Sprachbrocken 48/2012

Von Anatol Stefanowitsch

Wo Deutsche, Schweiz­erin­nen und Östere­icherin­nen ((Der Ein­fach­heit hal­ber wer­den in diesem Text die fem­i­ni­nen For­men ver­wen­det; Män­ner sind selb­stver­ständlich mit­ge­meint.)) Fäkalaus­drücke ver­wen­den, um ihren Unmut zu Äußern, ver­wen­den unsere Nach­barin­nen in Europa bevorzugt Wörter aus dem Bedeu­tungs­feld „Geschlechtsverkehr“. Zumin­d­est behauptet das der Freiburg­er Sprach­wis­senschaftler Hans-Mar­tin Gauger, dessen Buch „Das Feuchte & Das Schmutzige“ der Schweiz­er TAGESANZEIGER bespricht.

Unser­er kul­turellen Prä­gung sei das zu ver­danken, erfahren wir dort, obwohl Gauger (wie auch ich) die The­o­rie ablehnt, dass eine sprachge­mein­schaftsweite freud­sche Anal­fix­ierung ver­ant­wortlich dafür ist, wenn wir Scheiße sagen, wo die Englän­derin­nen fuck, die Französin­nen con („Fotze“), die Ital­iener­in­nen caz­zo („Schwanz“) und die Nieder­län­derin­nen kut („Fotze“) oder kloten („Klöten“) sagen. Für mich die plau­si­bel­ste Erk­lärung dafür: Sex­u­al­ität ist im Deutschen nicht aus­re­ichend stark tabuisiert, weshalb bei uns – anders als bei den alten Ägypterin­nen – der Satz Ein Esel soll dich vögeln! nicht als Belei­di­gung, son­dern als fre­und­schaftlich­er Rat emp­fun­den wird (was sich mit dem anste­hen­den Ver­bot der Zoophilie dann vielle­icht ändern wird).

Eine Flut von Kraftaus­drück­en (fäkal und ander­weit­ig) ergießt sich mit schön­er Regelmäßigkeit über die Duden-Redak­tion, wenn die es wagt, ein gut etabliertes Fremd­wort in ihr Wörter­buch aufzunehmen. Denn nichts empört unsere Sprach­schützerin­nen ((Ob ein gener­isches Femnin­inum hier tat­säch­lich zur Anwen­dung kom­men darf, ist unklar, da mir per­sön­lich nur männliche Sprach­schützerin­nen bekan­nt sind.)) so sehr, wie die Verun­reini­gung der blüten­weißen deutschen Sprache durch schmutzige (und vielle­icht auch feuchte) Lehngut­flecken­zw­erge. Ganz anders hal­ten es da die Sprach­schützerin­nen in der englis­chsprachi­gen Welt: Die empören sich derzeit, wie ORF.at berichtet, darüber, dass Robert Burch­field, von 1972 bis 1986 ver­ant­wortlich für die Aktu­al­isierung des Oxford Eng­lish Dic­tio­nary, fast ein Fün­f­tel der damals verze­ich­neten Lehn­wörter ent­fer­nte, um Platz für neuere Entwick­lun­gen des Wortschatzes zu schaf­fen. In der Online-Ver­sion des OED sind diese Ein­träge übri­gens enthal­ten — das Inter­net, halt, macht mal wieder alles kaputt.

Und während die anglo­phone Welt sich nach den Lehn­wörtern ver­gan­gener Zeit­en verzehrt, argu­men­tiert Öster­re­ichs ober­ster Sprach­schützer Robert Sed­laczek in der WIENER ZEITUNG ern­sthaft für eine bun­de­seingedeutsche Zukun­ft des öster­re­ichis­chen Wortschatzes: Da es unwahrschein­lich sei, dass die Nord­deutschen in naher Zukun­ft öster­re­ichis­che Wörter wie Kren, Mar­ille und Topfen übernäh­men, soll­ten die Öster­re­icherin­nen sich mit den bun­des­deutschen Entsprechun­gen Meer­ret­tich, Aprikose und Quark anfre­un­den. Mit Ver­laub, Herr Sed­laczek, was ist denn das für eine defätis­tis­che Sprach­poli­tik? Um dieser sprach­lichen Selb­stver­leug­nung unser­er südlichen Nach­barin­nen ent­ge­gen­zuwirken, schlage ich vor, die näch­ste Woche im gesamten deutschsprachi­gen Europa zur „Woche des öster­re­ichis­chen Deutsch“ (Hash­tag: #OeWoche) zu machen, und öster­re­ichis­ches Vok­ab­u­lar zu ver­wen­den, wo es nur geht.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

7 Gedanken zu „Sprachbrocken 48/2012

  1. Joachim

    Um mal mit den nordis­chen Nach­barn zu kom­plet­tieren: In Schwe­den, wo ich mal lebte, muss eher der Satan für Schimpf­worte her­hal­ten. “Fan” (Teufel) ist ein­er der härteren Flüche.

