Vorschläge für sensible Sprachregelungen treffen selten auf Gegenliebe. Im Gegenteil: Sie ziehen Vorwürfe von „Zensur“, „Denkverboten“ und natürlich „politischer Korrektheit“ an, wie das Licht die Motten. ((Mit „politischer Korrektheit“ meinen diejenigen, die sie anderen vorwerfen, natürlich nichts Gutes und die Metapher vom Licht (der Vernunft) und den Motten (aus der ~kiste der Geschichte) gefällt mir immer besser, je öfter ich sie lese.))
So auch bei dem Vorschlag, Flüchtlinge lieber als Geflüchtete zu bezeichnen. Dieser Vorschlag ist nicht völlig neu, aber er erreicht immer wieder mal eine breitere Öffentlichkeit, z.B. während des No-Border-Camps in Köln im Juni oder während der aktuellen als Refugee Camp bezeichneten Demonstrationen.
Warum diese (oder irgendeine andere) Sprachregelung sinnvoll sein könnte, fragen die Gegner politischer Korrektheit nie: für sie ist klar, dass jede Sprachregelung erstens überflüssig und zweitens ein schwerer Fall von Sprachverhunzung ist. Überflüssig, weil das Wort, um das es jeweils geht, doch völlig unproblematisch sei, und Sprachverhunzung, weil für sie jede ungewohnte Formulierung eine ästhetische Gefahr darstellt. Sehen wir uns deshalb diese zwei Aspekte anhand des Begriffspaars Flüchtlinge/Geflüchtete näher an, denn es lassen sich daran die Überlegungen verdeutlichen, die bei Vorschlägen für Sprachregelungen immer eine Rolle spielen. [Hinweis: Der folgende Text enthält Beispiele rassistischer Sprache].
Die Verwendung von Flüchtling
Zunächst zur Frage, ob das Wort Flüchtling problematisch ist. Diese Frage lässt sich auf zwei Arten beantworten: Erstens könnten wir fragen, ob die Betroffenen selbst das Wort problematisch finden. Da „die Betroffenen“ keine homogene Gruppe darstellen, hilft das aber nicht sehr viel weiter. Ich selbst habe es nie als problematisch empfunden, dass meine Großmutter als Kriegsflüchtling nach Deutschland gekommen ist und auch als solcher bezeichnet wurde. Aber da ich nicht weiß, ob ich repräsentativ bin, besagt das nichts. Zweitens könnten wir nach objektiven Kriterien fragen, und die lassen sich auf zwei Ebenen finden: a) das Wort könnte überwiegend in negativen Zusammenhängen verwendet werden; b) die Struktur des Wortes selbst könnte problematisch sein.
Das Wort Flüchtling ist allgemein gebräuchlich, und findet sich sowohl in negativen als auch in positiven Zusammenhängen. Es wird völlig neutral verwendet, etwa in den Namen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, der bundesweiten Flüchtlingsräte oder des Weltflüchtlingstages. Die Verwendungszusammenhänge an sich sind also nicht grundsätzlich problematisch.
Bei der Struktur des Wortes selbst ist das anders, sehen wir sie uns also genauer an.
Die Struktur von Flüchtling
Das Suffix -ling war ursprünglich eine Verkleinerungsform (ein sogenannter Diminutiv) ohne negative Nebenbedeutung, wie sie heute noch bei bestimmten Tier- und Pflanzenbezeichnungen zu finden ist (Engerling, Sperling, Frischling, Nestling, Setzling). ((Die Diskussion der Wörter auf -ling stützt sich auf Baeskow, Heike (2002) Abgeleitete Personenbezeichnungen im Deutschen und Englischen: Kontrastive Wortbildungsanalysen im Rahmen des Minimalistischen Programms und unter Berücksichtigung sprachhistorischer Aspekte. Berlin: Walter de Gruyter [Google Books Voransicht].))
Bei Personenbezeichnungen entwickelte es jedoch schnell eine abwertende Bedeutung. Hier müssen zunächst drei Fälle unterschieden werden: Das Suffix -ling kann an Verben (auch substantivierte Verben) oder an Adjektive angehängt werden, und bei Verben kann das so entstehende Wort eine aktivische Bedeutung („Person, die etwas tut“) oder eine passivische Bedeutung („Person, mit der etwas getan wird“) haben.
