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Laudatio zum Anglizismus des Jahres 2021: boostern

Von Anatol Stefanowitsch

Anglizis­mus des Jahres 2021 ist das Wort boost­ern als Beze­ich­nung für eine Auf­frischungsimp­fung gegen COVID. Die Pan­demie liefert uns damit nach dem Lock­down im let­zten Jahr erneut nicht nur das Wort des Jahres („Wellen­brech­er“), son­dern auch das wichtig­ste Wort des Jahres. Aber immer­hin ist es nach dem bedrück­enden und nach Gefäng­nis klin­gen­den Lock­down des let­zten Jahres ein opti­mistis­ches, fast futur­is­tis­ches Wort, das eher an eine Superkraft als an eine medi­zinis­che Rou­tine­proze­dur denken lässt.

Es war aber nicht dieser Beik­lang des Verbs boost­ern (und des dazuge­höri­gen Sub­stan­tivs Boost­er, das als eine Art „First Wort­stamm“ mit auf dem Siegertrep­pchen ste­hen darf), der die Jury überzeugt hat, son­dern die Tat­sache, dass es auf exem­plar­ische Weise zeigt, wie effek­tiv Lehn­wörter neu ent­standene Lück­en im Wortschatz füllen kön­nen. Als im Herb­st 2021 klar wurde, dass wir uns zum (vor­erst) drit­ten Mal gegen COVID wür­den impfen lassen müssen, hät­ten wir das vorhan­dene Wort „Auf­frischungsimp­fung“ ver­wen­den kön­nen, wie wir es für andere Imp­fun­gen ja tun. Aber da die Imp­fung selb­st ja für die meis­ten von uns erst wenige Wochen her und damit noch sehr frisch war, hätte das nicht so recht gepasst, und ein Verb dazu gibt es auch nicht.

Poster einer Booster-Kampagne aus den USA mit RaketeDas Lehn­wort Boost­er und das daraus abgeleit­ete boost­ern kamen da ger­ade recht, und die bei­den Wörter hat­ten zusät­zlich den Vorteil, in ihrer Bedeu­tung ein­deutiger zu sein: In medi­zinis­chen Tex­ten kamen sie schon vor der Pan­demie vere­inzelt vor und beze­ich­nen dort ganz all­ge­mein ein Ver­stärken der Immunab­wehr, aber in der All­t­agssprache beze­ich­nen sie speziell die Auf­frischung ein­er COVID-Imp­fung. Die Bedi­enung, die mich beim Betreten eines Restau­rants fragt, ob ich „geboost­ert“ sei, braucht sich also mit mir nicht auf eine Diskus­sion darüber einzu­lassen, dass ich tat­säch­lich ger­ade meine Tetanus-Imp­fung habe auf­frischen lassen. Wie es bei Lehn­wörtern häu­fig der Fall ist, trägt Boost­ern so zu ein­er Aus­d­if­feren­zierung des Wortschatzes bei.

Dabei ist das Verb boost­ern selb­st wahrschein­lich gar kein Lehn­wort, son­dern eine Eigenkreation der deutschen Sprachge­mein­schaft. Beim Sub­stan­tiv Boost­er ist klar, dass es direkt aus dem Englis­chen über­nom­men wor­den ist. Den boost­er shot (wörtlich „Ver­stärkungss­chuss“, wenn das die „Quer­denker“ wüssten…) gibt es dort schon seit Mitte der 1940er Jahre, die Kurz­form Boost­er seit den 1960ern. Aber das dazuge­hörige Verb lautet nicht to boost­er son­dern to boost – wenn wir das Verb direkt entlehnt hät­ten, müsste es also boost­en heißen. Und vere­inzelt find­et sich diese Form auch tatsächlich:

(1) Die pos­i­tiv Getesteten sind dem Vernehmen nach symp­tom­frei und alle­samt dop­pelt geimpft und geboost­et. (SZ, 2022-01-11)
(2) Muss man sich mit ein­er Kreuz­imp­fung über­haupt boost­en lassen und soll­ten homogen Geimpfte für den Boost gezielt den Impf­stoff wech­seln? (Kreiszeitung, 2022-06-01)

Aber gegen die Form boost­ern hat dieses Lehn­verb keine Chance: es macht in deutschen Tex­ten ger­ade ein­mal ein Prozent der Tre­f­fer aus.

Umgekehrt ist es im Englis­chen: hier find­et sich seit Jan­u­ar neben der Haupt­form to boost mit steigen­der Ten­denz auch die Form to boost­er:

(3) I was vac­ci­nat­ed and boost­ered which made me lucky enough to only have mild symp­toms. (Jim­my Fal­lon auf Insta­gram, 2022-01-04.
(4) …the ful­ly vac­ci­nat­ed and boost­ered and the unvac­ci­nat­ed are liv­ing in two dif­fer­ent worlds. (New York Times, 2021-12-31)

Da es das deutsche Verb aber schon spätestens seit Okto­ber 2021 gibt, war es vor dem englis­chen da – was natür­lich nicht heißt, dass es aus dem Deutschen ins Englis­che entlehnt wor­den ist: Die Fähigkeit, aus Sub­stan­tiv­en Ver­ben abzuleit­en, gibt es m Deutschen und im Englis­chen gle­icher­maßen, und dass die deutsche Sprachge­mein­schaft dieses Poten­zial hier früher erkan­nt hat, zeigt ein­mal mehr, dass Entlehnung kein pas­siv­er Prozess ist, bei dem fremde Wörter von außen in eine vorher reine Sprache ein­drin­gen, son­dern eine aktive Hand­lung seit­ens der aufnehmenden Sprachgemeinschaft.

Als Eigenkreation fügt sich das Verb boost­ern naht­los ins gram­ma­tis­che Sys­tem des Deutschen ein und übern­immt dabei das gram­ma­tis­che Ver­hal­ten des bedeu­tungsver­wandten impfen – so, wie wir mit einem Impf­stoff oder gegen eine Krankheit geimpft wer­den kön­nen, geht das auch mit boost­ern:

(7) Sechs der sieben Teil­nehmer der Reiseg­ruppe waren mit Bion­tech geboost­ert. (Tagesspiegel, 2021-12-14)
(6) Laut Ver­band kön­nte in rund 200 Apotheken gegen Coro­na geboost­ert wer­den. (Radio Güter­sloh, 2021-12-01)

Da boost­ern im all­ge­meinen Sprachge­brauch allerd­ings weit­ge­hend auf COVID-Imp­fun­gen beschränkt ist, ist die Angabe der Krankheit (wie in Bsp. 6) eher selten.

Das Verb boost­ern füllt also eine Lücke im deutschen Wortschatz und ermöglicht so eine knappe und präzise Aus­druck­sweise, und es fügt sich naht­los ins gram­ma­tis­che Sys­tem des Deutschen ein. Wie die Imp­fung selb­st ist es damit eine echte Bereicherung.

Es wird der deutschen Sprache auch auf abse­hbare Zeit erhal­ten bleiben und sein Wort­bil­dungspoten­zial weit­er ent­fal­ten – da die poli­tisch Entschei­dungstra­gen­den nicht ver­standen haben, wie Evo­lu­tion funk­tion­iert, wer­den sie noch eine ganze Weile ver­suchen, die Ver­säum­nisse ver­gan­gener Impfkam­pag­nen aufzu­boost­ern, die Pan­demie wegzu­boost­ern, oder doch wenig­stens die Bevölkerung durchzu­boost­ern. Das ständig mutierende und nach wie vor tödliche Virus wer­den sie damit nicht ein­fan­gen, aber wenig­stens tra­gen sie dazu bei, dass die deutsche Sprache lebendig bleibt.

Funktioniert das Gendersternchen (und wie)?

Von Anatol Stefanowitsch

Das Gen­der­sternchen wird in den Medi­en meis­tens im beliebten Pro-/Kon­tra-For­mat abge­han­delt, wobei die „Pro“-Position immer „Für’s Gen­dern“ und die „Kontra“-Position „Gegen das Gen­dern“ ist. „Gen­dern“ wird dabei mit dem Gen­der­sternchen (oder manch­mal noch dem Gen­der­dop­pelpunkt) gle­ichge­set­zt, und es wird so getan, als gin­ge es bei diesem The­ma haupt­säch­lich um eine Meinungssache.

Das ist aus vie­len Grün­den ärg­er­lich, von denen die für das Pro-/Kon­tra-For­mat typ­is­che „False Bal­ance“ noch der ger­ing­ste ist. Es ist ärg­er­lich, weil dadurch die vie­len Fra­gen ver­drängt wer­den, die es im Rah­men der grundle­gen­den Verän­derun­gen im Sprachge­brauch, die wir im Bere­ich Gen­der seit eini­gen Jahren beobacht­en, zu stellen und zu disku­tieren gäbe.

Eine wichtige Frage ist, ob und wie die ver­schiede­nen For­men, die derzeit prak­tiziert wer­den, psy­cholin­guis­tisch wirken – wie sie also unsere Inter­pre­ta­tion des Gesagten bee­in­flussen. Zu dieser Frage gibt es für das Gen­der­sternchen nun erste Dat­en, die – soweit ich sehen kann – bish­er nicht sehr bre­it wahrgenom­men oder disku­tiert wor­den sind.

Die Studie benutzt eine Ver­sion eines Assozi­a­tion­stest, den die Psy­chologin­nen Dag­mar Stahlberg, Sabine Sczes­ny und Friederike Braun im Jahr 2001 erst­mals ver­wen­det haben. Bei diesem Test wer­den Ver­suchsper­so­n­en gebeten, bekan­nte Mit­glieder bes­timmter Per­so­n­en­grup­pen zu nen­nen (Musikschaf­fende, Roman­fig­uren, schaus­pielerisch tätige Men­schen, Sport­treibende, in der Poli­tik tätige Men­schen, Fernsehmod­erierende). Entschei­dend ist im Forschungs­de­sign dann, mit welch­er Form diese Gruppe präsen­tiert wird – z.B. im „gener­ischen“ Maskulinum (Musik­er), in der Dop­pelform (Musik­er und Musik­erin) oder eben auch inno­v­a­tiv­en For­men. Die Antworten lassen sich dann daraufhin ver­gle­ichen, wieviele Män­ner, Frauen oder non-binäre Per­so­n­en genan­nt wer­den – ein Hin­weis darauf, wie die Form inter­pretiert wurde. (Wer die detail­lierte Diskus­sion der Stu­di­en nicht lesen will, kann zum Abschnitt „Diskus­sion“ springen!)

