Flüchtlinge und Geflüchtete

Von Anatol Stefanowitsch

Vorschläge für sen­si­ble Sprachregelun­gen tre­f­fen sel­ten auf Gegen­liebe. Im Gegen­teil: Sie ziehen Vor­würfe von „Zen­sur“, „Denkver­boten“ und natür­lich „poli­tis­ch­er Kor­rek­theit“ an, wie das Licht die Mot­ten. ((Mit „poli­tis­ch­er Kor­rek­theit“ meinen diejeni­gen, die sie anderen vor­w­er­fen, natür­lich nichts Gutes und die Meta­pher vom Licht (der Ver­nun­ft) und den Mot­ten (aus der ~kiste der Geschichte) gefällt mir immer bess­er, je öfter ich sie lese.))

So auch bei dem Vorschlag, Flüchtlinge lieber als Geflüchtete zu beze­ich­nen. Dieser Vorschlag ist nicht völ­lig neu, aber er erre­icht immer wieder mal eine bre­it­ere Öffentlichkeit, z.B. während des No-Bor­der-Camps in Köln im Juni oder während der aktuellen als Refugee Camp beze­ich­neten Demon­stra­tio­nen.

Warum diese (oder irgen­deine andere) Sprachregelung sin­nvoll sein kön­nte, fra­gen die Geg­n­er poli­tis­ch­er Kor­rek­theit nie: für sie ist klar, dass jede Sprachregelung erstens über­flüs­sig und zweit­ens ein schw­er­er Fall von Sprachver­hun­zung ist. Über­flüs­sig, weil das Wort, um das es jew­eils geht, doch völ­lig unprob­lema­tisch sei, und Sprachver­hun­zung, weil für sie jede unge­wohnte For­mulierung eine ästhetis­che Gefahr darstellt. Sehen wir uns deshalb diese zwei Aspek­te anhand des Begriff­s­paars Flüchtlinge/Geflüchtete näher an, denn es lassen sich daran die Über­legun­gen verdeut­lichen, die bei Vorschlä­gen für Sprachregelun­gen immer eine Rolle spie­len. [Hin­weis: Der fol­gende Text enthält Beispiele ras­sis­tis­ch­er Sprache].

Die Verwendung von Flüchtling

Zunächst zur Frage, ob das Wort Flüchtling prob­lema­tisch ist. Diese Frage lässt sich auf zwei Arten beant­worten: Erstens kön­nten wir fra­gen, ob die Betrof­fe­nen selb­st das Wort prob­lema­tisch find­en. Da „die Betrof­fe­nen“ keine homo­gene Gruppe darstellen, hil­ft das aber nicht sehr viel weit­er. Ich selb­st habe es nie als prob­lema­tisch emp­fun­den, dass meine Groß­mut­ter als Kriegs­flüchtling nach Deutsch­land gekom­men ist und auch als solch­er beze­ich­net wurde. Aber da ich nicht weiß, ob ich repräsen­ta­tiv bin, besagt das nichts. Zweit­ens kön­nten wir nach objek­tiv­en Kri­te­rien fra­gen, und die lassen sich auf zwei Ebe­nen find­en: a) das Wort kön­nte über­wiegend in neg­a­tiv­en Zusam­men­hän­gen ver­wen­det wer­den; b) die Struk­tur des Wortes selb­st kön­nte prob­lema­tisch sein.

Das Wort Flüchtling ist all­ge­mein gebräuch­lich, und find­et sich sowohl in neg­a­tiv­en als auch in pos­i­tiv­en Zusam­men­hän­gen. Es wird völ­lig neu­tral ver­wen­det, etwa in den Namen des Bun­de­samts für Migra­tion und Flüchtlinge, der bun­desweit­en Flüchtlingsräte oder des Weltflüchtlingstages. Die Ver­wen­dungszusam­men­hänge an sich sind also nicht grund­sät­zlich problematisch.

Bei der Struk­tur des Wortes selb­st ist das anders, sehen wir sie uns also genauer an.

