Circeln

Von Anatol Stefanowitsch

Der Anglizis­mus-des-Jahres-Wet­tbe­werb 2011 ist zu Ende, auf der Seite des Siegerwortes find­et sich nun auch eine Auswahl aus den sehr zahlre­ichen Press­es­tim­men. Aber bevor die Schlussglocke läutet und wir uns dem Lehngut des laufend­en Jahres zuwen­den kön­nen, muss ich noch etwas über das drittplatzierte circeln schreiben. Denn während das erst­platzierte Shit­storm trotz seines ska­tol­o­gis­chen Naturells (auf das ich näch­ste Woche noch ein­mal in einem ganz anderen Zusam­men­hang zurück­kom­men werde) mit Aus­nahme einiger beson­ders empfind­lich­er See­len auf Zus­tim­mung gestoßen ist, und das zweit­platzierte Stresstest durch seine Ausze­ich­nung zum Wort des Jahres sowieso staat­stra­gende Würde ausstrahlt, hat die Wahl von circeln auf den drit­ten Platz punk­tuell Über­raschung aus­gelöst und im Pub­likum­swet­tbe­werb ist es nur knapp an einem Abstiegsplatz vor­beigeschrammt.

So schreibt z.B. Bernd Matthies auf Tagesspiegel.de:

Sehr viel strit­tiger ist zweifel­los das drittplazierte Wort, das sich­er nicht nur bei mir erst ein­mal ein „Häh?“ aus­gelöst hat. „Circeln“ erschließt sich nur jenen, die sich mit dem sozialen Net­zw­erk Google plus ausken­nen und wis­sen, dass man damit ein­er Kon­tak­tliste hinzuge­fügt wird – das Äquiv­a­lent zum Befre­un­den bei Face­book. Es hat sich­er eine eigen­ständi­ge Bedeu­tung neben dem deutschen, anders kon­notierten „Einkreisen“, aber ob es auch eine Zukun­ft hat?

Und damit trifft er einen Punkt, den auch die Jury öffentlich und intern disku­tiert hat: die Frage nach der aktuellen und zu erwartenden Ver­bre­itung. Susanne kon­nte in ihrer aus­führlichen Darstel­lung des Wortes vor der Abstim­mung zwar zeigen, dass das Verb nicht ger­ade sel­ten ist (son­st wäre es auch gar nicht in die Endrunde gekom­men), aber es ist klar, dass deut­lich häu­figere Wörter im Ren­nen waren. Es ist auch klar, dass circeln derzeit noch auss­chließlich auf das soziale Net­zw­erk Google Plus beschränkt ist und schon auf­grund der rel­a­tiv gese­hen (noch) gerin­gen Ver­bre­itung des Net­zw­erks in der Sprachge­mein­schaft ins­ge­samt sich­er noch eher unbekannt.

Dass es sich trotz­dem so hoch platzieren kon­nte, hat zwei konkrete, und zwei etwas dif­fusere Gründe.

Erstens war es von allen Nominierun­gen diejenige, die am offen­sichtlich­sten aus dem Jahr 2011 stammt. Damit rang­ierte es mit Bezug auf das Kri­teri­um der Aktu­al­ität unange­focht­en auf Platz 1. Und zwis­chen den Kri­te­rien „Aktu­al­ität“ und „Ver­bre­itung“ ein natür­lich­es Span­nungs­feld beste­ht, muss man bei einem Verb, das ger­ade erst ein halbes Jahr alt ist, bezüglich der Ver­bre­itung „fair bleiben“, wie schon Susanne ange­merkt hat.

Zweit­ens gefiel uns der Wettstre­it, den es sich aktuell mit der deutschen Alter­na­tive einkreisen liefert (einen Wettstre­it, auf den ich schon im Juli 2011 auf — wo son­st — Google Plus hingewiesen und von dem ich — vor­eilig — vorherge­sagt habe, dass circeln ihn bis zur Anglizis­men­wahl für sich entschei­den würde). Die Tat­sache, dass sich circeln tapfer hält, obwohl der Konkur­rent einkreisen (nach groben Schätzun­gen) etwa zehn Mal so häu­fig ist, deutete (und deutet) für die Jury auf ein möglich­es bedeu­tungs­d­if­feren­zieren­des Poten­zial hin.

Drit­tens, und da wird es dif­fuser, sind wir als Sprachwissenschaftler/innen aus Grün­den ganz vers­essen auf Ver­ben, während wir Sub­stan­tive nur so lala find­en. Und bei den Ver­ben herrschte dies­mal unter den Nominierun­gen eine gewisse Flaute, durch die circeln vielle­icht etwas heller geleuchtet hat, als es son­st der Fall gewe­sen wäre.

