und Niederlagen zu lernen. Aber ihr Studium wird uns weder zu kultiviertern Menschen machen, noch wird es uns dabei helfen, moderne Fremdsprachen zu lernen, und schon gar nicht wird es die Bildungskrise in Deutschland überwinden.
Ich behaupte aber trotzdem, und das aus eigener Erfahrung, daß es ein Glücksfall ist, daß ich zuerst Latein und dann englisch gelernt habe. Zumindest für einen bestimmten Typ von Sprachlernen, zu denen ich offenbar gehöre, ist es einfacher, eine Sprache zu erlernen, wenn man einen Einblick in den theoretischen Unterbau gewonnen hat. Und den erhält man im Lateinunterricht. Da von der grammatischen Struktur — zumal vom Zeitenschema — das Englische und auch das Deutsche große Ähnlichkeiten mit dem Lateinischen haben (aus welchem Grund auch immer, es ist jedenfalls so), kann einem der Lateinunterricht sowohl beim Englischlernen als auch beim Verstehen der Struktur der eigenen Sprache von großem Nutzen sein. Vermutlich könnte man auch lebendige Sprachen so lehren wie es mit Latein geschieht, es macht nur niemand.
Im Falle des Englischen kommt dazu, daß das englische Vokabular sich zum großen Teil aus germanischen Wortstämmen einerseits und Lehnwörtern aus romanischen Sprachen andererseits rekrutiert. Zum germanischen Teil haben Deutsch-Muttersprachler ohnehin einen guten Zugang; kommt noch ein gesunder Sockel an lateinischem Vokabular hinzu, so wird man mit dem Lernen englischer Vokabeln nicht mehr gar so viel Mühe haben.
Ich vertrete keineswegs die These, daß Latein der Schlüssel zur Lösung der Bildungsmisere ist. Aber ich unterstütze durchaus die Behauptung, daß Latein als erste Fremdsprache eine große Hilfe beim späteren Erlernen anderer Sprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch sein kann (nicht muß).
Wer natürlich in der Fünften mit Latein “gequält” wird und mangels passender Denkschemata (oder ausreichenden Lerneifers) keinen Spaß am Lateinlernen hat, der wird in der Siebten auch nicht besser mit Englisch zurechtkommen, als wenn er es in der Fünften bekonnen hätte.
Naja, im Prinzip alles richtig. Aber diese seltsame Sprache, die ständig Personalpronomina und andere hilfreiche Bezugswörter verschluckte und zugleich Unmengen von grammatischer Information in nur einer Verb-Endung verklausulierte, die brachte mir damals eine Menge von ‘Aufdröselspaß’: Vor jedem neuen Satz stand ich wie vorm Anfang der Welt, als erstes wurde das Verb erlegt, um seine Eingeweide zu beschauen — usw. Kombinationsgabe hat das Latein also schon geweckt.
Psst. Die Formulierung „Ich erinnere […], dass“ bitte klammheimlich durch was Korrektes ersetzen und diesen Kommentar danach wieder löschen – mit etwas Glück hat’s sonst noch keiner gemerkt!
Das izt so zwar alles richtig; trotzdem ist es so, dass Lateinkenntnis das Französischlernen erheblich befördert (und umgekehrt), aber auch das Englischlernen, und dass, wenn man erst einmal Deutsch, Französisch, Englisch, und Latein kann, mit den romanischen und auch viele anderen indoeuropäischen Sprachen irgendwie ganz gut klarkommt. Als Teil einer systematischen Strategie des Erwerbs möglichst vieler Sprachkenntnisse halte ich Lateinlernen für äußerst sinnvoll.
@Ruben L. Doch. Ich. 🙂
Ich habe gerade keine Lust mich durch die Eingeweide des Internets zu arbeiten, und die Fachleute werden diese und ähnliche Studien eh kennen. Aber ich erinnere mich an eine Studie (SZ oder ZEIT), die untersucht hat, ob Studenten die an der Uni eine romanische Sprache lernen, sich leichter tun, wenn sie in der Schule Latein hatten.