Die Struktur von Flüchtling

Das Suf­fix -ling war ursprünglich eine Verkleinerungs­form (ein soge­nan­nter Diminu­tiv) ohne neg­a­tive Nebenbe­deu­tung, wie sie heute noch bei bes­timmten Tier- und Pflanzen­beze­ich­nun­gen zu find­en ist (Enger­ling, Sper­ling, Frischling, Nestling, Set­zling). ((Die Diskus­sion der Wörter auf -ling stützt sich auf Baeskow, Heike (2002) Abgeleit­ete Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen im Deutschen und Englis­chen: Kon­trastive Wort­bil­dungs­analy­sen im Rah­men des Min­i­mal­is­tis­chen Pro­gramms und unter Berück­sich­ti­gung sprach­his­torisch­er Aspek­te. Berlin: Wal­ter de Gruyter [Google Books Voran­sicht].))

Bei Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen entwick­elte es jedoch schnell eine abw­er­tende Bedeu­tung. Hier müssen zunächst drei Fälle unter­schieden wer­den: Das Suf­fix -ling kann an Ver­ben (auch sub­stan­tivierte Ver­ben) oder an Adjek­tive ange­hängt wer­den, und bei Ver­ben kann das so entste­hende Wort eine aktivis­che Bedeu­tung („Per­son, die etwas tut“) oder eine pas­sivis­che Bedeu­tung („Per­son, mit der etwas getan wird“) haben.

Mit -ling aus Adjek­tiv­en gebildete Wörter hat­ten im Prinzip von Anfang an einen neg­a­tiv­en Beik­lang (eine sog. neg­a­tive Kon­no­ta­tion). Die aus mit­tel­hochdeutsch­er Zeit stam­menden Wörter Fremdling und Neul­ing waren anfangs manch­mal noch neu­tral (bei Luther find­et sich Fremdling noch in der Bedeu­tung „Gast“), aber schon viele der frühen Bil­dun­gen sind klar neg­a­tiv, z.B. Zärtling („schwäch­lich­er Men­sch“) oder Dümm­ling. Auch die Bil­dun­gen in den Jahrhun­derten danach sind durchgängig neg­a­tiv: Rohling, Son­der­ling, Wüstling, Schwäch­ling, Küm­mer­ling, Prim­i­tivling, Naivling, Jüngling, Weich­ling, Win­zling und Fei­gling. Und das sind nur die Wörter, die heute noch im Gebrauch sind. Nehmen wir die hinzu, wie sich nicht hal­ten kon­nten, wird die neg­a­tive Kon­no­ta­tion noch deut­lich­er: Blasiertling, Kor­ruptling, Stu­pid­ling, Süßling, Weib­ling, Kin­dling, Blässling, Ble­ich­ling, Dick­ling, Feistling, Schmächtling. Küm­mer­ling, Frührei­fling, Gräm­ling, Strengling, Heit­er­ling, Gescheitling, Vornehm­ling, Arm­ling („armer Men­sch“), Weis­ling, Bequem­ling, Müssling („Müs­sig­gänger“).

Beson­ders inter­es­sant sind die Wörter Süßling und Schön­ling, da sie zeigen, dass das Suf­fix -ling auch aus eigentlich pos­i­tiv kon­notierten Adjek­tiv­en neg­a­tiv kon­notierte Sub­stan­tive macht (Süßling hies ursprünglich „Leck­er­maul“, ab dem 18 Jh. dann aber „fad­er, süßlich tuen­der Men­sch“, und Schön­ling war schon zu sein­er Entste­hung im 18. Jh. neg­a­tiv). Wir sehen also, bei Adjek­tiv­en ergibt das Suf­fix ‑ling spätestens seit dem 18. Jahrhun­dert neg­a­tiv kon­notierte Wörter.

Aber Flüchtling ist natür­lich nicht von einem Adjek­tiv, son­dern vom Verb flücht­en abgeleit­et. Wie sieht es also bei Wörtern aus, die aus Ver­ben abgeleit­et sind? Hier müssen wir, wie gesagt, zwis­chen denen unter­schei­den, die eine pas­sivis­che Bedeu­tung haben (wie Prüfling, „Per­son, die geprüft wird“) und denen, die eine aktivis­che Bedeu­tung haben (wie Ein­drin­gling, „Per­son, die irgend­wo eindringt“).

