Frei von der Lippe

Von Anatol Stefanowitsch

Ich muss arbeit­en und werde es mir nicht anse­hen kön­nen, aber der MDR will den Markt für medi­ale Sprach­nörgelei wohl nicht dem WDR und Bas­t­ian Sick über­lassen und strahlt heute abend die Sendung „Frei von der Lippe“ aus, in der Jür­gen von der Lippe „den Schwierigkeit­en der deutschen Sprache auf der Spur“ sein wird.

Ob sie wirk­lich Sprach­nörgelei bekom­men wer­den, ist allerd­ings zweifel­haft, denn von der Lippe hat Sick etwas voraus: er hat tat­säch­lich mal Lin­guis­tik studiert (wenn auch ohne Abschluss). In einem Inter­view auf der Web­seite des MDR äußert er sich entsprechend dann auch unaufgeregt und rel­a­tiv fachkundig.

Ein paar Aus­set­zer sind dabei, wie etwa dieser hier:

Viele Leute ver­wen­den auch Anglizis­men falsch. “Pub­lic View­ing” heißt beispiel­sweise nicht „Liveüber­tra­gung von Sportver­anstal­tun­gen auf Groß­bild­wän­den“ son­dern „öffentliche Auf­bahrung eines Toten“. Und der „Body Bag“, den man als Umhänge­tasche in Bil­liglä­den kaufen kann, heißt eigentlich „Leichen­sack“. [MDR]

Dazu muss ich nichts mehr sagen, denn die Leser/innen des Bre­mer Sprach­blogs wis­sen das ohne­hin bess­er.

Aber ins­ge­samt war ich pos­i­tiv über­rascht über von der Lippes Aus­sagen. Er weigert sich, Sprach­pro­duk­tions­fehler oder Sprach­wan­del­prozesse als Vor­boten ein­er sprach­lichen Apoka­lypse zu deuten, er scheint wirk­lich zu ver­ste­hen, dass soziale und regionale Vari­a­tion nor­mal sind, er will noch nicht ein­mal grund­sät­zlich über Anglizis­men meckern:

Es ist gut möglich, dass sich Englisch in Europa auf­grund der Glob­al­isierung in der Zukun­ft durch­set­zt, denn die Geschäftssprache ist halt Englisch. Aber auch das ist kein neues Phänomen. Die Musik­sprache vor ein paar Jahrhun­derten zu Mozarts Zeit­en war Ital­ienisch. Es gab auch eine Zeit, da wurde in Deutsch­land Latein gesprochen, zu Luthers Zeit­en war das die Amtssprache. Die deutsche Sprache ist sowieso ein Gemisch und man sagt, dass das, was in einem Land gesprochen wird, 20 Gen­er­a­tio­nen später nicht mehr ver­ständlich ist. Mit­tel- und althochdeutsche Texte ver­ste­hen wir ja auch nur noch mit Mühe. [MDR]

Ob es wirk­lich infor­ma­tiv wird, ist schw­er zu sagen. Aber wenig­stens scheint es eher um Spaß an der Sprache zu gehen als um Schaden­freude gegenüber sprach­lich ver­meintlich Minderbemittelten.

MDR

Fr., 31.10.2008, 19:00 Uhr

Frei von der Lippe

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

20 Gedanken zu „Frei von der Lippe

  1. Achim

    Klingt ja ganz plau­si­bel, nur das mit der Amtssprache zu Luthers Zeit­en haut nicht hin. Dann hätte Luther, getreu sein­er Devise, “nach der säch­sis­chen Kan­zlei” zu schreiben, sich den Mühen ein­er Über­set­zung gar nicht unterziehen müssen 🙂

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  2. Thomas Paulwitz

    Guten Mor­gen, Herr Ste­fanow­itsch! “Frei von der Lippe” gibt es bere­its seit dem 1. Jan­u­ar 2008, die MDR-Rei­he startete also etwa ein halbes Jahr vor Sicks erstem Fernse­hauftritt. Ich per­sön­lich halte die Von-der-Lippe-Fol­gen für wesentlich frisch­er und lebendi­ger als Sicks Pro­gramm, sie sind wohl auch aufwendi­ger pro­duziert. Die Wart­burg als Drehort halte ich für einen Glücksgriff.