Mit -ling aus Adjektiven gebildete Wörter hatten im Prinzip von Anfang an einen negativen Beiklang (eine sog. negative Konnotation). Die aus mittelhochdeutscher Zeit stammenden Wörter Fremdling und Neuling waren anfangs manchmal noch neutral (bei Luther findet sich Fremdling noch in der Bedeutung „Gast“), aber schon viele der frühen Bildungen sind klar negativ, z.B. Zärtling („schwächlicher Mensch“) oder Dümmling. Auch die Bildungen in den Jahrhunderten danach sind durchgängig negativ: Rohling, Sonderling, Wüstling, Schwächling, Kümmerling, Primitivling, Naivling, Jüngling, Weichling, Winzling und Feigling. Und das sind nur die Wörter, die heute noch im Gebrauch sind. Nehmen wir die hinzu, wie sich nicht halten konnten, wird die negative Konnotation noch deutlicher: Blasiertling, Korruptling, Stupidling, Süßling, Weibling, Kindling, Blässling, Bleichling, Dickling, Feistling, Schmächtling. Kümmerling, Frühreifling, Grämling, Strengling, Heiterling, Gescheitling, Vornehmling, Armling („armer Mensch“), Weisling, Bequemling, Müssling („Müssiggänger“).
Besonders interessant sind die Wörter Süßling und Schönling, da sie zeigen, dass das Suffix -ling auch aus eigentlich positiv konnotierten Adjektiven negativ konnotierte Substantive macht (Süßling hies ursprünglich „Leckermaul“, ab dem 18 Jh. dann aber „fader, süßlich tuender Mensch“, und Schönling war schon zu seiner Entstehung im 18. Jh. negativ). Wir sehen also, bei Adjektiven ergibt das Suffix ‑ling spätestens seit dem 18. Jahrhundert negativ konnotierte Wörter.
Aber Flüchtling ist natürlich nicht von einem Adjektiv, sondern vom Verb flüchten abgeleitet. Wie sieht es also bei Wörtern aus, die aus Verben abgeleitet sind? Hier müssen wir, wie gesagt, zwischen denen unterscheiden, die eine passivische Bedeutung haben (wie Prüfling, „Person, die geprüft wird“) und denen, die eine aktivische Bedeutung haben (wie Eindringling, „Person, die irgendwo eindringt“).
Die mit passivischer Bedeutung sind grundsätzlich nicht im engeren Sinne negativ konnotiert, sie implizieren aber alle ein mehr oder weniger starkes Abhängigkeitsverhältnis, was vielleicht in der Natur der passivischen Bedeutung liegt: Prüfling, Impfling, Lehrling, Liebling, Säugling, Findling, Täufling, Sträfling, Zögling, Häftling, Schützling, Pflegling.
Mit aktivischer Bedeutung gibt es nur sehr wenige gebräuchliche Wörter, nämlich Flüchtling, Eindringling, Emporkömmling und Schreiberling (letzteres aus einem Substantiv, das seinerseits mit aktivischer Bedeutung aus einem Verb abgeleitet ist. Zumindest Eindringling, Emporkömmling und Schreiberling sind hier klar negativ konnotiert, und dieses Bild bestätigt sich, wenn wir Wörter mit hinzunehmen, die sich im Gegenwartsdeutschen nicht gehalten haben: Beichtling, Kriechling, Reimling/Dichterling („schlechter Dichter“), Schwindling („Lügner, Phantast“), Fressling, Säufling, Rühmling („Prahler“), Nasenrümpfling („Besserwisser“), Romanling („schlechter Schriftsteller“) und Dichterling.
Es lässt sich also feststellen: Wer Flüchtling als negativ konnotiert empfindet, hat mindestens zwei Argumente, die diese Empfindung stützen. Erstens: Die Mehrzahl der nach dem gleichen Muster gebildeten Wörter ist negativ konnotiert. Zweitens: Das Muster ist sehr selten, die dominanten Muster sind die aus adjektiven abgeleiteten Wörter (die durchgängig negativ konnotiert sind), und die passivischen Wörter (die durchgängig Abhängigkeitsverhältnisse suggerieren). Diese Muster sind zwar nicht direkt auf Flüchtling zu beziehen, aber da sie so dominant sind, ist es nicht unwarhscheinlich, dass ihre Bedeutung auch auf Wörter des Musters Flüchtling abfärbt.
Wer Flüchtling nicht als negativ konnotiert empfindet, muss sich für seine Empfindung aus meiner Sicht nicht in dem Maße rechtfertigen, wie es bei klar diskriminierenden Wörtern wie N****, Kanacke o.ä. der Fall wäre. Allerdings ändern das persönliche Empfinden und die Tatsache, dass Flüchtling im allgemeinen Sprachgebrauch sowohl in positiven als auch in negativen Zusammenhängen verwendet werden, nichts an der allgemein negativen Konnotation des Wortbildungsmusters.