Die mit pas­sivis­ch­er Bedeu­tung sind grund­sät­zlich nicht im engeren Sinne neg­a­tiv kon­notiert, sie implizieren aber alle ein mehr oder weniger starkes Abhängigkeitsver­hält­nis, was vielle­icht in der Natur der pas­sivis­chen Bedeu­tung liegt: Prüfling, Impfling, Lehrling, Liebling, Säugling, Fin­d­ling, Täu­fling, Sträfling, Zögling, Häftling, Schüt­zling, Pflegling.

Mit aktivis­ch­er Bedeu­tung gibt es nur sehr wenige gebräuch­liche Wörter, näm­lich Flüchtling, Ein­drin­gling, Emporkömm­ling und Schreiber­ling (let­zteres aus einem Sub­stan­tiv, das sein­er­seits mit aktivis­ch­er Bedeu­tung aus einem Verb abgeleit­et ist. Zumin­d­est Ein­drin­gling, Emporkömm­ling und Schreiber­ling sind hier klar neg­a­tiv kon­notiert, und dieses Bild bestätigt sich, wenn wir Wörter mit hinzunehmen, die sich im Gegen­warts­deutschen nicht gehal­ten haben: Beichtling, Kriech­ling, Reim­ling/Dichter­ling („schlechter Dichter“), Schwin­dling („Lügn­er, Phan­tast“), Fressling, Säu­fling, Rühm­ling („Prahler“), Nasen­rümpfling („Besser­wiss­er“), Roman­ling („schlechter Schrift­steller“) und Dichter­ling.

Es lässt sich also fest­stellen: Wer Flüchtling als neg­a­tiv kon­notiert empfind­et, hat min­destens zwei Argu­mente, die diese Empfind­ung stützen. Erstens: Die Mehrzahl der nach dem gle­ichen Muster gebilde­ten Wörter ist neg­a­tiv kon­notiert. Zweit­ens: Das Muster ist sehr sel­ten, die dom­i­nan­ten Muster sind die aus adjek­tiv­en abgeleit­eten Wörter (die durchgängig neg­a­tiv kon­notiert sind), und die pas­sivis­chen Wörter (die durchgängig Abhängigkeitsver­hält­nisse sug­gerieren). Diese Muster sind zwar nicht direkt auf Flüchtling zu beziehen, aber da sie so dom­i­nant sind, ist es nicht unwarhschein­lich, dass ihre Bedeu­tung auch auf Wörter des Musters Flüchtling abfärbt.

Wer Flüchtling nicht als neg­a­tiv kon­notiert empfind­et, muss sich für seine Empfind­ung aus mein­er Sicht nicht in dem Maße recht­fer­ti­gen, wie es bei klar diskri­m­inieren­den Wörtern wie N****, Kanacke o.ä. der Fall wäre. Allerd­ings ändern das per­sön­liche Empfind­en und die Tat­sache, dass Flüchtling im all­ge­meinen Sprachge­brauch sowohl in pos­i­tiv­en als auch in neg­a­tiv­en Zusam­men­hän­gen ver­wen­det wer­den, nichts an der all­ge­mein neg­a­tiv­en Kon­no­ta­tion des Wortbildungsmusters.

Die Alternative Geflüchtete

Die neu­trale Alter­na­tive Geflüchtete/r bietet sich aber auch dann an, wenn keine Einigkeit bezüglich der Kon­no­ta­tion des Wortes Flüchtling beste­ht, denn schaden würde eine neu­trale Alter­na­tive ja auf keinen Fall. Das einzige Argu­ment, was gegen sie vorge­bracht wer­den kön­nte, und das gegen sprach­sen­si­ble Vorschläge mit schön­er Regelmäßigkeit vorge­bracht wird, wäre eben, dass es sich um „Sprachver­hun­zung“ handele.

Aber ist das so? Ich wüsste nicht, warum, denn das Wort fol­gt einem völ­lig nor­malen Wort­bil­dungsmuster des Deutschen: Der Ableitung von Sub­stan­tiv­en aus Par­tizip­i­en, in diesem Fall aus dem Par­tizip Per­fekt. Es gibt jede Menge solch­er Wörter (ich nenne sie hier in der Plu­ral­form): Gelandete, Ges­tran­dete, Gene­sene, Gefal­l­ene, Geschworene, Geheilte, Gesuchte, Gefan­gene, Gejagte, Geächtete, Gekreuzigte, Geliebte, Gelehrte — um nur eine Auswahl zu nennen.