Stahlberg, Sczes­ny und Braun testeten in ihrer ersten Studie drei For­men: Maskuli­na (z.B. Nen­nen Sie ihren lieb­sten Roman­helden), geschlecht­sneu­trale Aus­drücke (helden­hafte Roman­fig­ur) und Dop­pelfor­men (Roman­heldin oder Roman­held). Es gab sechs solche Fragen.

Die Autorin­nen bericht­en die Ergeb­nisse in Form von Durch­schnittswerten von Antworten, die sich auf weib­liche Per­so­n­en (Musik­erin­nen, Roman­heldin­nen usw.) bezo­gen. Da sechs Fra­gen gestellt wur­den, kann dieser Wert zwis­chen 0 (es wurde keine Frau genan­nt) und 6 (es wur­den nur Frauen genan­nt) liegen. Waren die Fra­gen im „gener­ischen“ Maskulinum gestellt, wur­den im Schnitt 0.67 weib­liche Per­so­n­en genan­nt (11 Prozent), waren die Fra­gen geschlecht­sneu­tral gestellt, waren es 1.67 (27.8 Prozent) und enthielt die Frage eine Dop­pelform, waren es 1.68 (28 Prozent). In allen Bedin­gun­gen wur­den also haupt­säch­lich männliche Per­so­n­en genan­nt (weil Män­ner eben, auch, wenn sie nicht darauf hingewiesen wer­den wollen, der gesellschaftliche „Nor­mal­fall“ sind). Beim „gener­ischen Maskulinum“ wur­den aber sig­nifikant weniger Frauen genan­nt als bei den anderen bei­den For­men. Diese bei­den For­men (neu­trale Form und Dop­pelform) unter­schieden sich dabei nicht sig­nifikant voneinander.

Das Ergeb­nis war also ein­deutig: Das „gener­ische“ Maskulinum lässt uns fast auss­chließlich an Män­ner denken, bei geschlecht­sneu­tralen Wörtern und Dop­pelfor­men sind wir wenig­stens grund­sät­zlich in der Lage, uns auch Frauen vorzustellen (dabei gab es noch sig­nifikante Unter­schiede zwis­chen männlichen und weib­lichen Ver­suchsper­so­n­en, aber dazu ein ander­mal mehr).

In einem zweit­en Exper­i­ment wur­den die Ver­suchsper­so­n­en gebeten, jew­eils drei Mit­glieder der o.g. Per­so­n­en­grup­pen zu nen­nen. Hier wur­den die Fra­gen im „gener­ischen“ Maskulinum, in der Dop­pelform und unter Ver­wen­dung des Binnen‑I gestellt (Nen­nen Sie drei Musik­erIn­nen). Nach drei Per­so­n­en zu fra­gen, statt nur nach ein­er, hat zwei Vorteile: Die Fra­gen kön­nen im Plur­al gestellt wer­den, und die Ver­suchsper­so­n­en kön­nen ein flex­i­bleres Assozi­a­tionsver­hal­ten zeigen. Es gab vier solche Fra­gen, die Zahl der genan­nten Frauen kon­nte also the­o­retisch zwis­chen 0 und 12 liegen. In diesem Fall unter­schieden sich das „gener­ische“ Maskulinum (mit durch­schnit­tlich 2.37 genan­nten Frauen, also 19.7 Prozent) und die Dop­pelform (mit durch­schnit­tlich 2.67 genan­nten Frauen, also 22.2 Prozent) nicht sig­nifikant voneinan­der  (das „gener­ische“ Maskulinum schnitt etwas bess­er ab als im ersten Exper­i­ment, die Dop­pelform etwas schlechter). Das Binnen‑I zeigte sich mit durch­schnit­tlich 4.6 genan­nten Frauen (38.3 Prozent) als am besten geeignet, (binäre) gemis­cht­geschlechtliche Assozi­a­tio­nen auszulösen.

Kom­men wir nun zur oben angekündigten Studie über das Gen­der­sternchen. Von der sind, soweit ich sehen kann, bish­er nur die Dat­en veröf­fentlicht, die von der Mark­t­forschungsagen­tur EARS and EYES für eine wis­senschaftliche Abschlus­sar­beit erhoben wur­den (wenn ich die Abschlus­sar­beit finde, werde ich hier darüber berichten).

In der Studie wurde das­selbe grund­sät­zliche Design ver­wen­det, wie in den früheren Stu­di­en. Hier wur­den Ver­suchsper­so­n­en gebeten, je zwei Mit­glieder aus drei ver­schiede­nen Beruf­s­grup­pen zu nen­nen. Dabei wurde neben dem „gener­ischen“ Maskulinum wieder die Bei­d­nen­nung unter­sucht, neu hinzu gekom­men ist das Gen­der­sternchen (Nen­nen Sie zwei Schauspieler*innen, bzw. Musiker*innen, Moderator*innen). Die Ergeb­nisse wer­den in Form von Häu­figkeit­en berichtet – zur Ver­gle­ich­barkeit mit der Studie von Stahlberg, Sczes­ny und Braun habe ich sie in Prozentzahlen (Anteil genan­nter Frauen) umgerech­net. Beim „gener­ischen“ Maskulinum wur­den 18 Prozent Frauen genan­nt (ein Ergeb­nis, das gut zu den o.g. Stu­di­en passt), bei der Dop­pelform 28.5 Prozent (also unge­fähr wie bei der ersten der o.g. Stu­di­en), und beim Gen­der­sternchen 30.5 Prozent. Der Unter­schied zwis­chen dem gener­ischen Maskulinum und den anderen bei­den For­men ist dabei sta­tis­tisch sig­nifikant, der Unter­schied zwis­chen Dop­pelform und Gen­der­sternchen nicht.

Diskussion

Zusam­menge­fasst: Das „gener­ische“ Maskulinum ist nicht geeignet, uns neben Män­nern auch an Frauen denken zu lassen (keine Über­raschung, das wis­sen wir schon lange). Außer­dem denken wir bei (fast) jed­er sprach­lichen Form haupt­säch­lich an Män­ner (auch das ist schon lange bekan­nt). Aber: Das Gen­der­sternchen erhöht sig­nifikant die Wahrschein­lichkeit, dass wir auch an Frauen denken – allerd­ings nicht stärk­er als die tra­di­tionelle Dop­pelform (und nicht so stark wie das Binnen‑I)!

Wir kön­nen also eben­sogut weit­er­hin die Dop­pelform (Musik­erin­nen und Musik­er) ver­wen­den, um den Effekt des Gen­der­sternchens (Musiker*innen) zu bekommen.

Oder doch nicht? Haben wir da nicht etwas vergessen?

Ach ja, richtig: Das Gen­der­sternchen soll ja, anders als die Dop­pelform, neben Frauen auch nicht-binäre Men­schen ein­schließen, also solche, die sich in die Kat­e­gorien „Mann“ und „Frau“ nicht einord­nen kön­nen oder wollen. Das scheint das Gen­der­sternchen aber empirisch nicht zu tun, und dafür gibt es ver­mut­lich zwei Gründe, die diejeni­gen, denen es um die sprach­liche Inklu­sion von nicht-binären Men­schen geht, im Bewusst­sein behal­ten müssen.

Erstens reicht es nicht aus, eine neue Form zu schaf­fen und in ein altes Sys­tem einzufü­gen. Egal, ob es der Unter­strich, der Gen­der­stern oder der Dop­pelpunkt ist – diese Inter­punk­tion­sze­ichen bedeuten von sich aus nicht „hier sind nicht-binäre Men­schen gemeint“, wenn wir sie in Wörter ein­fü­gen, die nach dem Schema „männlich­er Wort­stamm + weib­liche Nach­silbe“ gebildet wor­den sind. Stattdessen scheinen sie zunächst ein­fach als Alter­na­tive zu tra­di­tionellen Sparschrei­bun­gen (wie Musik­er/-innen) inter­pretiert zu wer­den. Das wäre eine Art Reparaturstrate­gie seit­ens der Sprachver­ar­beitung im Gehirn: Sie stößt auf etwas, das (noch) nicht Teil des Sys­tems ist und inte­gri­ert es, indem sie nach etwas Ähn­lichem sucht, das bere­its Teil des Sys­tems ist.

Damit das Gen­der­sternchen (oder eine beliebige Alter­na­tive) mehr als das wer­den kann, muss seine Ein­führung mit ein­er bre­it­en gesellschaftlichen Diskus­sion darüber ein­herge­hen, was es bedeuten soll. Und dazu ist es nötig, die Sprachge­mein­schaft (oder wenig­stens große Teile) davon zu überzeu­gen, dass es (a) nicht-binäre Men­schen gibt, dass diese (b) in den tra­di­tionellen Sprach­for­men nicht sicht­bar sind, und dass © das Sternchen ein Ver­such ist, das zu ändern. Das sind drei Annah­men, deren Akzep­tanz (einzeln oder gemein­sam) nicht ein­fach voraus­ge­set­zt wer­den kann.

Zweit­ens zeigt sich in dem Exper­i­ment ver­mut­lich auch der Ein­fluss ein­er weit­eren Vari­able: Die meis­ten Ver­suchsper­so­n­en ken­nen schlicht keine nicht-binären Musiker*innen, Schauspieler*innen oder Moderator*innen, deshalb kön­nen sie sie in einem Exper­i­ment nicht nen­nen. Tat­säch­lich ken­nen die meis­ten Mit­glieder der Sprachge­mein­schaft wahrschein­lich grund­sät­zlich keine (oder nur sehr wenige) nicht-binäre Men­schen, ein­fach, weil diese eine sehr kleine Min­der­heit darstellen – deshalb haben sie auch keine men­tale Repräsen­ta­tion dieser Gruppe, die sie mit dem Gen­der­sternchen verknüpfen könnten.

