Zum Jahreswechsel habe ich in vielen Internetmedien die folgende dpa-Meldung gefunden (zum Beispiel hier):
Hamburg (dpa) — Der Wunsch „Guten Rutsch!“ hat nichts mit Glatteis zu tun Der Silvester-Gruß „Guten Rutsch!“ leitet sich nach Ansicht vieler Sprachforscher vom hebräischen Wort für Neujahr ab: Rosch Haschana (Kopf/Anfang des Jahres).
Auf Jiddisch wird aus „Rosch“ ein „Rutsch“ — und das ist eines von vielen Wörtern, die wie „malochen“, „meschugge“, „Stuss“ oder „Zoff“ aus dem Jiddischen ins Deutsche eingeflossen sind. Mit einem „guten Rutsch“ wünscht man also einen „guten Anfang“.
Manche Wissenschaftler leiten den Silvesterwunsch allerdings auch vom Gebrauch des Wortes „Rutsch“ für „Reise“ ab.
Zunächst ein kurzer fachlicher Haftungsausschluss: ich bin kein historischer Sprachwissenschaftler, und selbst wenn ich einer wäre, würde ich mich nicht mit der Herkunft von Redewendungen beschäftigen. Die historische Sprachwissenschaft bietet viele sehr viel interessantere und vor allem wichtigere Forschungsfragen. Mit anderen Worten, ich weiß nicht, woher die Redewendung wirklich kommt und ich wüsste auch nicht, wie man das ernsthaft herausfinden wollte.
Trotzdem kann man intelligent spekulieren. Die Pressemeldung nennt ja zwei Hypothesen, die ich hier noch einmal zitiere:
- „Der Silvester-Gruß „Guten Rutsch!“ leitet sich nach Ansicht vieler Sprachforscher vom hebräischen Wort für Neujahr ab: Rosch Haschana“.
- „Manche Wissenschaftler leiten den Silvesterwunsch allerdings auch vom Gebrauch des Wortes „Rutsch“ für „Reise“ ab“.
Der Artikel nennt keine Quellen für diese Hypothesen — hey, ist ja nur Sprache, da kann doch sowieso jeder behaupten, was er will — aber er suggeriert, dass die erste Hypothese die Mehrheitsmeinung ist („viele Sprachforscher“), während die zweite eine Arn Minderheitsvotum darstellt („manche Wissenschaftler“).
Aber was spricht denn für die erste Hypothese?
Damit sie überhaupt stimmen kann, müssen wir zunächst nachweisen, dass das Wort Rutsch in Guten Rutsch plausiblerweise von dem Wort Rosch („Kopf“) abgeleitet sein könnte. Eine gewisse lautliche Ähnlichkeit besteht ja, und bei Lehnwörtern, die für die Sprecher einer Sprache nicht motiviert erscheinen, findet häufig ein Prozess statt, den man „Volksetymologie“ nennt, und der das unmotivierte Wort durch ein motiviertes ersetzt (so wurde z.B. aus althochdeutsch muwerf („Hügelwerfer“) das heutige Maulwurf, nachdem das Wort mu, und damit die Motivation für das Wort muwerf, aus der Sprache verschwunden war). Auf der lautlichen Seite wäre eine Entlehnung also plausibel.
Aber auf der semantischen Seite sieht es schlecht aus. Wie sollte das hebräische Wort für „Kopf“ in einen deutschen Neujahrsgruß kommen? Das ginge nur, wenn es einen hebräischen Neujahrsgruß gäbe, in dem dieses Wort vorkäme: dieser Gruß könnte als Ganzes entlehnt und danach durch Volksetymologie neu analysiert worden sein. Und hier bricht die Hypothese zusammen: wenn man der Wikipedia glauben darf (und das darf man im Allgemeinen), dann gibt
es weder im Hebräischen noch im Jiddischen eine Grußformel […], die dieses „Rosch“ beinhaltet (etwa „Guten Rosch ha-Schana“ o.ä.); die gängige Formel lautet: „Schana tova“ (=Hebr.) oder „a gut yor“ (=Jidd.). [de.wikipedia.org]
Lautliche und semantische Ähnlichkeiten zwischen Wörtern unterschiedlicher Sprachen kann man beliebig viele finden, aber solange man den konkreten Entlehnungsprozess nicht nachweisen kann, gibt es auch keinen Grund, von einer Entlehnung auszugehen. Und dieser Prozess hätte in diesem Fall über eine solche Redewendung laufen müssen.
Wie sieht es mit der zweiten Hypothese aus?