Die Alternative Geflüchtete
Die neutrale Alternative Geflüchtete/r bietet sich aber auch dann an, wenn keine Einigkeit bezüglich der Konnotation des Wortes Flüchtling besteht, denn schaden würde eine neutrale Alternative ja auf keinen Fall. Das einzige Argument, was gegen sie vorgebracht werden könnte, und das gegen sprachsensible Vorschläge mit schöner Regelmäßigkeit vorgebracht wird, wäre eben, dass es sich um „Sprachverhunzung“ handele.
Aber ist das so? Ich wüsste nicht, warum, denn das Wort folgt einem völlig normalen Wortbildungsmuster des Deutschen: Der Ableitung von Substantiven aus Partizipien, in diesem Fall aus dem Partizip Perfekt. Es gibt jede Menge solcher Wörter (ich nenne sie hier in der Pluralform): Gelandete, Gestrandete, Genesene, Gefallene, Geschworene, Geheilte, Gesuchte, Gefangene, Gejagte, Geächtete, Gekreuzigte, Geliebte, Gelehrte — um nur eine Auswahl zu nennen.
Diese Wörter sind nicht nur völlig normal, was den Vorwurf der Sprachverhunzung entkräfte. Sie zeigen auch, dass das Wortbildungsmuster im Gegensatz zu dem mit -ling, völlig neutral ist, also sowohl positiv als auch negativ belegte Wörter bilden kann.
Das Wort Geflüchtete ist auch nicht neu, es war schon im 19. Jahrhundert mit genau dieser Bedeutung gebräuchlich, wie die folgenden ausgewählten Beispiele zeigen:
- In Folge der Aufnähme vieler Geflüchteten aus Natolien, Skio, Jpsara und andern Orten ist die Zahl ihrer griech. Bewohner auf 32.000 gestiegen… [1836]
- Die weltliche Gewalt darf nicht verhindern, daß man dem Geflüchteten Kleider und Lebensmittel bringe. [1840]
- Die Wirkung der Freistätte ist, daß der dahin Geflüchtete durch den weltlichen Richter nicht gewaltsam weggeführt werden kann… [1856]
Die Alternative Refugee
Neben dem Wort Geflüchtete lässt sich manchmal auch die Verwendung des englischen Lehworts Refugee(s) beobachten. Diese dürfte auf noch weniger Gegenliebe stoßen als Geflüchtete, da hier zur vermeintlichen Sprachverhunzung durch politische Korrektheit auch noch die durch Aufnahme von Lehngut hinzukommt. Es wäre aber voreilig, das Wort Refugees deshalb ohne weitere Diskussion abzulehnen, denn es hat für mich einen Vorteil gegenüber Geflüchtete. Sowohl Flüchtlinge als auch Geflüchtete stellt die Flucht selbst in den Vordergrund, während das englische Wort den SICHEREN ORT in den Vordergrund stellt, den die so Bezeichneten suchen (engl. refuge bedeutet „Zuflucht(sort)“, „Schutzort“, „Freistatt“, „Schutzgebiet“).
Es könnte schließlich nicht schaden, wenn die Bezeichnung von Menschen, die auf der Suche nach einem sicheren Ort zu uns kommen, uns an diese Suche erinnern würde. Das würde der Gesellschaft vielleicht dabei helfen, mehr darüber nachzudenken, wie sie diesen Menschen einen solchen sicheren Ort schaffen kann, und weniger darüber, wie sie sie schnellstmöglich wieder los wird. Es wäre deshalb lohnenswert, über Wörter wie Schutzsuchende oder Zufluchtsuchende nachzudenken.
ZUSAMMENFASSUNG
Insgesamt können wir also festhalten: Das Wort Flüchtling ist vielleicht nicht hoch problematisch, aber doch potenziell bedenklich. Es kann Situationen oder Menschen geben, in denen oder denen gegenüber das Wort abwertend empfunden wird, und diese Empfindung wird durch die Struktur des Wortes gestützt. Das Wort Geflüchtete/r ist dagegen in seiner Bedeutung völlig neutral und kann in jeder Situation verwendet werden, also sowohl dort, wo das Wort Flüchtling problematisch sein könnte, als auch dort, wo es das nicht ist. Noch besser wäre ein Wort wie Zufluchtsuchende/r, das in seiner Bedeutung nicht nur neutral ist, sondern uns daran erinnert, warum die so Bezeichneten bei uns sind.
[Nachtrag: Beachten Sie auch die Fortsetzung zu diesem Beitrag.]

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