Auch hier gilt es, die gesellschaftliche Sicht­barkeit und Wahrnehmung der betrof­fe­nen Gruppe zu verän­dern. Das ist bei sehr kleinen Grup­pen schwieriger, als bei sehr großen Grup­pen (etwa Frauen, die eine Bevölkerungsmehrheit darstellen). Wenn die Sprachge­mein­schaft ein men­tales Konzept der Kat­e­gorie „nicht-binäre Men­schen“ haben soll, das mit dem Gen­der­sternchen verknüpft wer­den kann, müssen hier aber Wege gefun­den werden.

Mit anderen Worten: Das Gen­der­sternchen ist nicht die Lösung für das Prob­lem der Unsicht­barkeit nicht-binär­er Men­schen, es ist nur ein erster Schritt.

Heißt das, dass wir eben­sogut darauf verzicht­en kön­nen? Nein, denn mit unser­er Sprache bilden wir nicht nur Inhalte ab, wir kom­mu­nizieren auch unsere Per­spek­tive (bei Karl Büh­ler hieß diese Funk­tion noch „Aus­druck“, im beliebten „Kom­mu­nika­tion­squadrat“ von Schulz von Thun heißt sie „Selb­stkundgabe“). Indem wir das Gen­der­sternchen bewusst und aus eigen­er Entschei­dung ver­wen­den, zeigen wir der betrof­fe­nen Gruppe wenig­stens, dass wir sie wahrnehmen wollen.

Da das Gen­der­sternchen bish­er nicht bess­er darin ist, die Sicht­barkeit von Frauen (die ja auch darin inkludiert sein sollen) zu erhöhen, als die Dop­pelform, soll­ten wir außer­dem nicht vor­eilig auf das Binnen‑I verzicht­en (das viele Insti­tu­tio­nen jet­zt hastig aus ihren Gen­der­leit­fä­den stre­ichen). In Zusam­men­hän­gen, in denen es vor­rangig um die Sicht­barkeit von Frauen geht (und solche Zusam­men­hänge gibt es ja immer noch viele), ist es eine sehr effek­tive Form.

Laudatio zum Anglizismus des Jahres 2020: Lockdown

Von Anatol Stefanowitsch

Anglizis­mus des Jahres ist das Wort Lock­down als Beze­ich­nung für eine Mis­chung aus mehr oder weniger stren­gen Aus­gangs­beschränkun­gen, Ein­schränkun­gen der Bewe­gungs- und Ver­samm­lungs­frei­heit und Kon­tak­tbeschränkun­gen bei gle­ichzeit­igem Schließen aus­gewählter öffentlich­er Ein­rich­tun­gen. Dass die COVID-19-Pan­demie nach dem Wort des Jahres („Coro­na-Pan­demie“) und dem Unwort des Jahres [PDF] („Coro­na-Dik­tatur“) auch beim Anglizis­mus des Jahres ihre Spuren hin­ter­lassen würde, ist angesichts der tief­greifend­en Umwälzun­gen des öffentlichen Lebens und Han­delns, das sie verur­sacht hat, sich­er nicht über­raschend. Das Wort Lock­down ist aber auch in ander­er Hin­sicht ein per­fek­ter Anglizis­mus des Jahres: Zum einen ist es brand­neu – in der aktuellen Bedeu­tung ist es erst im März 2020 ins Deutsche entlehnt wor­den. Zum anderen ist es in kurz­er Zeit zu einem selb­stver­ständlichen und nicht mehr wegzu­denk­enden Bestandteil der deutschen Sprache geworden.

Vor- und Frühgeschichte

Das Wort lock­down taucht im Englis­chen zum ersten Mal im Jahr 1832 auf, beze­ich­nete zunächst aber einen Befes­ti­gungsmech­a­nis­mus im Floßbau und dann ver­schiedene Arten von Pflöck­en, Hak­en und Sicherungsstiften.

© Luis Arg­erich, CC BY-SA 2.0

Mit dem heuti­gen Lock­down hat dieser in der All­t­agssprache sel­ten ver­wen­dete tech­nis­che Ter­mi­nus aber ver­mut­lich nichts zu tun. Dessen Vor­läufer find­et sich erst ab den 1970er Jahren, zunächst im amerikanis­chen Englisch. Das Oxford Eng­lish Dic­tio­nary nen­nt fol­gen­den Erst­be­leg (wobei die Selb­stver­ständlichkeit, mit der das Wort hier ver­wen­det wird, ver­muten lässt, dass es im Sprachge­brauch zu dieser Zeit schon etabliert war):

A full-scale lock­down, the first in the 18-year his­to­ry of the 1.950-inmate Vacav­ille facil­i­ty, was imposed imme­di­ate­ly after the knif­ing. [San­ta Cruz Sen­tinel, 3. Dezem­ber 1973]

Hier beze­ich­net das Wort eine Sit­u­a­tion, in der die Inhaftierte in einem Gefäng­nis (oder hier, einem Gefäng­niskranken­haus), aus Sicher­heits­grün­den in ihre Zellen eingeschlossen wer­den. Das ist noch nicht die heutige Bedeu­tung, aber – und das ist ein­er dieser merk­würdi­gen Zufälle, die einem nie­mand glauben würde, wenn man sie erfände – der Artikel, aus dem dieser Erst­be­leg stammt, han­delt von ein­er Messer­at­tacke auf einen berüchtigten Serien­mörder, der aus­gerech­net Juan Coro­na hieß.

Anfang der 1980er Jahre erfol­gte eine entschei­dende Bedeu­tungser­weiterung: Das Wort wurde jet­zt auch für Sit­u­a­tio­nen ver­wen­det, in denen nicht die Bewe­gungs­frei­heit der­jeni­gen eingeschränkt wurde, die eine Gefahr darstellen, son­dern der­jeni­gen, die vor ein­er Gefahr geschützt wer­den sollen:

Offi­cials also con­firmed that they insti­tut­ed a “secu­ri­ty lock­down” at the PUREX plant Mon­day when a can con­tain­ing less than 100 grams of plu­to­ni­um sludge was found to be miss­ing. [Ari­zona Repub­lic, 16. Dezem­ber 1984]

Ab den 2000ern wird das Wort dann auch ver­wen­det, wenn die Bewe­gungs­frei­heit in ganzen Städten eingeschränkt wird, wie in diesem Artikel über New York nach den Ter­ro­ran­grif­f­en auf das World Trade Center:

We heard the city was on lock­down and that it wasn’t pos­si­ble to get in. They went any­way. [Quill Mag­a­zine, 1. Mai 2002]

© Bran­don Gre­go­ry, CC BY-SA 4.0 Int.

Ab März 2020 find­et sich das Wort dann in der Pan­demie-bezo­ge­nen Bedeu­tung, in der es auch ins Deutsche entlehnt wurde. Das Wort erscheint sehr plöt­zlich in den weltweit­en Google-Suchtrends der zweit­en März­woche und steigt in der let­zten März­woche auf einen Höch­st­stand. Ein Grund für dieses Inter­esse kön­nte die in Indi­en am 25. März 2020 ver­hängte Aus­set­zung der Bewe­gungs­frei­heit im gesamten Land sein, eine der ersten Maß­nah­men dieser Art, die offiziell als lock­down beze­ich­net wurden.

Entlehnung und jüngere Geschichte

Nach­dem zu Beginn der Pan­demie zunächst Umschrei­bun­gen wie „Maß­nah­men gegen die Coro­na-Pan­demie“ oder „Maß­nah­men gegen die Aus­bre­itung des Coro­n­avirus“ ver­wen­det wurden,
find­en sich frühe jour­nal­is­tis­che Belege für das Wort lock­down in der Berichter­stat­tung über Indi­en, z.B hier:

Darunter sind vor allem junge männliche Tagelöh­n­er, aber auch Fam­i­lien, die nach dem voll­ständi­gen “Lock­down”, wie die Aus­gangssperre in Indi­en genan­nt wird, keine Einkün­fte und in vie­len Fällen auch kein Dach mehr über dem Kopf haben. [tagesschau.de, 29.3.2020]

Zu diesem Zeit­punkt ist das Wort im all­ge­meinen Sprachge­brauch aber vere­inzelt auch schon als Beze­ich­nung für die Maß­nah­men in Wuhan zu find­en, in den Fol­ge­monat­en sta­bil­isiert sich die Ver­wen­dung­shäu­figkeit auf hohem Niveau und steigt im Okto­ber – im Vor­lauf des bis heute andauern­den zweit­en deutschen Lock­downs – noch ein­mal an.

Das Wort Lock­down hat sich schnell etabliert und zeigt sich äußerst pro­duk­tiv. Es kommt in Dutzen­den von Wortverbindun­gen und zusam­menge­set­zten Wörtern vor (das Leib­niz-Insti­tut für Deutsche Sprache hat auf sein­er Wortschat­zliste zur Pan­demie 27 etablierte Aus­drücke, aber in den Zeitung­s­tex­ten im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus find­et sich ein Vielfaches.

Auf der Grund­lage dieser zusam­menge­set­zten Wörter und Wortverbindun­gen ließe sich eine Kul­turgeschichte des Lock­downs rekonstruieren.

Viele der Zusam­menset­zun­gen beziehen sich auf eine im Zuge der Pan­demie immer wieder disku­tierte Frage: Wie streng sollen oder dür­fen die Maß­nah­men sein, und ab wann zählen sie wirk­lich als „Lock­down“? Es gibt den abge­speck­ten Lock­down, den kleinen Lock­down, den weichen Lock­down, den Lock­down light, den Minilock­down, den Soft­lock­down, das Lock­downchen und den in dün­nen Scheibchen beschlosse­nen Salamilock­down, aber auch den harten Lock­down und den Vol­l­lock­down.