Damit sie plausibel ist, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: wir müssen nachweisen, dass Rutsch tatsächlich „Reise“ bedeutet (oder bedeutet hat), und wir müssen plausibel machen, dass Sprecher des Deutschen den Jahreswechsel als „Reise“ betrachten könnten.
Die Bedeutungsverwandtschaft lässt sich durch einen Blick in ein etymologisches Wörterbuch bestätigen: das Duden Herkunftswörterbuch nennt als Bedeutungen „Gleiten, Sturz, kleine Reise“, und auch das monumentale Deutsche Wörterbuch der Gebrüder Grimm merkt zu Rutsch an, dass es „in derber übertragung für reise“ stehen kann.
Dass Sprecher des Deutschen den Jahreswechsel als Reise betrachten, lässt sich ebenfalls zeigen: ein alternativer Neujahrswunsch ist ja z.B. Kommt gut ins neue Jahr, in dem das Verb kommen den zeitlichen Übergang als räumliche Bewegung darstellt. Auch das Wort Übergang, das ich gerade verwendet habe, bezieht sich ja eigentlich auf räumliche Bewegung. Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass wir im Deutschen (und in vielen anderen Sprachen) über zeitliche Beziehungen und Abläufe mit räumlichen Begriffen sprechen (z.B. eine lange Zeit; die Sommerferien liegen in weiter Ferne; die Sommerferien kommen schneller, als man denkt; und natürlich „Der Tag geht, Johnny Walker kommt“). Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass eine Redewendung, die eigentlich „gute Reise“ bedeutet, auf einen glücklichen Wechsel in ein neues Kalenderjahr angewendet wird.
Wie gesagt, ich weiß nicht, welche der beiden Erklärungen die richtige ist, aber wenn ich wetten müsste, würde ich mein Geld auf die zweite Hypothese setzen. Auf jeden Fall wünsche ich allen Leserinnen und Lesern des Bremer Sprachblogs ein erfolgreiches neues Jahr.
Wieder ein bisschen was dazu gelernt: herzlichen Dank dafür und für die vielen spannenden Beiträge hier und ich hoffe, Sie sind gut gerutscht!
Das fängt ja gut an, das neue Jahr! Diesen Beitrag finde ich typisch für das, was ich an diesem Blog liebe: selbst da, wo die strenge Wissenschaft nicht gefragt sein kann, die “Wissenschaft des Alltags” anzuwenden. Und nicht einfach den ganzen Scheiß wegzuglauben, den einem andere vor die Nase stellen. Nur weiter so also!
Und noch eine inhaltliche Anmerkung: Die Kollegen von der Presse haben einen stringenten Beweis (zumindest nach ihrem Verständnis von Beweisführung) für die zweite Lesart unterdrückt; das Kinderlied in dem es heißt: Ri, ra, rutsch, wir fahren mit der Kutsch. Erstaunlich eigentlich, dass dieser Beweis nicht in der Presse erwähnt wurde!
Ein (eher frommer) Radioessayist hat vorgestern folgenden Einstieg gewählt (dem Sinn nach): Die meisten Menschen wünschen sich “einen guten Rutsch” und denken dabei profanerweise nur an den Übergang ins neue Jahr … Während in Wirklichkeit … Und schon fühlt man sich wieder ertappt.
Das Kuriose am (Laien-)Etymologisieren ist, dass im Früheren das verschüttete Wahre und die höhere Einsicht gesucht werden, dass es aber meist an der Konsequenz fehlt, den Weg bis zum Anfang zurückzugehen: irgendwo in Afrika vor langer Zeit …
(Der Anfang des großen Menschheitsrutsches — kann man das jetzt so sagen? Und dem Bremer Sprachblog(ger) wünscht man alles Gute fürs neue Jahr.)
Den Verdacht, daß Rutsch im Sprachgebrauch eine “kleine Reise” bezeichnet, kann ich bestätigen. So ist z.B. im schwäbischen Sprachraum folgende Redewendung durchaus gebräuchlich: “Jemand ist auf der Rutsch.” Also im Sinne von: einige Tage unterwegs sein.
Wer sich im württembergischen Schwaben genau umhört wird solche Phrasen des öfteren hören.