Tun Sie nicht. Demnach wäre Latein eben nicht das Sprachlernwerkzeug, als das es auch hier in den Kommentaren gepriesen wird.
Naiv gesagt, ist das schon deshalb unsinnig, weil jemand der in der 7. Klasse mit Französisch beginnt, in aller Regel diese Sprache besser beherrschen wird, als jemand der in der Uni mit Französisch beginnt und ab der 7. Klasse Latein hatte.
Buntklicker, Chat Atkins, der Lateinunterricht unterscheidet sich tatsächlich grundsätzlich vom Unterricht der modernen Sprachen: die kommunikative Wende, die spätestens seit den 1970er Jahren die Grammatik aus dem Fremdsprachenunterricht vertrieben hat, hat den Lateinunterricht nie erreicht (mit wem sollte man dort auch kommunizieren). So ist der Lateinunterricht das letzte Refugium für eher kognitive Lernertypen geworden, denen die explizite Beschäftigung mit Grammatik hilft und Freude macht. Ich habe Latein an der Universität belegt und kann den Reiz durchaus nachvollziehen. Dieser Reiz liegt aber nicht an der lateinischen Sprache an sich, sondern an der Art des Unterrichts. Auf die selbe Art könnte man Deutsch, Englisch oder Französisch unterrichten, oder man könnte den kognitiven Lernertypen einen allgemeinen Grammatikunterricht anbieten.
Mawa, natürlich können Lateinkenntnisse beim Französichlernen helfen und umgekehrt, wenn man die eine Sprache bereits beherrscht. Aber wenn man Französisch lernen möchte, ist es natürlich insgesamt leichter, das direkt zu tun als erst Latein zu lernen (und umgekehrt). Außerdem hat das Latein hier keine herausgehobene Rolle: Spanischkenntnisse helfen beim Französischlernen genauso gut, und man kann sie außerdem dazu verwenden, mit über 300 Millionen Menschen zu sprechen…
Um das klarzustellen: ich bin keinesfalls gegen Lateinunterricht, solange ehrlich gesagt wird, wozu der gut sein soll.
Ruben L., ich weiß wohl, dass das eine der Konstruktionen ist, die den Unwillen von Leuten wie Bastian Sick erregen, aber ich kann selbst unter ausführlichem Hinzuziehen meines Sprachgefühls nicht nachvollziehen, wieso. Ich muss annehmen, dass es sich um dialektale Variation handelt (der Eintrag im Bertelsmann Wörterbuch bezeichnet die Verwendung als „landschaftlich“). Mal sehen, vielleicht ist das ja ein Thema für ein zukünftiges Posting.
Als Linguistik-Student bin ich in die Verlegenheit gekommen mehrere “komische” Sprachen lernen zu müssen.
Irgendwann einmal war auch Latein dabei. Meiner Meinung nach ist Latein nur eine Sprache und sicher kein Heilsbringer zum Sprachenlernen.
Um ihre oben erwähnten heilsbringenden Eigenschaften des Lateins zu erklären möchte ich folgende Behauptung aufstellen:
Je mehr Sprachen man lernt, desto leichter fällt das Lernen von weiteren Sprachen.
Was Latein vielleicht besonders macht ist die “gefühlte Ferne” der Sprache vom Lerner. Dadurch bleibt die Sprache abstrakt, dies mag das systematische Denken über Sprache vereinfachen. Ob das eurozentrisch-geprägte systematische Denken über Sprache das Lernen von weiteren Sprachen an sich vereinfacht möchte ich bezweifeln. Die Kommunikation über Sprache (wie sie im Sprachunterricht gefordert wird) vereinfacht dies aber bestimmt.
Ob man dafür Latein lernen muss? — Lieber was sinnvolles! Wie wäre es mit Japanisch, Chinesisch, Türkisch oder Hindi? Durch den Abstand zum Deutschen ist zu erwarten, dass beim Lernen dieser Sprachen eine systematische Strategie im Umgang mit Sprache geschult wird.