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  3. AndreasK

    Neben dem abgekupfer­ten For­mat des WDR bedi­ent man sich beim MDR also auch noch beim Namen unseres schö­nen Flusses. Also, sowas unver­frorenes aber auch, phhh .…

    😉

    Ander­er­seits: Man munkelt, Sick habe sich bei der Pro­duk­tion sein­er Werke auch nicht immer auf seine eigene Geis­tesleis­tung ver­lassen. Insofern nehme ich diesen Tre­f­fer auf der Suche nach Fut­ter für’s Heimat­blog zum Anlass, Euch in meine Feed­samm­lung aufzunehmen. Qua­si als nordisch-west­fälis­che Völkerverständigung!

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  4. Jan Wohlgemuth

    Ich fürchte ja, dass die Sendung, wenn sie lin­guis­tisch akzept­abel und inter­es­sant wird, aus dem Pro­gramm genom­men wird, weil sie eben zu wenig “Main­stream­nörgel” ist.

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  5. Jan

    Bzgl. des “body bags” warte ich allerd­ings immer noch auf den ersten Fall, bei dem der ver­link­te “britis­che Design­er” (http://www.google.de/search?hl=en&q=%22body+bag%22+site:leathershop.co.uk&start=10&sa=N) tat­säch­lich einen “body bag” und nicht einen “across body bag” bewirbt. Aber “Beweis durch Behaup­tung” ist ja nur dann ein Prob­lem, wenn er von den ver­meintlichen “Sprach­nör­glern” ver­wen­det wird. Oder es muss dem­nächst heißen: “I love your across body.”

    A pro­pos: Mir ist auch unklar, wie die Ein­leitung “[…] der MDR will den Markt für medi­ale Sprach­nörgelei wohl nicht dem WDR und Bas­t­ian Sick über­lassen […]” mit der späteren Aus­sage “Aber ins­ge­samt war ich pos­i­tiv über­rascht über von der Lippes Aus­sagen.” zusam­men­passt. Aber warum auch ein geliebtes Feind­bild nicht bedi­enen, wenn es sich noch irgend­wie in einem konkreten Fall her­beireden läßt?

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  6. Anatol Stefanowitsch

    Lang­weiliger Troll (#5):

    http://www.timberlandonline.co.uk/Timberland-Stratham-Up-Shoulder-Body-Bag/M1384,default,pd.html?cgid=women_accessories&color=

    http://www.grattan.co.uk/Firetrap-Body-Bag/productdisplay.stm?An=673&A=55W781_&N=4294963589+4294967165cm_sp%3DChristmasShop08-_-hero-_-GiftsforHer&Au=P_MasterItem&Nu=P_MasterItem&Ns=P_Colour|0||P_Size|0

    http://www.thehempshop.co.uk/product-62.htm

    http://adams.co.uk/boys-small-body-bag-in-black

    http://www.travel-zone.co.uk/webshaper/store/viewCat.asp?catID=116

    Google ist dein Freund.

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  7. Patrick Schulz

    Hm, ich dachte immer, “de Hietsch” (ohne orthographis­che Zwänge 😉 ) sei ein Lex­em des Erzge­bir­gis­chen und im Säch­sis­chen gar nicht so bekan­nt… Da ich glück­licher­weise ohne Fernse­her lebe, mal eine Frage: Weiß jemand, ob die Sendung als Stream im Inter­net über­tra­gen oder nachträglich irgend­wo als pod­cast zu bekom­men sein wird?

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  8. Jan

    @A.S., #6

    Ja, diese Links sind jet­zt überzeugend. 

    Im ursprünglichen Artikel, auf den Sie heute auch wieder ver­wiesen haben, ver­linken Sie aber nur auf leathershop.co.uk, die — soweit ich sehen kann — ohne Aus­nahme nicht von “body bag”, son­dern nur von “across body bag” redet. Da dies der einzige Beleg in dem Artikel sein soll, dass “body bag” auch eine entsprechende Tasche sein kann, und dieser Beleg kein­er ist (und auch schon damals kein­er war), han­delte es sich um einen “Beweis durch Behaup­tung”. Und dann ist, mit Ver­laub, nicht “Google mein Fre­und”, also es meine Schuld zu ver­suchen, Ihre Behaup­tung zu bele­gen. Meine “Auf­gabe” wäre höch­stens gewe­sen, schon bei dem dama­li­gen Artikel die fehlen­den Belege zu bemän­geln — wenn nicht zu dem Zeit­punkt, zu dem ich das auch getan hätte, schon die Kom­men­tar­funk­tion geschlossen gewe­sen wäre.