    Wie ein­er mein­er ein­heimis­chen Kol­le­gen es mal aus­drück­te: “Wenn ich das in Deutsch­land ver­suche, ist die Antwort: ‘Inter­es­sant, erzähl mehr aus der Bibel’ ”

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  2. Evanesca Feuerblut

    Schön­er Seit­en­hieb auf die ganzen Möchte­gern-Gen­der­er eben­so wie auf Sprach­schützer, die nicht ver­ste­hen, dass Sprache vor allem eins ist:
    Ständig im Wandel.
    Und auch wenn mir manche Ten­den­zen sehr gegen den Strich gehen, ist es gut so.

    Dass es kul­turelle Unter­schiede beim Fluchen gibt, kon­nte ich mir aber aus mein­er eige­nen interkul­turellen Prax­is denken.
    Im Rus­sis­chen gibt es Abstu­fun­gen von Flüchen auf Sex­u­al­ba­sis — nor­male Flüche und “dreistöck­ige”, außer­dem aber gesellschaftlich akzep­tierte Fluch-Ersatzwörter.
    Man sagt statt dem rus­sis­chen Wort für “Sch***”, das mit einem “G” anfängt, dann oft tat­säch­lich, dass etwas “gä” ist. Und wenn man aus­drück­en will, dass eine Frau von unanständi­gem Benehmen ist, so nutzt man im all­ge­meinen Sprachge­brauch nicht das obszöne Wort dafür, son­dern erset­zt es mit dem Wort “Bal­le­ri­na” oder “Bib­lio­thekarin” oder schlicht mit “Bä”.
    Die Liste kön­nte ich unendlich fort­set­zen… Ist eine recht span­nende Sache.

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  3. bulbul

    Schimpfwörter religiösen Ursprungs wer­den auch in den Teilen Europas gebraucht wo man nor­maler Weise Sex-basierte Ter­mine bevorzugt, oft­mals zusam­men. Man gebraucht zum Beispiel hier in der Slowakei oder in Ungarn den Namen Gottes, Jesu oder sog­ar der Mut­ter Gottes als das Objekt des Zeit­wortes “jebať” / “baszni” (“fick­en”), also etwa “Jebem ti Boha/Krista/Máriu” / “Bas­zom az Istenét” = “Ich ficke deinen/den Gott” usw. Kanadis­ches Franzö­sisch ist dafür bekan­nt (wenig­stens unter uns Male­dic­tolo­gen) dass man dort Wörter die mit der Katolis­chen Liturgie zu tun haben als Schimpfwörter benutzt wie z.B. tabarnac, hostie usw. Inter­es­san­ter­weise ist dem so auch auf Mal­ta, wo man sich auch Wörter aus dem Bedeu­tungs­feld „Geschlechtsverkehr“ bedi­ent (“għoxx” = “Fotze”, “żobb” = “Schwanz” usw.), wo aber “l’ost­ja” = “Hostie” oder “l‑Madonna” die beliebtesten Schim­p­wörter sind.

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  4. Kristin Kopf

    @Ona: Das ist ein typ­is­ch­er Zweifels­fall, bei dem es bei­de Optio­nen gibt. (Auch hier.) Gilt auch für andere Sprach­beze­ich­nun­gen auf -isch (Englisch, Franzö­sisch, Finnisch, …).

    Und es gibt noch eine weit­ere Möglichkeit: des Deutschen. Das kommt daher, dass Deutsch vom Adjek­tiv deutsch kommt. Sub­stan­tivierte Adjek­tive behal­ten oft ihr adjek­tivis­ches Dek­li­na­tionsver­hal­ten bei, d.h.

    (1) der Beschluss des deutschen Bun­destags (Adjek­tiv)
    (2) der Gebrauch des Deutschen (Sub­stan­tiv)

    Der ganze Kom­plex wird z.B. im Gram­matik-Duden (8. Auflage) in §473 thematisiert.

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