Sprachliche Erziehungsprobleme

Von Anatol Stefanowitsch

Wer seinen Kindern vor dem Ein­schlafen vor­li­est, weiß, wie schw­er es ist, gute Kinder- und Jugend­büch­er zu find­en (vor allem, wenn man nicht noch eine Geschichte über ein Pferd lesen möchte, das vor dem Abdeck­er gerettet wer­den muss). Und wer irgen­deinen Beruf außer Loko­mo­tivführer oder Märchen­prinzessin (oder Abdeck­er) ausübt, weiß, wie schw­er es ist, seinen Kindern zu erk­lären, wom­it man eigentlich sein Geld verdient.

Als ich vor eini­gen Monat­en auf eine Rezen­sion von Elis­a­beth Zöll­ners Jugen­dro­man „Ich knall ihr eine! Emma wehrt sich“ (2001, Thiene­mann; Neuau­flage 2005, Omnibus) stieß, dachte ich, dass ich vielle­icht bei­de Prob­leme auf ein­mal lösen könnte.

Gut, eigentlich dachte ich das nicht — die Geschichte von Emma und Eva und Gewalt in der Schule kam mir gle­ich arg sch­ablo­nen­haft vor. Aber: Emmas Mut­ter ist Sprach­forscherin! Lin­guis­ten kom­men in Roma­nen ver­gle­ich­sweise sel­ten vor, und so wit­terte ich meine Chance, mit dem abendlichen Vor­lesen auch Ein­sicht­en über meinen Beruf zu vermitteln.

Also habe ich mir das Buch bestellt, und über Ostern hat­te ich endlich Zeit, es mir genauer anzuse­hen. Das war eine ziem­liche Ent­täuschung: die Geschichte ist schwach und die Fig­ur der Mut­ter gibt aus sprach­wis­senschaftlich­er Per­spek­tive nicht allzu­viel her. Glück­licher­weise kommt sie in der Geschichte so gut wie gar nicht vor; hier ist die gesamte Pas­sage, in der von ihrem Beruf erzählt wird:

Emmas Papa, Karl-Chris­t­ian Grün­schn­abel, ist Pro­fes­sor. Und ihre Mama, Hen­ri­ette Küh­ne­mu­nd, ist Sprach­forscherin. Emma nen­nt sie meis­tens die Hen­ri­et­ten­ma­ma. Die Hen­ri­et­ten­ma­ma schreibt auch Gedichte, wun­der­schöne Gedichte, aber auch solche, die Emma nicht versteht. […]

(Das ganze Buch ist übri­gens in diesem Stil gehalten).

Hen­ri­et­ten­ma­ma unter­sucht zurzeit Kinder- und Jugend­sprache. Also sollte sie ja eigentlich wis­sen, wie man in Emmas Alter spricht. Trotz­dem kriegt sie immer einen Riesen­schreck, wenn Emma mal ein biss­chen cool­er redet. Alle anderen dür­fen das, nur Emma nicht. Bloß nicht.

Aber Emma“, sagt sie dann.

[…]

So eine Sprache. Dabei ist Emma erst in der Vor­pu­bertät!“, meint Hen­ri­et­ten­ma­ma heute beim Früh­stück zu Karl-Chris­t­ian, ihrem dauernd Zeitung lesenden Mann.

Und vor lauter Aufre­gung nimmt Hen­ri­et­ten­ma­ma ihre Pud­erquaste aus dem Handtäschchen und pud­ert sich die roten Fleck­en weg, die sie immer bekommt, wenn Emma so spricht. Dann zieht sie ihre Lip­pen mit dem Lip­pen­s­tift nach. (S. 17–19)

Eine Sprach­forscherin mit sehr präskrip­tiv­en Vorstel­lun­gen, was das sprach­liche Ver­hal­ten ihrer Tochter bet­rifft. Dabei lassen ihre eige­nen Tis­chmanieren einiges zu wün­schen übrig, wenn sie sich tat­säch­lich am Früh­stück­stisch pud­ert und schminkt. Außer­dem muss sie ein außergewöhn­lich dünnes Ner­venkostüm haben, wenn man sich ein­mal ansieht, welche Wörter es sind, die das Nach­schminken nötig machen: „Echt, ey, voll geil, ey, total krass“ (S. 30). Alles Wörter, die ich an gut­ge­laun­ten Tagen sog­ar in Vor­lesun­gen ver­wen­den würde (aber Bre­men ist natür­lich auch keine Eliteuni)…