    Jet­zt haben Sie die Belege nachgeliefert, das ist gut. Damit haben Sie Ihren vorheri­gen Fehler kor­rigiert. Danke. Das beant­wortet den ersten Teil meines let­zten Postings. 

    Es wäre aber nett, wenn Sie mir den zweit­en Teil noch beant­worten kön­nten: Wieso gehen Sie davon aus, dass der MDR mit ein­er Sendung über Sprache, die von jeman­dem mod­eriert wird, dessen Ansicht­en Sie in guten Teilen für vertret­bar hal­ten, “Sprach­nörgelei” betreiben will? Welchen konkreten Anhalt­punkt gibt es dafür? Oder han­delt es sich nur um einen Anfall von Sprachnörgeleinörgelei?

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  9. Anatol Stefanowitsch

    Herr Müller (#7), Der Google-Smi­ley ist nun verfügbar:

    :google:

    Um ihn in einen Kom­men­tar einzubauen, gibt man :google: ein.

    Herr Paulwitz (#2), vie­len Dank für den Hin­weis. Hier die Web­seite der Sendung, mit Zusam­men­fas­sun­gen der bere­its gesende­ten Fol­gen: http://www.mdr.de/frei-von-der-lippe/

    Herr Schulz (#8), lei­der hat die MDR-Mediathek die alten Fol­gen nicht vorrätig.

    Jan (#9), Googeln müssen Sie natür­lich nicht sel­ber, vor allem, da Sie hier ja sowieso nur stänkern wollen. Aber wenn Sie schon Tex­tex­egese betreiben, soll­ten Sie wenig­stens den Links fol­gen. Dann hät­ten Sie zum Beispiel bemerkt, dass die Fra­gen des Inter­views, aus dem von der Lippes Aus­sagen stam­men, darauf abzie­len, ihn zur Sprach­nörgelei zu bewe­gen. Daraus schließe ich, dass der MDR (der ja die Fra­gen stellt), sich eine sprach­nörgel­nde Sendung gewün­scht hätte. Wenn Sie das anders sehen, starten Sie doch Ihr eigenes Blog und schreiben Sie dort darüber.

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  10. Jan

    @A.S., #10:

    Sie scheinen viel über mich zu wis­sen, wie zum Beispiel, dass ich kein Blog habe, dem Link im Text nicht gefol­gt bin und sowieso nur stänkern will. Alles drei ist falsch, aber ich gehe, um auf den drit­ten Punkt einzuge­hen, davon aus, dass jemand, der andere Men­schen regelmäßig als “Sprach­nör­gler” her­ab­würdigt, auch ein­steck­en kann, ohne gle­ich belei­digt sein zu müssen. Um das an dieser Stelle festzuhal­ten: Ich gehe davon aus, dass die Betra­ch­tungsweisen “Sprache lebt und wir dür­fen sie nur beobacht­en und beschreiben, aber nicht kri­tisieren” wie auch “Sprache ist ein Kul­turgut, das um jeden Preis in ihrer aktuellen Form beschützt wer­den muss und nicht verän­dert wer­den darf” bei­de nicht stim­men, bzw. in ein­er mod­er­ateren Form bei­de Ihre Berech­ti­gung haben, je nach­dem, welchen Blick­winkel man ger­ade ein­nimmt. Daher haben Sie mich z. B. bei den “body bags” mit den neuen Beispie­len tat­säch­lich überzeugt; aber bei Ihrem let­zten Artikel war ich eben dem einen Link gefol­gt und habe mich von den “across body bags” ver­arscht gefühlt. Wie gesagt, danke dass Sie richtige Belege nachgeliefert haben, es wäre aber noch bess­er, wenn Sie mit einem Wort mal sagen wür­den, dass Sie auch sehen, dass Sie bei besagtem Artikel mit dem Beleg einen Fehler gemacht haben. Ich mag hier für meinen Teil etwas zu schroff for­muliert haben und möchte als Ausrede vor­brin­gen, dass ich mich über den ver­meintlichen Beleg zu “(across) body bags” damals ehrlich sehr geärg­ert habe, weil ich mich für dumm verkauft gefühlt habe.