Das Hin und Her beim lock­dow­nen zeigt sich an Wörtern wie Jo-Jo-Lock­down, Lock­down-Lockerun­gen, Lock­down-Ver­längerung, Lock­down-Ver­schär­fung.

© Hadi, CC BY-SA 4.0 Int.

Auch die Spal­tung der Gesellschaft bezüglich ihrer Posi­tio­nen zum Lock­down spiegelt sich im Wortschatz wieder. Es gibt den Lock­down-Geg­n­er, den Lock­down-Kri­tik­er, den Lock­down-Rebell, den Lock­down-Protest auf der einen Seite, und den Lock­down-Befür­worter oder gar Lock­down-Fetis­chis­ten auf der anderen. Daneben gibt es Lock­down-Sün­der, Lock­down-Brech­er, Lock­down-Gewin­ner und Lock­down-Prof­i­teure.

Und auch die (großen und kleinen) Kon­se­quen­zen des Lock­down lassen sich am Wortschatz able­sen – von der Lock­down-Frisur, den Lock­down-Kilos der Lock­down-Langeweile und dem Lock­down-Blues bis zur Lock­down-Depres­sion, den Lock­down-Opfern und der Lock­down-Pleit­ewelle.

Nicht nur Sub­stan­tive hat uns das Wort Lock­down beschert. Auch Adjek­tive wie lock­downge­plagt, lock­downbe­d­ingt und lock­downähn­lich find­en sich, und sog­ar als Verb taucht das Wort bere­its vere­inzelt auf:

Als woll­ten alle mal mitre­den — und wom­öglich auch mal lock­dow­nen. Oder heißt es down­lock­en? Egal. Wir wollen auch mal schließen dür­fen… [Lukas Ham­mer­stein, BR, 5.11.2020]

Wir waren sieben Wochen gelock­downt in der Woh­nung – ich wurde zweimal von der Guardia Civ­il beim Einkaufen festgenom­men. [Fil Tägert, RND, 12.12.2020]

Jet­zt haben wir uns eigentlich wieder gefreut, dass wir mehr spie­len und jet­zt ist wieder alles gelock­downed. [John­ny Schuh­beck, Deutsch­land­funk, 4.12.2020]

Zukunft

Ob Lock­down zu einem sin­gulären Namen für das Leben während der COVID-19-Pan­demie oder zu einem all­ge­meinen Wort für die betr­e­f­fend­en Maß­nah­men wird, hängt sich­er davon ab, wie bald wir nach dem – derzeit ja noch nicht abse­hbaren – Ende dieser Pan­demie mit der näch­sten kon­fron­tiert sind. Da zumin­d­est die Gesellschaften Europas, der USA und Lateinamerikas gezeigt haben, dass sie selb­st mit Vor­war­nung nicht wil­lens und in der Lage sind, eine entste­hende Pan­demie im Keim zu erstick­en, ist anzunehmen, dass das recht bald der Fall sein wird. Wir kön­nen uns dann mit zunehmender Lock­down-Müdigkeit seit­ens der Poli­tik auf immer weit­ere abschwächende Wort­bil­dun­gen gefasst machen – Fem­tolock­down, und homöopathis­ch­er Lock­down warten schon auf ihren Auftritt.

Fazit

Die Wörter­wahl „Anglizis­mus des Jahres“ soll zeigen, dass Entlehnun­gen eine Sprache grund­sät­zlich bere­ich­ern – dass sie den Wortschatz erweit­ern, aus­d­if­feren­zieren, aus­drucksstärk­er machen. Aus dieser Sicht sind das Wort Lock­down und die große Wort­fam­i­lie, die sich in seinem Umfeld gebildet hat, Parade­beispiele. Ohne sie kön­nten wir über unser Erleben der Pan­demie und ihrer gesellschaftlichen Kon­se­quen­zen kaum so vielschichtig sprechen, wie wir es tun. Stattdessen wür­den wir ständig über das behör­den­deutsche Wort Maß­nah­men stolpern.

Laudatio zum Anglizismus des Jahres 2018: Gendersternchen

Von Anatol Stefanowitsch

Der Anglizis­mus des Jahres 2018 ist Gen­der­sternchen. Falls jemand das let­zte Jahr abgeschnit­ten von der Außen­welt ver­bracht hat: das Wort beze­ich­net ein

typografis­ches Zeichen (*), das bei Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen zwis­chen der männlichen und der zusät­zlich ange­fügten weib­lichen Endung geset­zt wird, um neben Män­nern und Frauen auch Men­schen mit ander­er geschlechtlich­er Iden­tität miteinzubeziehen und sicht­bar zu machen [Dig­i­tales Wörter­buch der Deutschen Sprache, s.v. Gen­der­sternchen]

Es geht also um den Aster­isk in Wörtern wie Lin­guist*in oder Sprachkri­tik­er*innen. Um Missver­ständ­nisse von Vorn­here­in auszuschließen: Die Jury würdigt damit aus­drück­lich nicht das * an sich, son­dern das Wort dafür, denn obwohl das Sternchen selb­st auf­grund sein­er Rolle in öffentlichen Diskus­sio­nen um geschlechterg­erechte Sprache gute Aus­sicht­en hätte, „Inter­punk­tion­sze­ichen des Jahres“ zu wer­den, bleibt die Jury bei ihrer Ker­nauf­gabe, näm­lich, die Bere­icherung des deutschen Wortschatzes durch englis­ches Lehngut zu beobacht­en und zu prämieren.

Mit Gen­der­sternchen hat die Jury zum ersten Mal in der Geschichte dieser Wörter­wahl eine englisch-deutsche Hybrid­form zum Anglizis­mus des Jahres gewählt. Aber das ist noch nicht der inter­es­san­teste Aspekt der diesjähri­gen Wahl.

Wenn wir in die Ver­gan­gen­heit des Wortes blick­en, stellen wir zunächst fest, dass es sich aus dem voll­ständig aus englis­chem Sprach­ma­te­r­i­al beste­hen­den Wort Gen­der­star entwick­elt hat. Die erste im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus doku­men­tierte Ver­wen­dung diese Wortes stammt aus dem Jahr 2013 und aus­gerech­net aus der Fed­er des wenig Gen­der-affinen Kolum­nis­ten Jan Fleischhauer:

Kaum etwas ist so flüchtig wie der Fortschritt: Auch der Unter­strich als Gen­derze­ichen ist schon wiedet ver­al­tet, wie ich im Forum ler­nen musste (Dank an “fred­heine”, Benutzer seit 14.10.2009!). Wer rechtschreib­mäßig wirk­lich auf der Höhe der Zeit sein will, schreibt Bäck­er­meis­terIn­nen heute mit “Gen­der­star” , also: Bäckermeister*innen. Der Stern ste­ht für die Vielfalt an Vari­anten, die Trans­gen­der haben kann. [Der Schwarze Kanal, 21.3.2013]

Natür­lich ist das nicht die erste Ver­wen­dung des Wortes über­haupt – das Zitat selb­st legt ja nahe, dass das Wort vorher schon im Forum des Online-Medi­ums ver­wen­det wurde, und auch da wird man es kaum erfun­den, son­dern von ander­swo aufge­grif­f­en haben. Aber die Ver­wen­dung in ein­er reich­weit­en­starken Kolumne dürfte für die anfängliche Ver­bre­itung im all­ge­meinen Sprachge­brauch dur­chaus eine Rolle gespielt haben.

Der genaue Ursprung des Wortes lässt sich nicht ermit­teln, aber auf jeden Fall liegt er nicht im englis­chen Sprachraum, denn dort sind Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen ohne­hin weit­ge­hend geschlecht­sneu­tral. Das Gen­der­sternchen ist eine deutsche Erfind­ung, und das Wort Gen­der­star ist es auch. Es han­delt sich dabei also um einen soge­nan­nten „Schein-“ oder „Pseudoan­glizis­mus“ – es beste­ht zwar aus den englis­chen Wörtern gen­der und star, ist aber eine deutsche Wort­bil­dung. Das dürfte vie­len Sprecher/innen nicht bewusst sein, denn bis heute wird diese pseu­do­englis­che Urform gerne, wie für das Englis­che typ­isch, getren­nt geschrieben – wie jüngst in ein­er Pressemit­teilung der Stadt Hannover:

Erst in zweit­er Lin­ie, wenn eine solche For­mulierung nicht möglich ist, wird das sicher­lich auf­fäl­lig­ste Mit­tel – der “Gen­der Star” – einge­set­zt.  Das Sternchen* zwis­chen der masku­li­nen und fem­i­ni­nen Endung soll in der Schrift­sprache als Darstel­lungsmit­tel aller sozialen Geschlechter und Geschlecht­si­den­titäten dienen und hebt gezielt den Geschlech­ter­d­u­al­is­mus auf. [Neue Regelung für geschlechterg­erechte Sprache, hannover.de, 18.1.2018]

Einen kleinen Bekan­ntheitss­chub erhält das Wort Gen­der Star 2015, als die Grü­nen beschließen, auf Parteita­gen in Zukun­ft nur noch Anträge zu bear­beit­en, die das Sternchen ver­wen­den (das Sprachlog berichtete). Doch zu diesem Zeit­punkt find­et sich bere­its die zur Hälfte eingedeutsche Form Gen­der­stern, erst­mals doku­men­tiert im öster­re­ichis­chen Mag­a­zin Fal­ter:

Im Fem­i­nis­mus für Fort­geschrit­tene kann man sich daher um Trans­gen­der­toi­let­ten und den Gen­der­stern *, die alle Geschlechter­vari­anten inkludierende Schreib­weise, küm­mern. Mit dem Siegeszug der Recht­spop­ulis­ten scheint der kurze Som­mer des Gen­der­fem­i­nis­mus aber zu Ende zu gehen. [Emanzi­pa­tion für Fort­geschrit­tene, Fal­ter, 8.3.2017]

Obwohl der Beschluss der Grü­nen und die darauf fol­gende zunehmende Ver­wen­dung in deren öffentlich­er Kom­mu­nika­tion zur weit­eren Ver­bre­itung des Sternchens an sich beige­tra­gen haben dürften, set­zt sich das Wort Gen­der Star nicht durch son­dern wird ab 2016 zunehmend durch die heute übliche Form Gen­der­sternchen ver­drängt. Warum hier die Verkleinerungs­form bevorzugt wird, darüber kann man nur spekulieren. Es kön­nte ein Aus­druck zärtlich­er Zunei­gung gegenüber dem Aster­isk sein, aber wahrschein­lich­er liegt es daran, dass das Sym­bol auch in der Typografie meis­tens Sternchen genan­nt wird.