Ja, (Volks-)Etymologie ist ein nettes Thema für Cocktail-Partys 😉
Macht sich im Gespräch immer gut wenn man weiß wo solche Begriffe wie “Fisimatenten”, “Hängematte”, “Armbrust” etc. pp. eigentlich herkommen…
Das Rutsch-Problem zeigt vor allem, dass man Wikipedia eben nicht so einfach glauben darf. Denn der dortige Eintrag zum “Guten Rutsch” ist offensichtlich die einzige Quelle, auf die sich die dpa-Meldung stützte. Da man ja nicht weiß, wie sie der Wikipedia-Text noch verändern wird, hier komplett die aktuelle Fassung:
“Der Silvestergruß Guten Rutsch ist etymologisch möglicherweise eine Ableitung aus dem Jiddischen, bzw. Bibel-Hebräischen und leitet sich vom hebräischen ראש השנה טוב Rosch ha-Schana tov (= einen guten Anfang – wörtlich Kopf – des Jahres; also etwa: „Gutes Neujahr“) ab.
Ob dieser Ausdruck tatsächlich aus dem Jiddischen stammt, ist allerdings umstritten, da es weder im Hebräischen noch im Jiddischen eine Grußformel gibt, die dieses „Rosch“ beinhaltet (etwa „Guten Rosch ha-Schana“ o.ä.); die gängige Formel lautet: „Schana tova“ (=Hebr.) oder „a gut yor“ (=Jidd.).
Andere Auffassungen (Lutz Röhrich im Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten; Heinz Küpper im Wörterbuch der Alltagssprache) leiten den Silvestergruß vom Gebrauch des Wortes „Rutsch“ für „Reise“ ab.”
Zitat Ende.
Der erste Absatz liefert also eine durch nichts, schon gar nicht durch eine Quelle belegte Behauptung, der zweite deren mutmaßliche Widerlegung, und der dritte die wesentlich plausiblere, und mit Quellen versehene, Deutung. Dass dpa sowohl den zweiten Absatz als auch diese Quellen bei der Übernahme weggelassen hat, deutet auf vorhandenes Unrechtsbewusstsein hin, womit die Grenze von fahrlässiger zu vorsätzlicher Verbreitung von Dummheit überschritten wurde.
P.S.: In meinem Blog habe ich kürzlich s aktuellem Anlass vorgeschlagen, für die Weiterverbreitung von Falschinformationen den Begriff “Bügelbrett” zu gebrauchen.
http://taz.de/blogs/wortistik/2007/12/26/buegelbrett/
dpa hätte sich demnach eindeutig ein Bügelbrett verdient.
„Der Röhrich“ (also das Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten von Lutz Röhrich) liefert noch eine weitere, recht einfache Erklärung: „zugrunde liegt die Vorstellung des langsamen, fast unmerklichen Hinübergleitens (seit 1900). Verkürzend sagt man auch: ‚Komm gut rüber!‘“
Finde ich gut nachvollziehbar.
Wenn der Januar sich schon vom lat. “Ianus” (Torbogen, Durchgang Gang), ableitet und für den Jahresanfang steht, weshalb sollte sich dann nicht auch von “Rosch”, das laut wiki / dpa für Kopf steht, ein guter Jahresbeginn ableiten lassen?
Ri-Ra-Rutsch, wir fahren mit der Kutsch… ist vielleicht nicht nur dem Reim geschuldet?
Natürlich lässt sich von einem Wort, das für Kopf steht, auch ein Neujahrsgruß ableiten. Die Frage ist nur, ob das so war, oder ob das nur so behauptet wird. Belegte Vermutungen für die Herkunft des Rutsches vom Gleiten gibt es offenbar mehrere. Aber welcher Übeltäter hat uns als erster eingeredet, dass der gute Rutsch aus dem Hebräischen kommt? Die älteste Quelle, die ich online gefunden habe, ist der hier allseits geschätzte Bastian Sick, der schon vor vier Jahren wusste: “Der viel beschworene “Rutsch” leitet sich vom hebräischen Wort für Neujahr ab.”
http://www.spiegel.de/kultur/zwiebelfisch/0,1518,280021,00.html
Eine Quelle gibt Sick für diese Erkenntnis leider nicht an.
Ein weiterer Journalisten-Kollege, Peter Köhler, hat in seinem Buch “Basar der Bildungslücken” (C.H. Beck, 2000) ebenfalls ohne Quellenangabe berichtet, der gute Rutsch “käme nicht zustande ohne das hebräische rosch”.
Da sich Journalisten solche Sachen normalerweise nicht ausdenken, sondern irgendwo abschreiben, gibt es vermutlich eine vor dem Jahr 2000 zu verortende Quelle für den rosch-Rutsch. Sachdienliche Hinweise?
@polyphem: war natürlich nur ein Scherz von mir …
Wie las ich vor Jahrzehnten auf einem Wartehäuschen: Miff, maff, muff, wir gehn jetzt in den Zoo!