    Um auf den MDR zurück­zukom­men: Danke, dass Sie mir die Frage beant­wortet haben. Ich bin allerd­ings so frei, nicht zu glauben, dass die Mei­n­ung eines Inter­view­ers von ein­er MDR-Fersehnach­mit­tagssendung “hier ab vier” einen Schluß darauf zuläßt, warum “der MDR” (also ja wohl die Pro­gram­mver­ant­wortlichen, die hier ziem­lich sich­er nicht als Inter­view­er tätig sind) die Sendung ins Pro­gramm genom­men hat. Das “der MDR” die Fra­gen so stellt, halte ich für über­in­ter­pretiert (muss aber zur Ken­nt­nis nehmen, dass Sie das offen­sichtlich so sehen).

    Ich halte hier viel für möglich: Dass in der Pro­gramm­pla­nung jemand sitzt, der tat­säch­lich eine Sendung gegen Sprach­wan­del haben möchte (der hätte dann ver­mut­lich etwas falsch gemacht), dass da jemand sitzt, dem das The­ma Sprache am Herzen liegt, der aber lieber jemand so etwas machen lassen will, der Lin­guis­tik wenig­stens ange­fan­gen hat zu studieren, oder aber, dass da jemand das The­ma Sprache bedi­enen will und ihm das The­ma und die Ten­denz der Sendung her­zlich egal ist.

    Für den aktuellen Beitrag war es gar nicht nötig, “dem MDR” genau eine der möglichen Posi­tio­nen zu unter­stellen und aus dem Link läßt sich auch nicht bele­gen, was “der MDR” will. Noch weniger war es notwendig, auf den WDR und Bas­t­ian Sick zu ver­weisen. Natür­lich ist das Ihr Blog und Sie kön­nen hier schreiben, was Sie wollen, klar, und auch Zusam­men­hänge zeigen und pos­tulieren, wie es Ihnen passt. Aber ich halte Ihr Blog für größ­ten­teils sehr lesenswert, ger­ade weil Gegen­po­si­tio­nen zu Sick et al. vertreten wer­den — un ich fände es noch deut­lich lesenswert­er, wenn nicht immer wieder bei Artikeln Verbindun­gen her­beigez­er­rt wür­den, um unmo­tiviert, oder bess­er: semi-motiviert das Wort “Sprach­nör­gler” unter­brin­gen zu können.

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  11. Nörgler

    Das wird ja immer schlim­mer! Jet­zt ist auch noch der MDR von Sprach­nör­glern unter­wan­dert. Wohin man blickt: über­all Sprach­nör­gler. Man muß den Akteuren dieses Blogs wirk­lich dankbar sein, daß sich in diesem schi­er aus­sicht­slosen Kampf gegen die vielköp­fige Hydra so aufopfern.

    Ich empfehle drin­gend, jeden Abend vor dem Schlafenge­hen unters Bett zu schauen. Wom­öglich lauert auch dort ein Sprachnörgler!

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  12. Gregor

    Ach was, nögeln ist lustig, nörgeln über Nör­gler ist noch lustiger und das Nörgeln über Nörgel­ernör­gler ist am aller­lustig­sten. Alle drei For­men des Nörgelns haben ihre Berech­ti­gung, darum will ich hier nicht über sie nör­glen, son­dern sie alle loben.

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  13. Frank Oswalt

    @ Tom S. Fox:

    Nach Deutsch­land einge­wan­derte Amerikan­er Ein nach Deutsch­land einge­wan­dert­er Amerikan­er, der sein Geld damit ver­di­ent, über die komis­chen Deutschen zu schreiben find­ent unsere Ver­wen­dung der Begriffe body bag und pub­lic view­ing aber tat­säch­lich merkwürdig

    Hab es für dich repariert.

    Guckst du hier, siehst du, wie es wirk­lich ist: http://www.iaas.uni-bremen.de/sprachblog/2007/02/16/body-bag-blues/

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