Und viertens, und völ­lig dif­fus, hiel­ten wir es unbe­wusst vielle­icht für aus­gle­ichende Gerechtigkeit, dass circeln eine Chance erhal­ten sollte, nach­dem im let­zten Jahr das Face­book-bezo­gene ent­frien­den unter den Top 3 gelandet war. Ob es ein Omen ist, dass im Falle von Face­book das ent­fer­nen, im Falle von Google Plus aber das hinzufü­gen von Kon­tak­ten ist, das ein hoch­platziertes Wort her­vorge­bracht hat, will ich dahingestellt sein lassen…

Warten wir also ab, wie das Verb sich entwick­elt. Google Deutsch­land war auf Nach­frage opti­mistisch und teilte mir (in Per­son des Press­esprech­ers Ste­fan Keuchel) mit, dass man sich über die gute Platzierung freue und sie für ein Zeichen halte, dass Google+ in Deutsch­land auf einem guten Weg sei. Und diesen Opti­mis­mus teile ich zumin­d­est aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht. Google Plus wird nicht so bald ver­schwinden, und da die Kreise dort ein Unter­schei­dungsmerk­mal zu anderen Net­zw­erken sind, wird sich auch ein Wort für das Ver­wen­den dieser Kreise durch­set­zen. Und ich bin nach wie vor überzeugt, dass circeln dabei wenig­stens eine Neben­vari­ante bleiben wird, da einkreisen ver­mut­lich nicht nur für mich nach Cow­boys und Kuh­her­den klingt.

Immer­hin hat Google der deutschen Sprache schon ein Verb beschert — googeln, das sich in der All­t­agssprache längst als gener­isches Wort für „im Inter­net suchen“ durchge­set­zt hat — zur großen Sorge von Google selb­st, das seinen Marken­na­men schützen will (und muss, wenn es ihn nicht ver­lieren will). Beim Verb circeln gibt es keinen solchen Kon­flikt zwis­chen All­t­agssprache und Marken­schutz: Nach Aus­sage von Ste­fan Keuchel erhebt Google „keinen Anspruch darauf, dass jemand dieses Wort nur für Google+ benutzt.“

Google hat übri­gens noch ein weit­eres Verb im Ren­nen um die Erweiterung des deutschen Wortschatzes: plussen. Ob uns dieses Verb im näch­sten Wet­tbe­werb wieder begeg­net? Oder wird es bis dahin ein ganz neues Net­zw­erk mit Funk­tio­nen und Wörtern geben, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen kön­nen? Oder wird zur Abwech­slung sog­ar ein Wort aus der Offline-Welt das Ren­nen machen?

 

Full Dis­clo­sure: Es beste­hen und bestanden kein­er­lei kom­merzielle Ver­flech­tun­gen oder per­sön­lichen Kon­tak­te zwis­chen Google und Mit­gliedern der Jury. Der Anglizis­mus-des-Jahres-Wet­tbe­werb stützt sich aber inten­siv auf diverse Werkzeuge, die durch Google bere­it­gestellt wer­den (z.B. Google Insights, Google Books und Google News). Ich per­sön­lich mache keinen Hehl daraus, dass ich Google liebe und manch­mal has­se; es waren aber zwei andere Jury-Mit­glieder, die circeln in die Endrunde und auf einen der vorderen Plätze kat­a­pul­tiert haben.

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

6 Gedanken zu „Circeln

  1. Dierk

    Trans­paren­cy Bloginational
    Echt, man kann es mit Dis­clo­sures und Dis­claimers auch übertreiben …

  2. impala

    Was heißt plussen denn? Ich bin bish­er Face­book treu geblieben und bin daher mit dem Google+-Jargon nicht son­der­lich vertraut.

  3. Opa Hans

    Wieso ist plussen ein Anglizis­mus? “Plus” ist doch (auch) deutsch (oder halt Latein) und plussen das Verb daraus.

  4. impala

    Hängt wohl davon ab, wie man es ausspricht. Ich hätte es intu­itiv Deutsch aus­ge­sprochen, aber ich kön­nte mir vorstellen, dass es auch Leute gibt, die es Englisch aussprechen.

  5. MCBuhl

    plussen
    …meint irgend­was zu liken. Nur halt bei Google, nicht bei Facebook.
    Dass es aber plussen heißt ist mMn noch nicht entsch­ieden! Eigentlich weiß doch noch kein­er so ganz recht, wie die Aktion, auf den “+1” Knopf zu drück­en nun heißen soll. Oder bin ich da abgehängt?
    Aber wenn, dann schon mit u, nicht mit a ausgesprpchen.

  6. impala

    Ah! Ich hat­te mich schon gefragt, wie man +1 wohl in Worten sagt. Ich habe deinen Sta­tus geplusst klingt zwar im Ver­gle­ich zu gelikt sehr gewöh­nungs­bedürftig, aber immer­hin bess­er als geplu­se­inst.

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