Die Pflicht in der Sprache

Von Susanne Flach

Am Mon­tag berichteten wir eher grundle­gende Schwächen der Green­field-Studie („Das Ego in der Sprache“), heute kom­men wir in Lek­tion 2 kurz zu Bedeu­tungs- und Funk­tion­swan­del. Das wollte ich in etwas ander­er Form eigentlich lexikalisch an Kindern illus­tri­eren, ich fand die syn­tak­tis­che Pflicht aber erhellender.

Das erste Begriff­s­paar, an dem Green­field den Werte­wan­del illus­tri­ert, ist oblige(d) und choose. Dass choose nicht sig­nifikant fre­quenter gewor­den ist, macht Green­fields Argu­ment eigentlich schon auf der quan­ti­ta­tiv­en Ebene kaputt genug. Um oblige habe ich mich gar nicht geküm­mert, obwohl mir bei ein­er flüchti­gen Suche aufge­fall­en war, dass es ungewöhn­lich häu­fig als Par­tizip auftritt, für die Peri­ode 1810–1830er näm­lich in fast 82%. ((Andere, willkür­lich aus­gewählte Ver­ben für 1810er-1830er (COHA): asked 38%, made 46%, loved 26%, col­lect­ed 31%, promised 57%, forced 53%)) Das ist ein deut­lich­es Zeichen dafür, dass es nicht wie „nor­male“ andere Ver­ben ver­wen­det wird. Zumin­d­est sollte man mal genauer hinsehen.

oblige mutet heute meist etwas antiquiert an und heißt etwa soviel wie ‚verpflicht­en, verpflichtet sein‘ oder ‚zwin­gen, gezwun­gen sein/werden‘, aber auch ‚einen Gefall­en tun, ein­er Bitte nachkom­men‘ und ‚dankbar sein‘:

Indeed, when Bernard Bergonzi com­plains of the uni­for­mi­ty of the nov­els he is oblig­ed as a review­er to read, he gives as a sam­ple sit­u­a­tion a sce­nario that could well be based on The Lan­guages of Love: [BNC G1N 14]

That oblig­ed him to have every­thing fin­ished ear­li­er. [BNC HXG 762]

Indi­an artists were oblig­ed, or forced, to aban­don their own forms of rep­re­sen­ta­tion and learn the Euro­pean way. [BNC A6U]

The Board oblig­ed and, in fact, dis­missed the porter. [BNC CMG 499]

I’d be awful­ly oblig­ed if you would. [G12 461]

Aber war das damals auch schon so? Das mit der Bedeu­tung ist für 1810 dif­fizil­er, was aber sofort auf­fällt: Anfang des 19. Jahrhun­derts gibt es eigentlich auss­chließlich Ver­wen­dung des Musters oblige to, und davon in über­wälti­gen­der Mehrheit in der Form be oblig­ed to:

At the approach of win­ter I was oblig­ed to get some new clothes. [COHA, 1812]

The dis­tance which many of the rep­re­sen­ta­tives will be oblig­ed to trav­el, and the arrange­ments ren­dered nec­es­sary by that cir­cum­stance, might be much more seri­ous objec­tions with fit men to this ser­vice, if lim­it­ed to a sin­gle year, than if extend­ed to two years. [COHA, 1817]

Wieviel Zwang da dahin­ter ste­ht und in welch­er Inten­sität, ist nicht so ein­fach auszu­machen. Aber bei be oblig­ed to klin­geln sofort alle Modalde­tek­toren. Das ist seman­tisch natür­lich nicht ver­wun­der­lich, weil es um Verpflich­tung geht, wie bei „richti­gen“ Modalver­ben (z.B. should, must). Es gibt im Englis­chen noch eine Hand­voll soge­nan­nte Qua­si- oder Halb­modale, die eben­falls Oblig­a­tion aus­drück­en und be oblig­ed to nicht unähn­lich sind: be sup­posed to, need to und have to. ((Weit­ere Beispiele für ähn­liche Aus­drücke nach dem Muster be X to: be going tobe about to, be to, be able to.)) Die meis­ten Ver­wen­dun­gen in COHA für die 1810er haben in etwa die Bedeu­tun­gen der heuti­gen Halb­modale have to und need to.