Allerd­ings sind alle drei For­men des Wortes zu diesem Zeit­punkt noch sehr sel­ten, in die bre­ite Öffentlichkeit drin­gen die Diskus­sio­nen um das Für und Wider des Sternchens noch nicht. Das ändert sich erst 2018, als sich der Rat für deutsche Rechtschrei­bung auf Anfrage des Lan­des Berlin mit der Frage befasste, ob das Gen­der­sternchen in die Amtliche Rechtschrei­bung aufgenom­men wer­den soll.

Der Rat sprach sich dage­gen aus (PDF), aber die Diskus­sion war da und trieb die Ver­wen­dung­shäu­figkeit des Wortes in die Höhe – zwis­chen 2017 und 2018 verzehn­fachte sie sich im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus (siehe hier).

Überzeugt hat die Jury am Wort Gen­der­sternchen aber nicht nur dieser sprung­hafte Anstieg im öffentlichen Sprachge­brauch, obwohl der natür­lich darauf hin­weist, dass es hier einen Redebe­darf gab, für den es ein Wort brauchte.

Das Wort zeigt auch, dass die Auf­nahme von Lehngut in eine Sprache kein pas­siv­er, wil­len­los­er Prozess ist. Schon sein Ursprung als Pseudolehn­wort zeigt, dass Sprachge­mein­schaften ein­mal entlehntes Sprach­ma­te­r­i­al nach ihren eige­nen Bedürfnis­sen weit­er­ver­ar­beit­en. Pseudoan­glizis­men sind also ganz reale deutsche Wörter.

Der aktive Umgang mit dem Lehngut zeigt sich auch an der schnellen Inte­gra­tion der Neu­bil­dung in den Wortschatz des Deutschen. Für das Wort Gen­der gibt es kein gen­uin deutsches Äquiv­a­lent, also wird dieses gut etablierte Lehn­wort beibehal­ten. Das Wort Star hinge­gen hat zum einen im Deutschen eine gebräuch­liche Entsprechung – eben Stern bzw. Sternchen –, und zum anderen gibt es ein Lehn­wort Star mit der im Kon­text des Gen­der Star unpassenden Bedeu­tung „promi­nente Per­son“. Die Sprachge­mein­schaft entschei­det sich hier deshalb für eine Ein­deutschung – so bleibt die Dif­feren­zierung zwis­chen Star und Stern erhal­ten, und das Wort Gen­der­sternchen wird trans­par­enter und damit leichter erlern- und verwendbar.

So wird die lexikalis­che Lücke gefüllt, die sich durch den eingeschobe­nen Aster­isk auf­tut. Ob man diesen mag oder nicht, ob man die Absicht­en dahin­ter gutheißt oder ablehnt – das Sternchen ist da und wird so schnell nicht ver­schwinden, und um darüber zu stre­it­en braucht die Sprachge­mein­schaft ein Wort – ob das Gen­der­sternchen eine Bere­icherung für die deutsche Sprache ist, bleibt abzuwarten – das Wort Gen­der­sternchen ist es auf jeden Fall.

Unwort des Jahres: Anti-Abschiebe-Industrie

Von Anatol Stefanowitsch

Die Sprachkri­tis­che Aktion hat ger­ade das Unwort des Jahres bekan­nt­gegeben: Anti-Abschiebe-Indus­trie (PDF). Nach Volksver­räter (2016), Gut­men­sch (2015), und Lügen­presse (2014) ist damit zum vierten Mal in den let­zten fünf Jahren ein Begriff zum Unwort gewählt wor­den, mit dem Akteure am recht­en Rand Insti­tu­tio­nen und Men­schen kri­tisieren, die sich im Prinzip nur um die Aufrechter­hal­tung rechtsstaatlich­er Prinzip­i­en bemühen.

In diesem Fall war es der CSU-Poli­tik­er Alexan­der Dobrindt, der den Begriff in die öffentliche Debat­te warf, um dem Bemühen um eine recht­skon­forme Behan­dling von Asylbewerber/innen die Legit­im­ität abzusprechen:

Der Aus­druck unter­stellt den­jeni­gen, die abgelehnte Asyl­be­wer­ber rechtlich unter­stützen und Abschiebun­gen auf dem Rechtsweg prüfen, die Absicht, auch krim­inell gewor­dene Flüchtlinge schützen und damit in großem Maßstab Geld ver­di­enen zu wollen. Der Aus­druck Indus­trie sug­geriert zudem, es wür­den dadurch über­haupt erst Asyl­berechtigte „pro­duziert“. [Pressemit­teilung der Sprachkri­tis­chen Atkion]

Der Begriff fügt sich naht­los in ein all­ge­meines Fram­ing ein, das jeden Ein­satz für Schwächere als Han­deln mächtiger Akteure im Hin­ter­grund darstellt — er ist nicht weit ent­fer­nt von recht­sradikalen Ver­schwörungth­e­o­rien, nach denen schwammig definierte Eliten (die oft von Angela Merkel, den Grü­nen und/oder George Soros ange­führt wer­den) sich bere­ich­ern, indem sie die anges­tammte Bevölkerung des Lan­des durch Geflüchtete erset­zen wollen. Das ist kein Zufall: der Begriff greift direkt das gut etablierte recht­sradikale Schlag­wort der Asylin­dus­trie auf.

Auf bre­it­er Ebene durchge­set­zt hat sich die von Dobrindt pop­u­lar­isierte Wortschöp­fung nicht, aber rechte Parteien, von der AfD bis zur NPD, haben das Wort dankbar aufge­grif­f­en. Dass ein Poli­tik­er ein­er in ihrem Selb­stver­ständ­nis demokratis­chen Partei sich auf diese Weise zum Stich­wort­ge­ber für Recht­sradikale macht — und Dobrindt ist da nicht der einzige –, trägt mehr zur oft beklagten „Ver­ro­hung“ des öffentlichen Sprachge­brauchs bei, als es die Recht­sradikalen alleine jemals könnten.

Die Unwort-Jury hat ihre Sache also wieder ein­mal gut gemacht — auch wenn die CSU sich von der Neg­a­ti­vausze­ich­nung, die ihr radikalisiert­er Sprachge­brauch heute erfährt, wohl nicht mäßi­gen lassen wird.

Wort des Jahres: Heißzeit

Von Anatol Stefanowitsch

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat einen Job, um den sie nicht zu benei­den ist: sie muss — da sie nun ein­mal irgend­wann damit ange­fan­gen hat — jedes Jahr ein Wort des Jahres wählen. Eigentlich eine schöne, span­nende Auf­gabe, wäre da nicht ein ungeschriebenes aber eis­ernes Gesetz: das Wort darf keines­falls tat­säch­lich in nen­nenswert­er Häu­figkeit ver­wen­det wor­den sein, schon gar nicht im Jahr, für das es gewählt wurde. Aber anders als der Lan­gen­schei­dt-Ver­lag es mit dem Jugend­wort macht, darf die GfdS das Wort auch nicht völ­lig frei erfind­en oder aus einem YouTube-Video von Mon­ey­boy klauen. Wie gesagt, nicht zu benei­den. 

Aber man muss es ihnen lassen, sie machen diesen Job ganz her­vor­ra­gend: 

Das Wort des Jahres 2018 ist Heißzeit. Diese Entschei­dung traf am Mittwoch eine Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wies­baden. [Pressemit­teilung der GfdS]

Genial. Man nimmt ein Wort aus ein­er Pressemit­teilung des Pots­dam-Insti­tut für Kli­mafol­gen­forschung PIK, die Anfang August kurz für Aufmerk­samkeit gesorgt hat, bevor wir alle den Kli­mawan­del wieder kollek­tiv ver­drängt haben.

Und die Begründung:

Sie the­ma­tisiert damit nicht nur einen extremen Som­mer, der gefühlt von April bis Novem­ber dauerte. Eben­falls angedeutet wer­den soll eines der gravierend­sten glob­alen Phänomene des frühen 21. Jahrhun­derts, der Kli­mawan­del. 

Gut, eigentlich hat das Pots­dam-Insti­tut für Kli­mafol­gen­forschung damit den Kli­mawan­del the­ma­tisiert. In ein­er (in Worten 1) Pressemit­teilung.  Aber Schwamm drüber, warum es Wort des ver­dammten Jahres ist, will ich wis­sen. 

Ah:

Nicht zulet­zt ist Heißzeit eine inter­es­sante Wort­bil­dung. Mit der laut­lichen Analo­gie zu Eiszeit erhält der Aus­druck über die bloße Bedeu­tung ›Zeitraum, in dem es heiß ist‹ hin­aus eine epochale Dimen­sion und ver­weist möglicher­weise auf eine sich ändernde Klimaperiode.

Ja, genau darauf ver­weist es. Nicht „möglicher­weise“, son­dern ganz, ganz deut­lich. In ein­er Pressemit­teilung des PIK. Warum es Wort des Jahres ist, will ich wis­sen.

Ehren­mann, wer mir das erk­lären kann. 

