Ein Fall für alle Fälle

Von Anatol Stefanowitsch

Manch­mal find­en wohlmeinende Men­schen, als Lin­guist in einem anglis­tisch-amerikanis­tis­chen Stu­di­en­gang sollte ich auch ein wenig über die Klas­sik­er der amerikanis­chen Lit­er­atur wis­sen und schenken mir dann „gute“ Büch­er, die den „Schund“, den ich son­st lese, wenig­stens ergänzen sollen (über den Vor­wurf mit dem „Schund“ schreibe ich ein andermal).

So erhielt ich zu meinem let­zten Geburt­stag den jüng­sten Roman des US-amerikanis­chen Schrift­stellers John Irv­ing, Until I Find You (dt. „Bis ich dich finde“). Nun bin ich nicht der größte Irv­ing-Fan der Welt — die sich ständig wieder­holen­den Motor­räder, Pros­ti­tu­ierten und Zirkus­bären kön­nen einem irgend­wann ziem­lich auf die Ner­ven gehen. Trotz­dem wollte ich es, um der lieben Per­son willen, die mir das Buch geschenkt hat, mal wieder ver­suchen. Ich weiß, ehrlich gesagt, noch nicht, ob ich es durch­halte, denn nach einem inter­es­san­ten Anfang (unter Tätowierungskün­stlern) ist die Hand­lung schnell wieder bei den alt­bekan­nten Huren im Ams­ter­damer Rotlichtvier­tel ange­langt, die schon in Wid­ow for One Year (dt. „Witwe für ein Jahr“) wenig zur Geschichte beige­tra­gen haben.

Aber es geht ja gar nicht darum, John Irv­ings Moti­vauswahl zu kri­tisieren, son­dern um einen sprach­wis­senschaftlich inter­es­san­ten Absatz, über den ich beim Lesen gestolpert bin:

Rade­mak­er liked Dylan, too. He called Dylan by his real name, which he always said in the Ger­man way — as it would turn out, incorrectly.

    “Shall we lis­ten again to der Zim­mer­mann?” Tat­too Theo would say, wink­ing at Jack, who was in charge of play­ing the old albums. (In Ger­man, one lis­tens to den Zimmermann.)

Zunächst war für mich klar, dass Irv­ing hier natür­lich Unrecht hat: mein­er Mei­n­ung nach, one lis­tens to dem Zim­mer­mann in Ger­man, denn lis­ten to bedeutet „zuhören“, und zuhören erfordert ein Dativob­jekt (Wem hören wir zu? Dem Zim­mer­mann). Dann wurde mir klar, dass die Sache kom­pliziert­er ist: im Deutschen spricht man über das Musikhören nicht mit Sätzen wie „Ich höre ger­ade Bob Dylan zu“, son­dern man sagt „Ich höre ger­ade Bob Dylan“. Hören erfordert aber tat­säch­lich den Akkusativ (Wen/was hörst du? Den Zim­mer­ann). Irv­ing stand also vor dem Prob­lem, ob er den Kasus zuweist, den die Über­set­zung des englis­chen Verbs lis­ten erfordern würde, oder den, den das üblicher­weise ver­wen­dete Verb hören verlangt.

Bei­de Möglichkeit­en scheinen mir gle­icher­maßen logisch. Trotz­dem hat die zitierte Pas­sage meinen Lese­fluss ins Stock­en gebracht, irgen­det­was hakt an Irv­ings Lösung also.

Das Prob­lem ist näm­lich noch viel kom­plex­er: obwohl das Deutsche und das Englis­che vor tausend Jahren struk­turell noch weit­ge­hend iden­tisch waren, hat sich das in der Zwis­chen­zeit so drastisch geän­dert, dass die Kasussys­teme der bei­den Sprachen sich nicht mehr aufeinan­der abbilden lassen: das Englis­che hat zwei Fälle, die man in der englis­chen Gram­matik „Sub­jec­tive Case“ und „Objec­tive Case“ nen­nt, da ein­er eben das Sub­jekt markiert, während der andere für alles andere ver­wen­det wird (We [sub­jec­tive] heard him [objec­tive], We lis­tened to him, We enjoyed him). Im Deutschen gibt es vier Fälle, die nach dem Vor­bild des Lateinis­chen „Nom­i­na­tiv“, „Akkusativ“, „Dativ“ und „Gen­i­tiv“ genan­nt wer­den. Der Nom­i­na­tiv markiert Sub­jek­te, die anderen drei Fälle markieren alles andere (Wir [Nom­i­na­tiv] hörten ihn [Akkusativ], Wir hörten ihm [Dativ] zu, Wir erfreuten uns sein­er [Gen­i­tiv]). Der englis­che Objec­tive Case, der im Englis­chen alle Satzglieder außer dem Sub­jekt markiert, entspricht also, je nach­dem, mit welchem Verb wir es im Deutschen zu tun haben, dem Akkusativ, dem Dativ oder dem Genitiv.

Wenn wir die Sprachen nun mis­chen, so wie es Tat­too Theo in Irv­ings Roman macht, stellt sich also die Frage, ob wir über­haupt ver­suchen soll­ten, den „richti­gen“ Kasus zu wählen — das Englis­che hil­ft uns hier nicht weit­er und die deutsche Über­set­zung des englis­chen Satzes kann auch nicht als Mod­ell her­hal­ten, ohne hake­lige Sätze zu produzieren.