Wenn oblig­ed also so drama­tisch sinkt, dann sinkt logis­cher­weise auch der modal­w­er­tige Aus­druck be oblig­ed to. Und dann? Dann das:

oblige_alternatives_1810-2000

Um 1800 sind diese rein for­mal ähn­lich häu­fig, ((Suchan­fra­gen: [be] oblig­ed to, [be] sup­posed to, [need].[v*] to, [have].[v*] to, ohne Zwis­chen­ma­te­r­i­al)) wobei nicht gesagt ist, dass be sup­posed to und need to bere­its über­wiegend modalen Charak­ter haben (ver­mut­lich nur have to). Dann explodiert zuerst have to, später fol­gt need to. Für oblig­ed to scheint es in diesem Mix aus alter­na­tiv­en Kon­struk­tio­nen eine Bedeu­tungsver­schiebung, d.h. eine Spezial­isierung zu inten­siverem Zwang zu geben, denn zumin­d­est heute beste­ht zwis­chen I am oblig­ed to go to work und I have to go to work ein deut­lich­er Unter­schied, have to ist genereller ein­set­zbar. Außer­dem scheinen bei oblige(d) als „Vol­lverb“ die spezial­isierten Bedeu­tun­gen und archaisch anmu­tende Wen­dun­gen aus den obi­gen Beispie­len aus dem BNC übrig zu bleiben.

(Die Grafik sollte nicht so inter­pretiert wer­den, dass wir heute modaliger sprechen als früher — für die „core modals“ wie would, should, must, can, could — wird ein Rück­gang ver­mutet, für Semi- und Halb­modale dage­gen eine Zunahme. Man ist sich aber noch nicht so richtig einig [Leech 2011, Mil­lar 2009].)

Es geht also kom­plett an der Entwick­lung vor­bei, for­male und funk­tionale Struk­turen zu ignori­eren; das hat für die Valid­ität von Green­fields Argu­ment deut­liche Fol­gen. Green­field begrün­det die Entschei­dung gegen die Analy­sen von Bi- bzw. Tri­gram­men übri­gens damit, dass mehrteilige Such­muster zu infre­quent wären und damit keine bedeut­same Analyse möglich ist (Green­field 2013: 3). Wobei ich eher glaube, dass ihr die lin­guis­tis­che Rel­e­vanz über­haupt nicht bewusst ist.

Die Geschichte geht ver­mut­lich eher so: sie möchte das Konzept PFLICHT lexikalisch repräsen­tieren. Also wählt sie einen Begriff aus, der einen möglichst starken „Verpflich­tungscharak­ter“ hat (heute das hat oblig­ed) oder lässt sich vom archais­chen Charak­ter eines solchen zumin­d­est bee­in­flussen. Es ist aber ein Verpflich­tungscharak­ter, dessen Form vor 200 Jahren die Funk­tion und Bedeu­tung zu haben schien, die heute have to oder need to weit­ge­hend über­nom­men haben. Von weniger in der Sprache kodiert­er Pflicht würde ich da nicht so vor­eilig sprechen wollen.

Literatur

Green­field, Patri­cia. 2013. The chang­ing psy­chol­o­gy of cul­ture from 1800 through 2000. Psy­cho­log­i­cal Sci­ence, 7 August 2013 (ahead of print). DOI: 10.1177/0956797613479387

Leech, Geof­frey. 2011. The modals ARE declin­ing. Reply to Neil Millar’s “Modal verbs in TIME: Fre­quen­cy changes 1923–2006”, Inter­na­tion­al Jour­nal of Cor­pus Lin­guis­tics 14:2 (2009), 191–220. Inter­na­tion­al Jour­nal of Cor­pus Lin­guis­tics 16(4). 547–654.

Mil­lar, Neil. 2009. Modal verbs in TIME: Fre­quen­cy changes 1923–2006. Inter­na­tion­al Jour­nal of Cor­pus Lin­guis­tics 14(2). 191–220. doi:10.1075/ijcl.14.2.03mil.

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