Gendergap und Gendersternchen in der gesprochenen Sprache

Von Anatol Stefanowitsch

Im feuil­leton­is­tis­chen Eklat um ver­schiedene For­men der geschlechterg­erecht­en Rechtschrei­bung, über die der Rechtschreibrat gestern erst­mals berat­en und mit denen er sich in den näch­sten Monat­en genauer beschäfti­gen will, wird immer wieder die Frage gestellt, wie man diese For­men den aussprechen solle. Genauer gesagt, es wird – im Ein­klang mit dem all­ge­mein sehr selb­stzufriede­nen Ton der Kritiker/innen – unter­stellt, dass man sie eben nicht aussprechen könne.

Tat­säch­lich lässt sich diese Frage beant­worten (bzw. die Unter­stel­lung aus der Welt räu­men). Auch wenn die Kritier/innen es sich offen­bar nicht vorstellen kön­nen, machen die Befürworter/innen geschlechterg­erechter Sprache sich sehr aus­führlich Gedanken über das, was sie tun, und lösen solche Prob­leme lange bevor sie den Kritiker/innen über­haupt auffallen.

Bei den soge­nan­nten Sparschrei­bun­gen mit Schrägstrichen oder Klam­mern – also z.B. Kri­tik­er/-in oder Befürworter(inn)en – ist die Sache ein­fach: Diese For­men sind als Abkürzung für Dop­pelfor­men gedacht und wer­den als solche gesprochen: Kri­tik­er oder Kri­tik­erin, Befür­wor­terin­nen und Befür­worter usw.

Auch das Binnen‑I wird von manchen als Sparschrei­bung (Abkürzung) betra­chtet, und wäre in diesem Fall genau­so zu behan­deln. Andere Betra­cht­en es als eigene Form, und sprechen es ein­fach aus, ohne das Binnen‑I her­vorzuheben – es klingt dann eben so wie das Fem­i­ninum (Kri­tik­erin, Befür­wor­terin­nen).

Glottaler Plosivlaut über das Transgender-Symbol gelegtInter­es­sant wird es beim Gen­der­gap (Kritiker_in) und dem Gen­der­sternchen (Kritiker*in). Diese sind ja expliz­it nicht als Abkürzun­gen der Dop­pelform gedacht, son­dern sollen die darin enthal­tene Zweigeschlechtlichkeit durch­brechen – die Lücke und das Sternchen sind hier Platzhal­ter für weit­ere mögliche Geschlechter. Dieser Platzhal­ter muss sin­nvoller­weise auch in der gesproch­enen Sprache sig­nal­isiert wer­den – und dafür hat sich schon seit län­gerem eine lin­guis­tisch inter­es­sante Lösung etabliert.

Das Sternchen und die Lücke wer­den in der Aussprache durch einen stimm­losen glot­tal­en Ver­schlus­slaut wiedergegeben – ein Laut, den wir pro­duzieren, indem wir die Stimm­lip­pen („Stimm­bän­der”) kurz voll­ständig schließen.

Dieser Laut, der im Inter­na­tionalen Phonetis­chen Alpha­bet durch das Sym­bol [ʔ] repräsen­tiert wird, ste­ht im Deutschen (in den deutschen und öster­re­ichis­chen Dialek­ten) am Anfang jedes Wortes, das schein­bar mit einem Vokal begin­nt. Das Wort Eklat, z.B., wird nicht [eklaː] aus­ge­sprochen, son­dern [ʔeklaː]. Das merken wir, wenn wir einen indef­i­niten Artikel davor set­zen – ein Eklat. Wenn wir das aussprechen, hören wir eine kurze Pause vor Eklat, und das [e] hat einen klaren Ansatz: [aɪ̯n  ?eklaː] (das Leerze­ichen ste­ht für eine kurze Pause).

Im Franzö­sis­chen, beispiel­sweise, ist das anders, dort gibt es diesen glot­tal­en Ver­schlus­slaut am Wor­tan­fang nicht. Eclat wird hier tat­säch­lich [ekla] aus­ge­sprochen, und wenn wir einen indef­i­niten Artikel davor set­zen, fließen die Wörter ineinan­der [œnekla]. Auch an der Silb­i­fizierung sehen wir die Effek­te des glot­tal­en Ver­schlus­slauts: im Deutschen ist zwis­chen ein und Eklat eine Sil­ben­gren­ze (hier durch einen Punkt dargestellt) – [aɪ̯n.?e.klaː]; im Franzö­sis­chen ist diese Sil­ben­gren­ze in der Mitte des indef­i­niten Artikels un, das n bildet mit dem e von Eklat eine Silbe, die Wort­gren­ze wird ignori­ert – [œ.ne.kla]. Im Schweiz­erdeutschen ist es übri­gens wie im Franzö­sis­chen, ein Eklat wird dort [aɪ̯.ne.klaː] ausgesprochen.

Inner­halb von Wörtern kommt der stimm­lose glot­tale Ver­schlus­slaut im Deutschen sel­ten vor, näm­lich in Kom­posi­ta (die ja aus zwei Wörtern beste­hen) an der inter­nen Wort­gren­ze, und bei manchen Prä­fix­en („Vor­sil­ben“), z.B. ver-: in den meis­ten Dialek­ten sagen wir beispiel­sweise für Vere­in [fɛɐ̯ʔaɪ̯n], und nicht [fɛˈʁaɪ̯n].

Vor Suf­fix­en („Nach­sil­ben“) kommt der glot­tale Ver­schlus­slaut nie vor – bzw., er kam dort nie vor, bis eben manche Sprecher/innen ange­fan­gen haben, ihn als laut­liche Repräsen­ta­tion des Gen­der­gap bzw. ‑sternchen zu ver­wen­den. Während Ärztin z.B. [ɛːɐ̯tstɪn] aus­ge­sprochen wird, wird Ärzt_in oder Ärzt*in [ɛːɐ̯tstʔɪn] ausgesprochen.

Das hat eine Rei­he erwart­bar­er pho­nol­o­gis­ch­er Kon­se­quen­zen. So verän­dert es die Silb­i­fizierung. Bei Ärztin bildet der Kon­so­nant am Ende des Wort­stammes gemein­sam mit dem Suf­fix eine Silbe – [ɛːɐ̯ts.tɪn], bei Ärzt_in/Ärzt*in wird das durch den glot­tal­en Ver­schlus­slaut ver­hin­dert – [ɛːɐ̯tst.ʔɪn]. In dieser Hin­sicht ver­hält sich das Suf­fix jet­zt laut­lich wie ein eigenes Wort.

Aber inter­es­san­ter­weise nur in dieser Hin­sicht. Alle anderen Prozesse, die man am Wor­tende erwarten würde, find­en sich vor diesem Suf­fix nicht.

Zum Beispiel wird das er-Suf­fix im Deutschen pho­nol­o­gisch zu einem [ɐ], ein­er Art unbe­ton­ten, tiefen a: [kʁiːtɪkɐ]. Fol­gt ein Suf­fix, behält es seine eigentliche laut­liche Form [əʁ], z.B. in Kri­tik­erin: [kʁiːtɪkəʁɪn]. Vor dem glot­tal­en Ver­schlus­slaut in der Aussprache von Kri­tik­erin behält es eben­falls diese Form: [kʁiːtɪkəʁʔɪn]. Damit ist klar, dass vor dem Suf­fix keine Wort­gren­ze ist – die Gap/Sternchen-Ver­sion des Suf­fix­es, [ʔɪn], bleibt trotz des glot­tal­en Ver­schlus­slauts ein Suffix.

Das zeigt sich auch an einem weit­eren Phänomen des Deutschen, der Aus­lautver­här­tung. Am Wor­tende sind im Deutschen keine stimmhaften Kon­so­nan­ten erlaubt, wo ein Wort einen hätte, wird dieser stimm­los. Chirurg wird etwa [çiʀʊʁk] aus­ge­sprochen, nicht [çiʀʊʁɡ]. Fol­gt ein Suf­fix, z.B. der Plur­al oder eben das fem­i­nine -in, bleibt das [ɡ] am Wor­tende stimmhaft: [çiʀʊʁɡən], [çiʀʊʁɡɪn]. Und auch bei der Gap/Sternchen-Vari­ante bleibt es stimmhaft: [çiʀʊʁɡʔɪn].

Schließlich sieht man auch am Wor­takzent, dass das Gap/Sternchen-Suf­fix­es [ʔɪn] sich wie ein Suf­fix ver­hält. Im Deutschen wer­den roman­is­che Lehn­wörter, die auf das Suf­fix -or enden, auf der vor­let­zten Silbe betont (hier durch Großbuch­staben sym­bol­isiert): MOtor, AUtor, pro­FES­Sor, alli­GA­tor, mod­eR­A­tor. Kommt ein Suf­fix dazu, ver­schiebt sich der Wor­takzent auf das Suf­fix selb­st, so dass er wieder auf der vor­let­zten Silbe liegt: moTOren, auTOren, pro­feS­SOrin, alli­ga­TOren, mod­er­a­TOrin. Beim Gap/Sternchen-Suf­fix [ʔɪn] ver­schiebt sich der Wor­takzent eben­falls auf diese Weise (in der phonetis­chen Tran­skrip­tion ste­ht ein Apos­troph vor der beton­ten Silbe: Mod­er­a­tor [mod­eˈʀaː­toːɐ̯], Mod­er­a­torin [mod­eʀaˈ­toːʀɪn], Moderator*in [mod­eʀaˈ­toːʀʔɪn]. Die Aussprache dieser drei Wörter ist hier zu hören:

 

Wir sehen: Mit dem stimm­losen glot­tal­en Ver­schlus­slaut am Anfang eines Suf­fix­es betreten die Verwender/innen dieser For­men pho­nol­o­gis­ches Neu­land, da der Laut an dieser Stelle bish­er nicht ste­hen kon­nte. Da schon die orthografis­chen For­men mit Gen­der­gap oder ‑sternchen bei manchen Kol­le­gen (kein gener­isches Maskulinum) Äng­ste vor ein­er bevorste­hen­den Zer­störung der deutschen Sprache aus­lösen, kann man sich vorstellen, wie sie reagieren wür­den, wenn sie vom [ʔɪn]-Suffix erführen. Da sie nichts zur Ken­nt­nis nehmen, was irgend­je­mand zum The­ma Gen­der schreibt, wird das zum Glück nicht passieren.