Wir kön­nen also eben­sogut über­haupt keinen Kasus zuweisen. Dann müssen wir die soge­nan­nte „Zitat­form“ ver­wen­den, die Form also, die wir in einem Wörter­buch erwarten wür­den. Das ist im Deutschen die Nom­i­na­tiv­form (in einem Wörter­buch würde ste­hen: „Mann, der“ nicht „Mann, den“ oder „Mann, dem“). Der Nom­i­na­tiv ist also die „Grund­form“, die immer dann zum Ein­satz kommt, wenn kein Kasus zugewiesen wer­den kann. Das scheint bei Tatoo Theos Ver­wen­dung der Fall zu sein und deshalb ist seine For­mulierung Shall we lis­ten to der Zim­mer­mann aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht eine gute Wahl.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

4 Gedanken zu „Ein Fall für alle Fälle

  1. Sandra Zammert

    Sie schreiben „das Englis­che hat zwei Fälle“, aber hat es nicht auch einen Gen­i­tiv, also drei Fälle?

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  2. Anatol Stefanowitsch

    Frau Zam­mert, das ist eine berechtigte Frage. Das, was im Englis­chen als „Gen­i­tiv“ beze­ich­net wird, mag sich aus dem altenglis­chen Gen­i­tiv entwick­elt haben (obwohl selb­st darüber Zweifel beste­ht), aber es kann aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht nicht (mehr) als Kasus betra­chtet werden.

    Dafür gibt es eine Rei­he von Grün­den, von denen einige sehr the­o­rieab­hängig sind. Ein Grund, der sofort ein­leuchtet, ist jedoch der: Kasus ist eine Kat­e­gorie, die sich auf Sub­stan­tive bezieht — Fälle wer­den duch ein Suf­fix an dem Sub­stan­tiv markiert, dass den Kasus trägt. Das englis­chen „Genitiv“-s ist aber kein solch­es Suf­fix, denn es hängt nicht an dem eigentlich markierten Sub­stan­tiv. Bei ein­fachen Beispie­len merkt man das nicht: Jane’s broth­er oder my neigbor’s car sehen so aus, als ob das ’s an den Sub­stan­tiv­en Jane und neigh­bor hinge. Bei kom­plex­eren Beispie­len sieht es aber ganz anders aus: wenn Jane eine Schwest­er Jill hat, kann ich von Jane and Jill’s broth­er sprechen — das ’s bezieht sich dann nicht nur auf Jill son­dern auf die Phrase Jane and Jill (im Deutschen müssten bei­de Sub­stan­tive mit dem Gen­i­tiv markiert sein: Janes und Jills Brud­er). Es kommt noch toller: statt my neighbor’s car kann ich auch the peo­ple who live next door’s car sagen. Das ’s sieht hier so aus, als ob es an door hängt, aber das wäre natür­lich unsin­nig, denn das Auto gehört nicht der Tür, son­dern den Men­schen hin­ter dieser Tür. Es bezieht sich also auf den „Kopf“ der Phrase the peo­ple who live next door (der Kopf ein­er Phrase ist das Hauptele­ment, also das­jenige Wort, das durch die anderen Bestandteile der Phrase mod­i­fiziert wird).

    Die Regel ist also, dass das ’s an der Nom­i­nalphrase hängt, deren Kopf das Sub­stan­tiv ist, auf das es sich bezieht. So etwas kann ein Suf­fix nicht und da Kasus in den indoeu­ropäis­chen Sprachen (wo vorhan­den) als Suf­fix auftritt, kann ’s kein Kasus sein. Klingt komisch, ist aber so…

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  3. buntklicker.de

    Du gehst hier davon aus, daß “hören” nicht die kor­rek­te Über­set­zung für “to lis­ten” ist. Das aber scheint mir sehr zweifel­haft (um nicht zu sagen: falsch) zu sein. “to lis­ten to the radio” heißt “Radio hören” (mit Akkusativ!). Im konkreten Fall mit dem Zim­mer­mann mag es richtig sein, “zuhören” als einzig kor­rek­te Über­set­zung auszu­rufen, aber diese Erken­nt­nis kann man von einem Nicht­mut­ter­sprach­ler unmöglich fordern. 🙂

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  4. Anatol Stefanowitsch

    Bun­tk­lick­er, ich gehe keineswegs davon aus, dass hören nicht die kor­rek­te Über­set­zung von lis­ten to ist. Im Gegenteil:

    Dann wurde mir klar, dass die Sache kom­pliziert­er ist: im Deutschen spricht man über das Musikhören nicht mit Sätzen wie „Ich höre ger­ade Bob Dylan zu“, son­dern man sagt „Ich höre ger­ade Bob Dylan“. Hören erfordert aber tat­säch­lich den Akkusativ (Wen/was hörst du? Den Zimmerann).

    Es ging mir ger­ade darum, dass für Irv­ing das Prob­lem darin bestand, zwis­chen zwei Über­set­zun­gen von lis­ten to zu wählen: ein­er wort­ge­treuen und ein­er, die den Kon­text berücksichtigt.

    Nun aber zu dem eigentlich inter­es­san­ten Punkt: „…aber diese Erken­nt­nis kann man von einem Nicht­mut­ter­sprach­ler unmöglich fordern“. Ist das so? Wenn Irv­ing sich schon die Mühe macht, eine sein­er Fig­uren eine deutsche Nom­i­nalphrase ver­wen­den zu lassen und wenn er dann die Wahl des Kasus auch noch expliz­it the­ma­tisiert, kann man dann nicht fordern, dass er die Sache sorgfältig durch­denkt und vielle­icht mit jeman­dem bespricht, der sich damit ausken­nt? Da er mit der Motiv­suche ja nicht so viel Zeit ver­bringt, müsste das doch drin sein (ver­flixt, und ich hat­te mir fest vorgenom­men, Irv­ings lit­er­arische Qual­itäten nicht mehr in Frage zu stellen… Um das wieder gut zu machen: ich finde, „Owen Meany“ ist ein Meis­ter­w­erk! Wirklich!).

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