Sonntagabendliche Betrachtungen

Von Anatol Stefanowitsch

Beim Zap­pen habe ich ger­ade im „Quiz-Taxi“ auf Sat.1Kabel Eins fol­gende Frage mitbekommen:

Wie lautet das Palin­drom von Lager?

Da den Quizteil­nehmer der Begriff Palin­drom nicht bekan­nt war, kon­nten sie die Frage nicht beant­worten. Eigentlich kön­nte man sich darüber stre­it­en, ob die Frage richtig gestellt war. Denn ein Palin­drom ist ein Wort, das vor­wärts und rück­wärts gele­sen einen Sinn ergibt, Lager ist also ein Palin­drom, denn rück­wärts gele­sen ergibt es das Wort Regal, das somit eben­falls ein Palin­drom ist und natür­lich die gesuchte Antwort war. Aber ob man sagen kann, dass Regal das Palin­drom „von“ Lager ist, weiß ich nicht genau.

Mir geht es eigentlich auch um etwas anderes. Während die Kan­di­dat­en über­legt haben, habe ich ver­sucht, soviele Ana­gramme des Wortes Lager zu find­en, wie möglich — also Wörter, die sich aus den sel­ben Buch­staben zusam­menset­zen. Dabei ist mir neben Regal — noch erlag (von erliegen) und Grale (als Plur­al von Gral) einge­fall­en.

Und dann habe ich mich gefragt, ob das Wort Gral tat­säch­lich eine Plu­ral­form hat, denn eigentlich kann es davon ja nur max­i­mal einen geben. Der Wahrig sieht das auch so:

Gral m. 1 nur Sg., in der mit­te­lal­terl. Sage und Dich­tung: Stein oder Schale mit Wun­derkraft; der Heilige Gral

Ander­er­seits muss es ja möglich sein, über mehrere davon zu reden, zum Beispiel, wenn es mehrere poten­zielle Kan­di­dat­en gibt (wie z.B. in Indi­ana Jones und der let­zte Kreuz­zug).

Deshalb habe ich auf Yahoo nach heilige/r/n Grale/n gesucht und tat­säch­lich 98 Tre­f­fer erhal­ten. Das ist zwar wenig, wenn man bedenkt, dass die Sin­gu­lar­form es auf 186 000 Tre­f­fer bringt, aber es ist doch genug um zu sagen, dass die Plu­ral­form existiert.

Allerd­ings befind­en die Autoren der betr­e­f­fend­en Seit­en und ich uns in der Min­der­heit, wenn wir die Plu­ral­form Grale wählen: denn die andere mögliche Form, Gräle, bringt es auf 145 Tre­f­fer.

Es gibt also nicht nur eine, son­dern sog­ar zwei Plu­ral­for­men von Gral.

Und als ich das her­aus­ge­fun­den hat­te, hat­te ich natür­lich den Anfang der Sendung ver­passt, die ich mir eigentlich anse­hen wollte. Und so hat­te ich Zeit, diese Ein­sicht von zweifel­hafter Rel­e­vanz mit Ihnen zu teilen.

[Update (21:29): Mein Brud­er weist mich ger­ade darauf hin, dass das „Quiz Taxi“ auf Kabel Eins läuft. Na dann.] 

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

6 Gedanken zu „Sonntagabendliche Betrachtungen

  1. Wolfgang Hömig-Groß

    Sehr sym­pa­thisch, dieses Gedanken­mäan­dern, das an den nichtig­sten Anlässen begin­nt und mit unvorherse­hbaren Reflex­io­nen endet — mach ich auch gern, speziell beim Fernse­hen. Doch eines scheint mir bei am Punkt Grale und Indi­ana Jones falsch zu sein: Der Plur­al ist auch hier nicht erlaubt, denn es sind ja lauter Gefäße, die alle nur den einen einzi­gen Gral darunter tar­nen sollen. Es kann nur einen geben, sozusagen. Und den Plur­al “Gräle” krieg’ ich irgend­wie nicht aus der Tas­tatur, oder wenn, dann nur in Anführungszeichen …