Es beste­ht aber keine Gefahr fürs Deutsche – die oben disku­tierten Phänomene zeigen, dass die laut­liche Struk­tur der betr­e­f­fend­en Wörter voll erhal­ten bleibt, dass sich das [ʔɪn]-Suffix also trotz sein­er ungewöh­lichen laut­lichen Form voll in die Mor­pholo­gie und Phonolo­gie des Deutschen integriert.

Wir wer­den also die deutsche Sprache in all ihrer geschlechterg­erecht­en und ‑ungerecht­en Vielfalt noch sehr lange genießen dürfen.

Anglizismus des Jahres 2017: Influencer

Von Anatol Stefanowitsch

Der Anglizis­mus des Jahres 2017 ist Influ­encer. In der Fach­sprache des Inter­net-Mar­ket­ing, von der aus das Wort sich in den all­ge­meinen Sprachge­brauch aus­ge­bre­it­et hat, beze­ich­net man damit eine

a) Per­son, die in sozialen Net­zw­erken viele Kon­tak­te oder Abon­nen­ten hat, sich an diese regelmäßig mit informieren­den Beiträ­gen wen­det und ihren Ein­fluss dafür nutzt, um (gegen Ent­gelt von Wirtschaft­sun­ternehmen) Wer­bung für bes­timmte Pro­duk­te, Dien­stleis­tun­gen o. Ä. zu machen [Dig­i­tales Wörter­buch der deutschen Sprache, s.v. Influ­encer]

Die hier beschriebene Form der Wer­bung, das soge­nan­nte Influ­encer Mar­ket­ing, liefert für den aktuellen Sprachge­brauch den wichtig­sten inhaltlichen Zusam­men­hang, in dem das Wort Influ­encer ver­wen­det wird, aber tat­säch­lich gibt es das Wort schon länger in ein­er all­ge­meineren Bedeu­tung, die das DWDS mit „b) Per­son, die einen größeren Ein­fluss, ins­beson­dere auf die Mei­n­ungs­bil­dung, ausübt“ erfasst. Und da die bei­den Bedeu­tun­gen miteinan­der ver­wandt sind, fall­en viele Ver­wen­dun­gen des Wortes auch dazwischen.

Für ein all­ge­meines Ver­ständ­nis des Wortes ist es wichtig, sich zunächst die Beson­der­heit bewusst zu machen, die Influ­encer (in der engeren Bedeu­tung a) von anderen Werbeträger/innen unter­schei­det: ihr Ein­fluss leit­et sich nicht aus ein­er unab­hängig von den sozialen Medi­en beste­hen­den Promi­nenz ab, son­dern allein aus ihrer Reich­weite in einem oder mehreren sozialen Net­zw­erken. Influ­encer kön­nen zwar Berühmtheit­en aus Musik, Sport oder Film sein, sind es aber nor­maler­weise nicht, son­dern wer­den erst durch ihre Social-Media-Präsenz zu Stars und Sternchen.

Uhr am Markusdom in Venedig mit SternzeichenMit Ster­nen begin­nt auch die lange Bedeu­tungs­geschichte des Wortes Influ­encer: In der Astrolo­gie der Spä­tan­tike beze­ich­nete der Aus­druck influxus stel­larum eine unsicht­bare Kraft, die von den Ster­nen aus in alle Kör­p­er hine­in­strömte und deren Schick­sal bes­timmte (wörtlich bedeutet es „das Hinen­fließen der Sterne“). In dieser Bedeu­tung wurde der Aus­druck im Mit­te­lal­ter ins Englis­che über­nom­men – die erste anglisierte Ver­wen­dung stammt von keinem gerin­geren als dem englis­chen Dichter­ge­nie und Shake­speare-Vor­bild Geof­frey Chaucer:

O influ­ences of thise heuenes hye, / Soth is that vnder god e ben oure hierdes […]
(„Oh, Ein­flüsse der hohen Him­mel, ihr seid wahrhaftig unsere Hirten“)
[Geof­frey Chaucer, Troilus & Criseyde, 1374]

Die Bedeu­tung von influ­ence weit­ete sich dann auf einen Ein­fluss aus, der von Per­so­n­en aus­geübt wurde – zunächst noch bild­haft, indem diese Per­so­n­en den Ster­nen gle­ichgestellt wur­den. Zu Beginn der Neuzeit war daraus eine wörtliche Bedeu­tung gewor­den – influ­ence beze­ich­nete schlicht eine bes­tim­mende Wirkung, die Men­schen oder abstrak­te Kräfte auf andere Men­schen haben. Das Verb to influ­ence ent­stand um die Mitte des 17. Jahrhun­derts — der erste Beleg stammt aus ein­er Rede des Staat­sober­haupts der kur­zlebi­gen Repub­lik Com­mon­wealth of Eng­land, Oliv­er Cromwell von 1658.

Am dem späten 17. Jahrhun­dert find­et sich dann die aus dem Verb abgeleit­ete Per­so­n­en­beze­ich­nung influ­encer, zunächst für Men­schen mit insti­tu­tioneller Macht (wie Staats- und Kirchenober­häupter), später auch für solche, deren Ein­fluss sich aus der ihnen zuge­sproch­enen Autorität und Rel­e­vanz in einem bes­timmten Bere­ich ergibt. In dieser Bedeu­tung find­et sich das Wort auch im heuti­gen Englisch, etwa, wenn von „pol­i­cy influ­encers“, „indus­try influ­encers“, „fash­ion influ­encers“ usw. die Rede ist – Indus­triekapitäne, Ex-Präsi­den­ten und andere Men­schen, die sich auf „Glob­al Influ­encer Sum­mits” tre­f­fen und „Influ­encer-of-the-Year-Awards“ ver­liehen bekommen.

An diese Bedeu­tung angelehnt entwick­elte sich in den let­zten zehn Jahren der Begriff „social media influnencers“ oder „dig­i­tal influ­encers“, der dann – schnell auf den Wortbe­standteil Influ­encer verkürzt – ins Deutsche entlehnt wurde. Vere­inzelte Belege gibt es im Deutschen min­destens seit 2007 – der früh­este Beleg, den ich find­en kon­nte, stammt aus einem Text der ein­er Schweiz­er Werbeagentur:

Die Blog-Ein­träge ver­sor­gen Unternehmen mit glaub­hafter und langfristiger Aufmerk­samkeit und wertvollem Feed­back, denn Blog­ger gel­ten als Ear­ly Adopters und Influ­encers. [Triga­mi, 2007 (Link)]

Inter­es­sant ist, dass hier die englis­che Plu­ral­form Influ­encers gewählt wird. Das deutet auf eine zu diesem Zeit­punkt noch sehr schwache Inte­gra­tion ins Deutsche hin, denn bei masku­li­nen Sub­stan­tiv­en auf -er wäre eigentlich ein Nullplur­al zu erwarten. Ein solch­er Nullplur­al find­et sich dann 2010 in dem früh­esten gedruck­ten Beleg, den ich find­en konnte:

6.2 Die Influ­encer … Es gibt einige wenige Kun­den, die auf­grund der Anzahl ihrer Kon­tak­te großen Ein­fluss auf den Erfolg ein­er Marke haben kön­nen. Sie wer­den als Influ­encer beze­ich­net und wahrgenom­men. [Klaus Eck, 2010]

Das Wort bleibt in dieser neuen Bedeu­tung zunächst, wie schon in den früheren Bedeu­tun­gen, auf fach­sprach­liche Zusam­men­hänge beschränkt. In Zeitun­gen find­et sich bis 2015 nur eine Hand­voll von Tre­f­fern, die sich größ­ten­teils auf die ältere, all­ge­meinere Bedeu­tung beziehen (oft in fest­ste­hen­den Aus­drück­en wie Influ­encer Rela­tions Web Offi­cer, Influ­encer of the Year und Glob­al Influ­encer Sum­mit).

Erst 2016 erre­icht die Ver­wen­dung­shäu­figkeit ein mess­bares Niveau – die ein­gangs zitierte Bedeu­tung ist nun die dom­i­nante gewor­den, auch wenn die ältere Bedeu­tung nach wie vor zu find­en ist. Die zunehmende Ver­bre­itung führt auch zu ein­er engeren Ein­bindung in die deutsche Gram­matik: 2016 find­en sich im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus die ersten weib­lichen For­men, auch als Mehrzahl:

So kommt es, dass die gebür­tige Russin nun um den Globus jet­ten und ihr Geld als «Dig­i­tal Influ­encerin» ver­di­enen kann. [St. Galler Tag­blatt, 9.11.2016]

Die neuen Vor­bilder junger Mäd­chen sind soge­nan­nte Influ­encerin­nen wie Juliane Dies­ner alias Style Shiv­er. [NZZ am Son­ntag, 18.12.2016]

Häu­figkeit von Influ­encer im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus (Quelle)

Im Jahr 2017 vervielfacht sich die Gebrauchshäu­figkeit dann sprun­gar­tig: das Ref­eren­zko­r­pus des Insti­tuts für Deutsche Sprache zeigt einen Anstieg in Zeitung­s­tex­ten von 0,2 auf etwas über 2 Vorkom­men pro 1 Mil­lion Wörter. Damit ist Influ­encer in Zeitung­s­tex­ten genau­so häu­fig wie alteinge­sessene Per­so­n­en-beze­ich­nun­gen wie Auge­narzt, Bergar­beit­er, Dra­matik­erFriseurinKinobe­such­erMit­be­wohn­er, Tages­mut­terRaubkopier­er oder Wer­ber.