Die transitive Verwendung von “erinnern” scheint wohl einem Zeitwandel und einem Nord-Süd-Gefälle unterworfen zu sein.
Aber schon erscheinen wieder die Anglizismenhasser.
Pax
Ja, wenn es nur das wäre. Aber damit kann man keine 4 Jahre ausfüllen (zusätzlich zu den zweien, in denen man die Sprache selbst lernt). Vergil, Sallust, und noch ein paar haben wir gelesen, einen Satz nach dem anderen (…und so ungefähr drei Sätze pro Stunde). Und ohne 6 Jahre Latein kriegt man in Wien keine 4 Jahre Russisch. Wenn man die letzten 3 Jahre ersatzlos weggekürzt hätte, hätte ich genauso viel gelernt…
(Und das, obwohl Altgriechisch fast nirgends mehr unterrichtet wird.)
Das stimmt zwar, aber es funktioniert umgekehrt auch.
Schon, aber nach ein paar Jahren wird das auch fad.
(Äh… langweilig.)
Trotzdem ist es nahe genug, dass man die Grammatik — mit Vereinfachungen — allen Sprachen unterstellen kann, die man als Normalsterblicher sonst so lernt. Für Russisch hilft das z. B. (“ah, schon wieder ein Instrumental, wie praktisch”). Für Chinesisch hilft es überhaupt nicht…
Ah, da ist es. Das habe ich als “ich erinnere daran” gedeutet — und zwar mit uns als Objekt, nicht reflexiv (“ich erinnere mich”). War das nicht gemeint?
Als Literaturwissenschaftler, der an einem humanistischen Gymnasium seine Schullaufbahn absolviert (mit Latein, Englisch und Griechisch als Pflichtfremdsprachen) und der neben deutscher Literatur noch Philosophie und klassische Philologie studiert hat, erlaube ich mir zur Bedeutung des Lateinischen für eine wünschenswerte Bildung (die Literatur einschließt) eine etwas, um nicht zu sagen deutlich andere Ansicht als Anatol Stefanowitsch. Die Standard-“Phrasen” der “Latinisten” bleiben aber natürlich großteils Unsinn.
Dennoch könnte der Lateinunterricht (zumal mit seiner Ausrichtung auf Schriftlichkeit) vielleicht auch Effekte fürs Sprachenlernen und auf die Sprachbewusstheit haben. Jedenfalls sprechen germanistische Linguisten immer wieder davon, dass diese (insbes. im Bereich Grammatik) bei Studierenden sehr viel ausgeprägter ist, wenn sie an der Schule Lateinunterricht hatten.
Und natürlich ist — wie der Snob im Bildungsbürger weiß — das Griechische dem Lateinischen natürlich in jeder Hinsicht vorzuziehen.
Auch ich bin ein Gewinner des lateinischen Grammatikunterrichts, vor allem aber schätze ich den gesellschaftlichen Nutzen viel höher ein. Kein ernsthafter Hochstapler kann hierzulande auf Latein verzichten. Den Resten des deutschen Bürgertums dienen das Lateinische und Griechische neben dem Klavierspiel als Ausweis der Dazugehörigkeit in einem Ausmaß, das Nichtdazugehörige gar nicht bemerken. Selbstverständlich braucht man Englisch und Französisch, gewiss ist Latein kaum einer Karriere wirklich hilfreich, aber es ist noch sehr viel Geld bei netten Menschen, die wenig auf Karriere geben und viel auf Catull. Gerade die Nichtverwertbarkeit ist der Wert. “Wenn man seine Klassiker um sich versammelt hat, kann man sogar in Neukölln wohnen”, wurde mir erst neulich versicht, damit ich mich ja nicht fürchte, die exzentrische Residenz könnte zur Ausgrenzung führen. Als Lyriker ist mir allerdings das Alt- und Mittelhochdeutsche wichtiger.