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  2. Anatol Stefanowitsch

    Herr Hömig-Groß, es gibt unter den Gefäßen zwar nur einen echt­en Gral, aber es müsste doch eine sprach­liche Form geben, mit der man so etwas aus­drück­en kann, wie „Welch­er dieser ange­blichen [Gral-Plur­al] ist denn nun der echte?“ Außer­dem wird das Wort Gral häu­fig metapho­risch ver­wen­det („Der heilige Gral der the­o­retis­chen Physik…“). Und da spricht dann nichts gegen eine Mehrzahl („Ein­er der heili­gen [Gral-Plur­al] der the­o­retis­chen Physik..“). Eine Plu­ral­form muss also drin­gend her. Und ich stimme Ihnen zu, dass das keines­falls Gräle sein darf, auch wenn das derzeit die Mehrheit zu sein scheint.

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  3. Jens

    Wieso denn keines­falls Gräle? Es heißt doch auch Pfahl – Pfäh­le und Saal – Säle. Umlau­tung ist erlaubt, aber natür­lich nicht zwin­gend nötig, wie Wal und Aal zeigen.

    Noch eine Idee: Warum eigentlich nicht Grals? Es heißt immer­hin auch Schals

    (Ich habe bewußt nur Maskuli­na genom­men und die Zahl ausgelassen.)

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  4. Wolfgang Hömig-Groß

    Nun, Herr Ste­fanow­itsch, musste ich doch nach­se­hen. Der Ety­molo­giedu­den gibt für Gral (nicht als einzige Lesart) die Herkun­ft vom alt­franzö­sis­chen “graal” an. Dann wären die hun­dert­tausende Inter­net­be­nutzer klüger gewe­sen als wir, denn wie heißt der Plur­al z.B. von Saal? Säle!;-)

    Das ist natür­lich eine zu bil­lige Analo­gie. Ich mache einen ety­mol­o­gisch halb­wegs gestützten Gegen­vorschlag: Gröle. Den das Wort grölen kommt auch von Gral (i.e.: Geräuschkulisse der Ritter).

    Und nicht zulet­zt eine Anmerkung zum metapho­rischen Gebrauch: Das ist natür­lich gut beobachtet, aber mein sprach­lich­es Feinge­fühl ver­lässt mich zu früh: Kön­nte es nicht sein, dass auch der metapho­rische heilige Gral ger­ade dann herange­zo­gen wird, wenn es gilt, einzi­gar­tige Bedeu­tung auszudrücken?

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  5. Anatol Stefanowitsch

    Nach weit­er­er Über­legung stellt sich die Frage nach der „richti­gen“ (oder bess­er: „besten“) Plu­ral­form als sehr viel kom­plex­er dar als anfänglich ver­mutet. Da eine Ver­wen­dung des Wortes Gral im Plur­al extrem sel­ten ist, ist anzunehmen, dass die meis­ten Sprech­er, die diese Form ver­wen­den, sie vorher nie gehört haben und so auch nicht ler­nen kon­nten. Sie müssen sie also nach ein­er all­ge­meinen Regel oder in Analo­gie zu vorhan­de­nen For­men bilden. Mit der all­ge­meinen Regel ist es bei der Plu­ral­bil­dung nicht so ein­fach, es gibt eine Rei­he von mehr oder weniger sys­tem­a­tis­chen Regeln. Wenn Gral ein Fem­i­ninum wäre, wäre die Plu­ral­form vorherse­hbar. Bei den vier fem­i­ni­nen Sub­stan­tiv­en auf [a:l], die ich einem Reimwörter­buch gefun­den habe (Moral, Qual, Wahl, Zahl), wird der Plur­al immer auf -en gebildet. Bei Neu­tra ist es beina­he genau­so ein­fach: Von dreiundzwanzig Neu­tra auf [a:l] wird bei 19 der Plur­al auf -e gebildet (Are­al, Arse­nal, Fanal, Ide­al, Jour­nal, Kap­i­tal, Lokal, Mahl, Mal, Ped­al, Por­tal, Poten­zial, Quar­tal, Rit­u­al, Scheusal, Schick­sal, Sig­nal, Tri­bunal, Wirrsal), obwohl bei zweien davon alter­na­tive For­men möglich sind (Kap­i­talKap­i­taleKap­i­tal­ien, MahlMahleMäh­ler). Von den übri­gen zwei Wörtern haben zwei einen Plur­al mit Umlaut (Spi­talSpitäler, TalTäler), eins hat einen Plur­al auf -ien (Mate­r­i­al) und eins ist unzählbar (Per­son­al). Auch hier wäre der Fall also ziem­lich klar.