Trotz allem kann einen die Hen­ri­et­ten­ma­ma zum Nach­denken anre­gen: Sprach­wis­senschaftler und andere Men­schen, die sich pro­fes­sionell mit Sprache beschäfti­gen, haben in der Ausübung ihres Berufes nor­maler­weise ein rel­a­tiv abgek­lärtes Ver­hält­nis zu Sprache in allen ihren Erschei­n­ungs­for­men. Sie wis­sen, dass es keine „schlim­men Wörter“, keine „schlampige Aussprache“ und keine „schlechte Gram­matik“ gibt, son­dern dass es rel­a­tiv beliebige gesellschaftliche Regeln dafür gibt, welche Wörter, laut­lichen Aus­drucks­for­men und gram­ma­tis­chen Struk­turen in welchen Sit­u­a­tio­nen als akzept­abel gel­ten. Aber auch wenn das beliebige Regeln sind, haben sie als Eltern eine gewisse Verpflich­tung, ihren Kindern diese Regeln zu ver­mit­teln — eben­so, wie sie ihnen die beliebige Regel ver­mit­teln, dass die linke Hand beim Essen auf den Tisch gehört (in Deutsch­land — in anderen Län­dern, etwa in Großbri­tan­nien und den USA, gehört sie unter den Tisch).

Aber wie macht man das, ohne seinem eige­nen Sprachver­ständ­nis untreu zu wer­den? Ich wurde vor eini­gen Jahren unvor­bere­it­et mit diesem Prob­lem kon­fron­tiert als ich meinem Brud­er von ein­er „voll geilen Idee“ für ein Forschung­spro­jekt erzählte und meine vier­jährige Tochter sich mit der Beobach­tung ein­mis­chte: „Du Papa, geil ist ein hässlich­es Wort“ (noch ein­mal her­zlichen Dank dafür an den Kinder­garten, der es merk­würdi­ger­weise nie geschafft hat, ihr das­selbe ästhetis­che Empfind­en auch unaufgeräumten Kinderz­im­mern gegenüber zu vermitteln).

Was sollte ich tun? Sollte ich ihr Recht geben um die Autorität der Kindergärt­ner­in nicht zu unter­graben und um meine Tochter davor zu bewahren, das Wort geil wom­öglich ein­mal unangemessen zu ver­wen­den? Oder sollte ich ehrlich sein und ihr sagen, dass es keine schö­nen oder hässlichen Wörter gibt son­dern nur solche, mit denen man aus­drück­en kann, was man ger­ade denkt?

Ich habe mich dann für die Wahrheit entsch­ieden, allerd­ings für die ganze Wahrheit: „Geil ist genau­so schön oder hässlich, wie jedes andere Wort. Aber es gibt sehr viele Men­schen, die das Wort nicht mögen und die einen für grob und dumm hal­ten, wenn man es benutzt“.

Diese Erk­lärung hat mein­er Tochter sofort ein­geleuchtet und so habe ich sie seit­dem häu­fig ver­wen­det, wenn es um tabuisierte Wörter oder Tis­chmanieren ging. Aber meis­tens freue ich mich zu sehr über die sprach­lichen Äußerun­gen mein­er Kinder, Nef­fen und Nicht­en, um spracherzieherisch tätig zu wer­den. Und solange sie die linke Hand beim Essen nicht im Essen haben, ist mir eigentlich auch egal, ob sie auf oder unter dem Tisch liegt.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

Ein Gedanke zu „Sprachliche Erziehungsprobleme

  1. Franziska

    Danke, Ana­tol, der Text hat mir sehr gut gefall­en. Schon wegen der Pud­erquaste. Und wegen der Erken­nt­nis bei mir: Wir kön­nen unsere Kinder sowieso kaum sprach­lich erziehen. Die reden näm­lich dreis­ter­weise so, wie sie es von uns hören.

    Unser Sohn wird daher lei­der von manchen Schulka­m­er­aden hier in Berlin Neukölln nicht ver­standen. Und das vielle­icht nur, weil ihm abends vorge­le­sen wird?

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