Diese Wörter sind nicht nur völ­lig nor­mal, was den Vor­wurf der Sprachver­hun­zung entkräfte. Sie zeigen auch, dass das Wort­bil­dungsmuster im Gegen­satz zu dem mit -ling, völ­lig neu­tral ist, also sowohl pos­i­tiv als auch neg­a­tiv belegte Wörter bilden kann.

Das Wort Geflüchtete ist auch nicht neu, es war schon im 19. Jahrhun­dert  mit genau dieser Bedeu­tung gebräuch­lich, wie die fol­gen­den aus­gewählten Beispiele zeigen:

  1. In Folge der Aufnähme viel­er Geflüchteten aus Natolien, Skio, Jpsara und andern Orten ist die Zahl ihrer griech. Bewohn­er auf 32.000 gestiegen… [1836]
  2. Die weltliche Gewalt darf nicht ver­hin­dern, daß man dem Geflüchteten Klei­der und Lebens­mit­tel bringe. [1840]
  3. Die Wirkung der Freistätte ist, daß der dahin Geflüchtete durch den weltlichen Richter nicht gewalt­sam wegge­führt wer­den kann… [1856]

Die Alternative Refugee

Neben dem Wort Geflüchtete lässt sich manch­mal auch die Ver­wen­dung des englis­chen Lehworts Refugee(s) beobacht­en. Diese dürfte auf noch weniger Gegen­liebe stoßen als Geflüchtete, da hier zur ver­meintlichen Sprachver­hun­zung durch poli­tis­che Kor­rek­theit auch noch die durch Auf­nahme von Lehngut hinzukommt. Es wäre aber vor­eilig, das Wort Refugees deshalb ohne weit­ere Diskus­sion abzulehnen, denn es hat für mich einen Vorteil gegenüber Geflüchtete. Sowohl Flüchtlinge als auch Geflüchtete stellt die Flucht selb­st in den Vorder­grund, während das englis­che Wort den SICHEREN ORT in den Vorder­grund stellt, den die so Beze­ich­neten suchen (engl. refuge bedeutet „Zuflucht(sort)“, „Schut­zort“, „Freis­tatt“, „Schutzge­bi­et“).

Es kön­nte schließlich nicht schaden, wenn die Beze­ich­nung von Men­schen, die auf der Suche nach einem sicheren Ort zu uns kom­men, uns an diese Suche erin­nern würde. Das würde der Gesellschaft vielle­icht dabei helfen, mehr darüber nachzu­denken, wie sie diesen Men­schen einen solchen sicheren Ort schaf­fen kann, und weniger darüber, wie sie sie schnell­st­möglich wieder los wird. Es wäre deshalb lohnenswert, über Wörter wie Schutz­suchende oder Zuflucht­suchende nachzudenken.

ZUSAMMENFASSUNG

Ins­ge­samt kön­nen wir also fes­thal­ten: Das Wort Flüchtling ist vielle­icht nicht hoch prob­lema­tisch, aber doch poten­ziell beden­klich. Es kann Sit­u­a­tio­nen oder Men­schen geben, in denen oder denen gegenüber das Wort abw­er­tend emp­fun­den wird, und diese Empfind­ung wird durch die Struk­tur des Wortes gestützt. Das Wort Geflüchtete/r ist dage­gen in sein­er Bedeu­tung völ­lig neu­tral und kann in jed­er Sit­u­a­tion ver­wen­det wer­den, also sowohl dort, wo das Wort Flüchtling prob­lema­tisch sein kön­nte, als auch dort, wo es das nicht ist. Noch bess­er wäre ein Wort wie Zufluchtsuchende/r, das in sein­er Bedeu­tung nicht nur neu­tral ist, son­dern uns daran erin­nert, warum die so Beze­ich­neten bei uns sind.

[Nach­trag: Beacht­en Sie auch die Fort­set­zung zu diesem Beitrag.]

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