K. Heitmann, bei den Monatsnamen gibt es keine Frage: wir haben sie zusammen mit dem Kalender aus dem lateinischen übernommen (und dann hier und da ein bisschen angepasst). Dass sie im Lateinischen teilweise durch Metaphern motiviert sind (Torbogen -> Januar), wäre nur logisch. Es spricht ja auch nichts dagegen, das Wort Kopf für die Bedeutung „Anfang“ zu verwenden, wie es das Hebräische tut. Aber damit das als Motivation für Guten Rutsch herhalten kann, müsste es zunächst eine entsprechende Redewendung im Hebräischen geben, über die das Wort rosch in dieser Bedeutung ins Deutsche gelangen könnte. Eine solche Redewendung scheint es aber nicht zu geben und damit muss man diese Etymologie zunächst ins Reich der Fabel verweisen (das kann sich natürlich ändern, wenn es jemandem gelingt, bisher nicht bekannte Belege für eine solche Redewendung zu finden). Hinzu kommt, wie Herr Gürtler richtig sagt, dass für die Rosch-Theorie nie eine Quelle genannt wird, während alle tatsächlich vorliegenden Quellen von der Reise-Theorie ausgehen. Ohne für eine übermäßige Authoritätsgläubigkeit plädieren zu wollen, denke ich, dass es bei einer sprachwissenschaftlichen Meinungsverschiedenheit zwischen Feuilletonisten (Sick/Köhler) auf der einen und Sprachwissenschaftlern (Röhrig/Küpper) auf der anderen Seite sinnvoll sein könnte, den Sprachwissenschaftlern zu glauben.
@ Wolfgang Hömig-Groß. Ihren obigen Eintrag hatte ich vorher gar nicht gelesen. Durch einen Link, den Detlef Guertler auf taz-Wortistik gesetzt hatte, war ich hierher gekommen und habe dann meinen Gedanken mitgeteilt.
Wenn nun das zitierte Kinderlied wie eine bekannte Eisenbahn aus dem Schwäbischen kommt, so ist die Rutsch als Reise immer noch lustig, der Ursprung für den “Guten Rutsch” wird aber wahrscheinlicher. Gegen jiddischen Ursprung spricht, dass “Rosch” mit dem deutschen “Guten” kombiniert sein soll. Das bezweifle ich. Bei anderen Übernahmen, wie z.B “Massel toff” wird nicht gemischt.
Der Klassiker der historischen Sprachforschung, Grimms “Deutsches Wörterbuch” bestätigt eher die Reise-These. Dort heißt es: “in derber übertragung für reise” mit dem Beispiel “glücklichen rutsch”. Außerdem: “auch verallgemeinert und zeitlich für momentum: es got e rutsch, es geht einen schritt vorwärts”. Die Rosch-These ist dort unbekannt.
Diese findet sich u.a. in Dudens 10-bändigem “Großen Wörterbuch der deutschen Sprache” (1994) und in Olschansky, “Täuschende Wörter” (1999), beidemale aber ohne Belege (wobei Olschansky umfangreiche allgemeine Literaturhinweise bietet, in denen man evtl. fündig werden könnte). Olschansky spricht von deutschen Juden, die sich einen “guten Rosch” gewünscht hätten, der Duden von “rotwelsch”. Ich würde sagen: Match noch nicht definitiv entschieden, aber Vorteil für die Reise-These.
Warum nicht in jüdischen Quellen nachschauen? Z.B. http://jewish-online.de/Was_Jidd.html
“Im jiddischen sagte man als Wunsch für das kommende Jahr: „a gutn Rosch“, was soviel bedeutet wie „guten Anfang“, dem Rosh Hashanah (ראש השנה) wörtlich: „Kopf bzw. Haupt des Jahres“ dem jüdischen Neujahr. Rosh (ראש)hebräisch der Kopf, der Beginn des Jahres.… Aus dem „Rosch“ wurde dann der „gute Rutsch“.”
Heike Olschansky schreibt in “Täuschende Wörter. Kleines Lexikon der Volksetymologien” (Reclam, 2004): “Die deutschen Juden wünschten sich zu Neujahr einen guten Rosch, der volksetymologisch zum Rutsch wurde.” Sie verweist zum Beleg auf “Lauter böhmische Dörfer. Wie die Wörter zu ihrer Bedeutung kamen” von Christoph Gutknecht (S. 116; München 1995). Ob dort aber haltbare Argumente für diese Theorie gebracht werden, kann ich nicht sagen.