    Aber lei­der ist Gral ein Maskulinum, und da gibt es vier mögliche Plu­ral­for­men: das -e und den Plur­al mit Umlaut, den Plur­al mit S den Jens erwäh­nt, und den Plur­al auf -en. Die let­zten bei­den kom­men nur je ein­mal vor (SchalSchals) und (StrahlStrahlen), bei den anderen bei­den ste­ht es 8:6 für den Plur­al auf -e (Aal, Gemahl, Kral, Opal, Pokal, Skan­dal, Vokal, Wal gegen Admi­ral, Dieb­stahl, Gen­er­al, Kanal, Pfahl, Saal). Außer­dem erlaubt ein Wort (Stahl) alter­na­tiv bei­de For­men. Wenn man streng nach der am weitesten ver­bre­it­eten Plu­ral­form geht, würde also der Plur­al auf -e knapp gewin­nen. Allerd­ings sind die Wörter, die diese Form wählen, deut­lich sel­tener als die, die den Umlaut wählen. Im LIMAS-Kor­pus (einem eine Mil­lion Wörter großen Kor­pus deutsch­er Schrift­sprache) kom­men die e‑Wörter ins­ge­samt 21 Mal vor, davon nur vier­mal im Plur­al. Die Umlaut-Wörter kom­men dage­gen 147 Mal vor, davon 54 Mal im Plur­al. Wenn man nach Gebrauchshäu­figkeit geht, müsste also der Umlaut-Plur­al gewinnen.

    Und die Mehrheit der Inter­net­nutzer scheint sich von dieser Gebrauchshäu­figkeit leit­en zu lassen. Warum haben Herr Hömig-Groß und ich dann so eine starke Reak­tion gegen die Form Gräle? Ich glaube, das liegt daran, dass es sich um eine unregelmäßige Form han­delt, eine Art his­torisches Überbleib­sel, während die Form auf -e eine der all­ge­meinen Regeln zur Plu­ral­bil­dung im Deutschen darstellt (das sieht man ja auch an den Neu­tra). In ein­er kleinen Umfrage unter Fre­un­den und Ver­wandten waren dann auch sechs von sieben für die Form auf -e, eine wählte Grals (die war allerd­ings erst sieben Jahre alt und hat die Plu­ral­bil­dung vielle­icht noch nicht voll inter­nal­isiert). Aber ob diese Form deswe­gen wirk­lich „bess­er“ ist, kann man wohl nicht entscheiden.

    Zur metapho­rischen Ver­wen­dung: ich denke auch, dass ein heiliger Gral auch im über­tra­ge­nen Sinne etwas einzi­gar­tiges sein muss. Allerd­ings gibt es hier, anders als bei der wörtlichen Ver­wen­dung keine ein­deutige Def­i­n­i­tion für diese Einzi­gar­tigkeit — drei ver­schiedene Physik­er kön­nten drei völ­lig ver­schiedene Dinge für den „heili­gen Gral der Physik“ hal­ten — das wären dann eben drei „heilige Gräle der Physik“.

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  6. David Marjanović

    Die (von mir nicht geteilte) Aver­sion gegen Gräle kön­nte eine all­ge­meinere Abnei­gung dage­gen sein, Fremd­wörter einem gram­matikalis­chen Umlaut zu unterziehen. Das kön­nte auch der Grund sein, wieso ich IIRC eben­so häu­fig Gen­erale wie Gen­eräle lese, obwohl mir ersteres richtig wehtut.

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