Übrigens habe ich seit etwa zwei Jahren den Eindruck, dass in den USA neuerdings das Deutsche für Distinktion sorgt, in Ablösung teilweise des Französischen. Leider beschränkt sich die Beobachtung auf Feuilleton, Literaturzeitschriften und Lyrikblogs, da aber stoße ich fast täglich auf deutsche Wörter und Redewendungen, Nietzschi im Original, the Doppelgangers usw.
Sehr geehrter Herr Stefanowitsch,
zuerst schreiben Sie, dass alle skandinavischen Sprachen zu den germanischen Sprachen gehört, dann heißt es, finnisch gehöre ganz wo anders hin. Wie passt das zusammen?
Mit freundlichen Grüßen
Stephan
David Marjanović, „Das habe ich als “ich erinnere daran” gedeutet — … War das nicht gemeint?“
Nein, ich hatte es so gemeint, dass ich mich daran erinnere. Ich hätte gedacht, dass der Satz die andere Bedeutung gar nicht haben kann, aber jetzt habe ich ihn zwanzigmal vor mich hingesagt und mir dabei vorgestellt, ich wolle jemand anderen an etwas erinnern, und jetzt kommen mir beide Bedeutungen richtig vor…
Uwe, der Lateinunterricht kann in der Tat positive Auswirkungen auf das metasprachliche Wissen der Schüler haben, aber ich denke, das liegt an der Art des Unterrichts. Wie eine Kollegin heute anmerkte: „Irgendwo müssen die Schüler halt lernen, was ein Adjektiv ist, und der Deutschlehrer sagt es ihnen nicht…“. Das Altgriechische ist — gerade für Puzzler — um ein Vielfaches interessanter als das Lateinische, da stimme ich völlig zu.
dirk, an die Hochstapler hatte ich nicht gedacht. Unter diesem Aspekt muss ich natürlich alles zurücknehmen… Das Alt- und Mittelhochdeutsche schienene mir tatsächlich eine sinnvolle Ergänzung des Stundenplans darzustellen, nicht nur für Lyriker. Wenn mehr Menschen mit älteren Sprachstufen des Deutschen vertraut wären, würden sie nicht so leicht auf die Sicks dieser Welt hereinfallen, die Variation grundsätlich für einen durch die Globalisierung und das Werbefernsehen bedingten Sprachverfall halten.
@Stephan
Finnisch ist keine skandinavische Sprache, sondern eine finno-ugrische. Übrigens liegt Finnland auch nicht in Skandinavien, auch wenn einem das niemand glauben will. 🙂
@Erinnern
Darüber bin ich auch gestolpert. Das dürfte weniger mit Transitivität als vielmehr mit Reflexivität zu tun haben. Es gibt noch mehr reflexive Verben, die manchmal ohne Reflexivpronomen verwendet werden, aber dummerweise fällt mir gerade keines ein. So oder so stellt sich die Frage, ob man Reflexivverben ohne Reflexivpronomen verwenden kann. Ich finde das seltsam, weil es zu implizieren scheint, daß Verben wie “erinnern” auch nicht-reflexiv gebraucht werden könnten.
(1) Ich erinnere mich an XY
(2) Ich erinnere dich an XY
In (2) ist “dich”, meine ich, ein Personalpronomen, “erinnern” also nicht reflexiv gebraucht. Aber mE sind die beiden Verben in (1) und (2) verschiedene Verben, nicht dasselbe “erinnern”. (“remember” vs “remind”)
Ob man nun beim reflexiv gebrauchten “erinnern” das Reflexivpronomen verwenden muß, weiß ich nicht. Aber meine Intuition ist, daß man, wenn man es wegläßt, schlicht das falsche Verb verwendet.