Dass die Ver­wen­dung­shäu­figkeit so stark angestiegen ist, liegt nicht daran, dass die Sprachge­mein­schaft plöt­zlich ein Inter­esse an Meth­o­d­en des Online-Mar­ket­ings ent­deckt hätte, son­dern daran, dass die Influencer/innen zu einem kul­turell rel­e­van­ten Phänomen gewor­den sind. Natür­lich wird auch die Wer­be­form selb­st disku­tiert – anhand von miss­lun­genen Kam­pag­nen, bei denen z.B. plöt­zlich dutzende bekan­nter Instagrammer/innen pen­e­trant-läs­sig lila Schoko­ladetafeln in ihre Lifestyle-Fotos ein­bauen – die Face­book­seite Perlen des Influ­encer-Mar­ket­ings hat sich dem Sam­meln solch­er Beispiele ver­schrieben. Oder anhand all­ge­mein­er Fra­gen zum Prob­lem der Schle­ich­wer­bung. Aber die Influencer/innen sind längst (Anti-)Held/innen der Pop­kul­tur. Mal wird der Influ­encer als neuer Trend-Beruf­swun­sch junger Men­schen präsen­tiert, mal die (fehlende) Ver­ant­wor­tung reich­weites­tark­er Youtu­ber (Inhaltswar­nung: Selb­st­tö­tung) disku­tiert. Und beson­ders gerne regt man sich über die „Dreistigkeit“ von Influencer/innen auf, wenn diese bei Hotels oder Restau­rants ihre Dien­ste im Aus­tausch gegen Kost und Logis anbieten.

Egal, ob man die Influ­encer nun liebt oder has­st, das Wort Influ­encer erlaubt eine klare und präzise Benen­nung des Phänomens. Während das Englis­che das Kom­posi­tum social media influ­encer benötigt, um die betr­e­f­fend­en Men­schen von anderen Arten von influ­encers zu unter­schei­den, hat das Deutsche mit dem Lehn­wort Influ­encer die Möglichkeit, diese Bedeu­tung direkt auszu­drück­en. Influ­encer ver­drängt damit nicht die manch­mal ver­wen­de­ten Alter­na­tiv­en Vor­bild, Mei­n­ungs­führer, Mei­n­ungs­mach­er, Mei­n­ungs­bild­ner oder Trend­set­ter, son­dern ergänzt sie. Damit ist das Wort Influ­encer eine Bere­icherung der deutschen Sprache.

Ob auch für die Influ­encer selb­st eine Bere­icherung darstellen, muss jede und jed­er für sich entschei­den. Ihr Ein­fluss auf jeden Fall ist – anders als der des influxus stel­larum der Spä­tan­tike – real, auch wenn 10 000 Likes für ein durschnit­tlich­es Self­ie mit Schoko­ladentafel fast so geheimnisvoll erscheinen wie der unsicht­bare Kräfte­fluss, von dem unsere Vor­fahren glaubten, dass er ihre Geschicke lenke.

Unwort des Jahres: Alternative Fakten

Von Anatol Stefanowitsch

Die Sprachkri­tis­che Aktion hat ger­ade das Unwort des Jahres bekan­nt­gegeben: alter­na­tive Fak­ten (PDF). Sie schließt sich damit sowohl der Amer­i­can Dialect Soci­ety an, die alter­na­tive facts zum Euphemism of the Year wählte (PDF), als auch der aus­tralis­chen Plain Eng­lish Foun­da­tion für die es das Worst Word of the Year war (PDF).

Der Aus­druck ist nur ein­er von vie­len fast schon hyp­no­tisch post­fak­tis­chen Sprach­mustern, die US-Präsi­dent Trump und seine Gefol­gschaft zum Stan­dard des amerikanis­chen poli­tis­chen Diskurs­es erhoben haben. Er stammt von Trumps Bera­terin Kellyanne Con­way, die ihn ver­wen­dete, um die Trump’sche Behaup­tung zu stützen, zu sein­er Amt­se­in­führung seien mehr Zuschauer/innen erschienen als zu der irgen­deines anderen Präsi­den­ten vor ihm.

Diese Behaup­tung, die sich durch Fil­mauf­nah­men leicht als falsch ent­lar­ven ließ, wieder­holte Trumps dama­liger Press­esprech­er Sean Spicer gle­ich bei sein­er ersten Begeg­nung mit der amerikanis­chen Presse. Vom CNN-Mod­er­a­tor Chuck Todd darauf ange­sprochen, warum man die Zusam­me­nar­beit mit der Presse mit ein­er Lüge beginne, antwortete Con­way: „Sie nen­nen das eine Lüge. Unser Press­esprech­er Sean Spicer lieferte aber alter­na­tive Fak­ten“. „Alter­na­tive Fak­ten sind keine Fak­ten“, erwiderte Todd. „Sie sind Lügen.“ Aber natür­lich sind sie mehr als das – „alter­na­tive facts“ sind Lügen, mit denen eine offen­sichtliche und umfassend doku­men­tierte Wahrheit­en solange bestrit­ten wird, bis sich kein­er mehr daran erin­nert, was denn nun wirk­lich stimmt.

Die Trump-Regierung dominierte auch die englis­chsprachi­gen Wort-des-Jahres-Wahlen der let­zten Jahre: in diesem Jahr wählten sowohl die Amer­i­can Dialect Soci­ety als auch die britis­chen Collins Dic­tio­nar­ies fake news zum Wort des Jahres (im let­zten Jahr war das bere­its der deutsche Anglizis­mus des Jahres und das Aus­tralis­che Mac­quar­ie Dic­tio­nary Word of the Year), im let­zten Jahr war es dump­ster fire („Müll­con­tainer­brand“) – eine Meta­pher unter anderem für den US-Präsi­dentschaftswahlkampf. Das britis­che Word-of-the-Year der Oxford Dic­tio­nar­ies war im let­zten Jahr post truth.

Wenn der post­fak­tis­che Zugang zur Real­ität sich flächen­deck­end durch­set­zt, kann wenig­stens nie­mand sagen, die inter­na­tionale Lexiko­grafie hätte nicht davor gewarnt.

Wort des Jahres 2017: Jamaika-Aus

Von Anatol Stefanowitsch

Jedes Jahr Anfang Dezem­ber trifft sich die Gesellschaft für Deutsche Sprache, um das „Wort des Jahres“ zu wählen. Und jedes Jahr zeigt sich, dass den Mit­gliedern der Jury erst in den Tagen unmit­tel­bar vor diesem Tre­f­fen ein­fällt, dass sie vielle­icht mal in eine Zeitung guck­en soll­ten, um her­auszufind­en, was für Wörter es im Deutschen eigentlich so gibt.

Hastig wählt man dann das erste Wort, das einem bei diesem Blick in die Zeitung auf­fällt. Das ist mal ein Wort, das Wolf­gang Bos­bach zufäl­lig ein einziges Mal ver­wen­det hat, wie 2012, als man Ret­tungsrou­tine auserkor, und mal eines, das seit Jahren ein unauf­fäl­liges Puz­zlestückchen im Wortschatz des Deutschen ist, wie 2013, als man sich für GroKo entsch­ied. Oder man nimmt eben ein Wort, das zufäl­lig ger­ade durch die Medi­en geis­tert, wie 2014, als mit Licht­gren­ze der Name eines Luft­bal­lon-Großevents das Ren­nen machte.

In diesem Jahr hat man sich offen­sichtlich für let­ztere Strate­gie entsch­ieden: Mit Jamai­ka-Aus hat man sich für ein Wort entsch­ieden, das ger­ade mal fünf Tage lang – vom 20. bis zum 25. Novem­ber 2017 – eine nen­nenswerte Medi­en­präsenz hat­te und es bei Google ins­ge­samt auf sat­te 80 Einzel-Tre­f­fer bringt, wenn man die paar Hun­dert abzieht, in denen über das Wort des Jahres berichtet wird.

Damit, so die Jury, the­ma­tisiere sie

nicht nur die beson­deren Schwierigkeit­en bei der Regierungs­bil­dung, die sich nach der Bun­destagswahl 2017 ergaben, son­dern lenkt den Blick auch auf eine inter­es­sante Wort­bil­dung: Nicht nur hat der Lan­desname Jamai­ka eine neue Bedeu­tung angenom­men, son­dern auch die Aussprache wurde eingedeutscht: Nach­dem die englis­che Lau­tung „Dschamäi­ka“ bere­its seit langem zu »Dschamai­ka« gewor­den war, hört man am Wor­tan­fang anstelle von „Dsch“ heute zunehmend auch ein „J“ wie in „Jahr“. – Mit der Sub­stan­tivierung das Aus wird umgangssprach­lich auf das Ende, das Scheit­ern von etwas ver­wiesen; die Zusam­menset­zung Jamai­ka-Aus bringt somit präg­nant den kom­plex­en Sachver­halt ›Abbruch der Sondierungs­ge­spräche für eine schwarz-gelb-grüne Koali­tion‹ zum Ausdruck.

Der Lan­desname Jamai­ka hat diese „neue Bedeu­tung“ allerd­ings schon im Bun­destagswahlkampf 2005 angenom­men, wo sich das Wort erst­mals in den Medi­en find­et, oder spätestens seit 2009, als im Saar­land erst­mals eine solche Koali­tion gebildet wurde. Auch die Aussprache mit „J wie Jahr“ ist laut Duden die Stan­dar­d­aussprache für den Lan­desna­men Jamai­ka, und so inter­es­sant es wäre, zu erfahren, ob sich in den Aussprache-Gewohn­heit­en Änderun­gen beobacht­en lassen, von der Wort-des-Jahres-Jury wer­den wir es nicht erfahren, denn denen scheint das Wort Ende Novem­ber zum ersten Mal aufge­fall­en zu sein.

Schade ist das alles, weil die GfdS tat­säch­lich ein paar gute Kan­di­dat­en auf der Liste hat­te – Ehe für Alle (auf Platz 2) und Ober­gren­ze zum Beispiel, die ja die Diskus­sio­nen dieses Jahres dur­chaus geprägt haben. Es hätte allerd­ings auch schlim­mer kom­men kön­nen: auch cov­fefe und hyggelig lan­de­ten auf den vorderen Plätzen.