Klar hilft jede romanische Sprache beim Erlernen anderer romanischer Sprachen. Aus dem Universitätsalltag weiß ich aber, dass es gerade zwischen Französisch und Spanisch bzw. Italienisch auch zu ungewollten Synergieeffekten in Form von Vermischung kommen kann; da wird dann im Französischen permanent “y” und “aqui” statt “et” und “ici” gesagt, ohne dass es jemand merkt. Latein hat als Ausgangsbasis den Vorteil, dass es auf Grund seines Totseins zwar die Stämme und Strukturen liefert, aber keine Verwechslungsgefahren aufkommen lässt. Und wie gesagt, es hat noch den netten Nebeneffekt, ungeheuer viele Vokabeln fürs gehobene Englisch mitzuliefern.
Das muss dann wirklich niederdeutsch sein. Kein Wunder in Mbremn, natürlich.
Mir hat man das in der Volksschule beigebracht. *protz* Scheint sich aber auch aufzuhören.
(Kennen alle “sich aufhören”, oder ist das jetzt ein südlicher Regionalismus…?)
Ein Nachteil des Grammatikunterrichts für Latein ist aber auch, daß man eben tatsächlich nur die spezifisch lateinische Grammatik lernt. Da kennt man dann zwar sechs Fälle (von denen man zwei für’s Deutsche gar nicht braucht), aber kann mit starker und schwacher Adjektivflexion oder Ablautreihen nichts anfangen.
Ich bin für einen eigenen Abschnitt “(Sprach-)Typologie” im Lehrplan für den Deutschunterricht. Dafür hätte ich gern auf die ein oder andere Lektüre und auch auf den Lateinunterricht verzichten können.
Nach generationenübergreifendem familiärem Selbstversuch mit dem Erlernen von a) Latein und b) romanischen Sprachen bin ich inzwischen um folgende Erkenntnisse reicher:
1. Latein gelernt zu haben hilft sehr dabei, Texte in romanischen Sprachen zu lesen bzw. zumindest halbwegs zu verstehen. Wer Latein kann, wird sich in Spanien oder Italien schon irgendwie zurechtfinden.
2. Latein gelernt zu haben hilft verflucht wenig dabei, eine romanische Sprache sprechen zu lernen. Eben weil man das Lateinische nie sprechen musste bzw. durfte.
3. Zuerst eine romanische Sprache zu lernen hilft ungemein dabei, hinterher Latein zu lernen. Meine älteste Tochter (12) spricht fließend spanisch und musste jetzt wegen Schulwechsels das komplette erste Jahr Latein nachholen. Das war in den Sommerferien ohne allzu große Anstrengung erledigt.
4. Zuerst eine romanische Sprache zu lernen, hilft ungemein dabei, danach noch eine weitere romanische Sprache zu lernen.
5. Latein wird richtig charmant, wenn man es so ausspricht, als wäre es Spanisch.
6. Latein lernen kann für alles mögliche verwenden. Aber es ist nicht wirklich das Erlernen einer Sprache, sondern eher so etwas wie Mathematik. Es sei denn natürlich, man hätte einen Lehrer, der das Lateinische so behandelt, als wäre es Spanisch.
Das hilft aber natürlich nicht dabei, den Stabreim in ceterum censeo Karthaginem (esse delendam) auszugraben, nicht zu erwähnen die Herkunft von Kirsche (Frz. cérise), Kiste und Keller (BrE cellar).
Och, für mich war es geradezu ein Erweckungserlebnis, als ich Jahrzehnte nach dem an der Schule ausgetragenen Streit, ob es nun Zäsar und Zizero oder Käsar und Kikero heißt, von meiner Tochter ganz beiläufig darauf gebracht wurde, dass man ja auch ßäsar und ßißero sagen kann, und das man Cicero auch nicht auf dem i betonen muss, sondern genauso gut auch das e nehmen kann: ßißéro — find’ ich gut!
Mag spät sein, aber: Verben deklinieren? Habe ich in meiner Schülerlaufbahn etwas nicht mitgekriegt, oder kann man Verben eben doch nur knojugieren?
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