Verstimmzettelt

Von Anatol Stefanowitsch

Ich habe gestern über den Vere­in „Pro Reli“ geschrieben, der in Berlin ver­sucht, per Volk­sentscheid das Pflicht­fach „Ethik“ zu einem Wahlpflicht­fach her­abzustufen und dafür den Reli­gion­sun­ter­richt, der in Berlin aus his­torischen Grün­den frei­willig ist, eben­falls zu einem Wahlpflicht­fach zu machen. Die Berlin­er Schüler/innen, die derzeit im Ethikun­ter­richt nach gemein­samen Werten suchen und sich darüber hin­aus im Reli­gion­sun­ter­richt mit der Reli­gion ihrer Wahl befassen kön­nen, müssten sich dann für einen der bei­den entscheiden.

Der Vere­in „Pro Reli“ ver­schweigt den derzeit­i­gen Stand der Dinge geschickt, und tut auf Plakat­en und Trans­par­enten so, als ob es in der Abstim­mung darum gin­ge, einen Reli­gion­sun­ter­richt über­haupt erst möglich zu machen. Und der Abstim­mung­s­text auf dem Stim­mzettel trägt entschei­dend dazu bei, dieses Missver­ständ­nis bei ober­fläch­lich informierten Wäh­lern zu ver­fes­ti­gen. Er lautet:

Stimmzettel der Initiative Pro Reli

Stim­mzettel der Ini­tia­tive Pro Reli

Abges­timmt wird über den Geset­zen­twurf über die Ein­führung des Wahlpflicht­bere­ichs Ethik/Religion, der im Amts­blatt für Berlin vom 6. März 2009, Seite 570, veröf­fentlicht ist und im Wesentlichen fol­gen­den Inhalt hat:

Ethik‑, Reli­gions- oder Weltan­schau­ung­sun­ter­richt wer­den als gle­ich­berechtigte ordentliche Unter­richts­fäch­er in den öffentlichen Schulen Berlins ange­boten. Jede Schü­lerin und jed­er Schüler an all­ge­mein­bilden­den Schulen muss eines dieser Fäch­er bele­gen. Schü­lerin­nen und Schüler dür­fen — bei einem Alter bis 14 Jahren ihre Eltern — frei wählen, an welchem dieser Fäch­er sie teilnehmen.

Abstim­mungs­frage:

Stim­men Sie diesem Geset­ze­sen­twurf zu? Ja Nein [Der Lan­deswahlleit­er für Berlin]

Da auf dem Stim­mzettel mit keinem Wort erwäh­nt wird, dass sowohl Ethik- als auch Reli­gion­sun­ter­richt bere­its ange­boten wer­den, entste­ht durch den Satz „Abges­timmt wird über den Geset­zen­twurf über die Ein­führung des Wahlpflicht­bere­ichs Ethik/Religion“ natür­lich der Ein­druck, es gäbe derzeit min­destens eins der bei­den Fäch­er nicht (vor allem, da das Wort Wahlpflicht­bere­ich den meis­ten Stimm­berechtigten unbekan­nt sein dürfte). Dass Reli­gion und Ethik nun als „gle­ich­berechtigte ordentliche Unter­richts­fäch­er“ ange­boten wer­den sollen, klingt aus dieser Per­spek­tive so, als ob hier alle etwas hinzugewän­nen, obwohl in Wirk­lichkeit ein großer Teil der Schüler etwas ver­lieren würde (näm­lich eine weltan­schaulich neu­trale Beschäf­ti­gung mit Ethik).

Einige der Leser/innen haben in den Kom­mentaren auf das Prob­lem hingewiesen, dass bei einem Volk­sentscheid immer eine Seite für ein „Nein“ wer­ben muss und damit möglicher­weise von vorne­here­in einen psy­chol­o­gis­chen Nachteil hat. Im Zusam­men­spiel mit dem unklar for­mulierten Text des „Pro-Reli“-Stimmzettels ist das hier sich­er der Fall.

13 Gedanken zu „Verstimmzettelt

  1. Christian S.

    Einige der Leser/innen haben in den Kom­mentaren auf das Prob­lem hingewiesen, dass bei einem Volk­sentscheid immer eine Seite für ein „Nein“ wer­ben muss und damit möglicher­weise von vorne­here­in einen psy­chol­o­gis­chen Nachteil hat. Im Zusam­men­spiel mit dem unklar for­mulierten Text des „Pro-Reli“-Stimmzettels ist das hier sich­er der Fall.

    Kann gut sein. Ich als SPD-Mit­glied und Christ finde es sehr schade, dass sich der Berlin­er Sen­at nicht um eine Kom­pro­miss­lö­sung geküm­mert hat, son­dern vielmehr so eine harte Lin­ie fährt und meinen, einen neuen Kul­turkampf führen zu müssen. Ich würde für Ja stim­men, hätte ich die Möglichkeit dazu.

    Antworten
  2. Jens

    und im Wesentlichen fol­gen­den Inhalt hat” — das ist also eine Zusam­men­fas­sung des Lan­deswahlleit­ers, ja? Das hätte man in der Tat all­ge­mein­ver­ständlich­er for­mulieren können …

    Ich sag nur “Removes the right of same-sex cou­ples to mar­ry” — dage­gen hat es in Kali­fornien übri­gens Kla­gen der Ini­tia­toren von Propo­si­tion 9 gegeben, die allerd­ings abgelehnt wurden.

    Antworten
  3. Anatol Stefanowitsch

    Chris­t­ian (#1), dies ist eine ern­st­ge­meinte Frage: 

    Aktuelle Sit­u­a­tion: Ethik und option­al Religion.

    Pro-Reli“-Antrag: Entwed­er Ethik oder Religion.

    Welche Art von Kom­pro­miss stellen Sie sich zwis­chen diesen Posi­tio­nen vor? Mir fall­en mehrere Alter­na­tivlö­sun­gen ein, aber keine von denen ist ein Kompromiss:

    - Option­al Ethik und option­al Reli­gion (würde am derzeit­i­gen Sta­tus des Reli­gion­sun­ter­richts nichts ändern und wäre nur dann ein Kom­pro­miss, wenn „Pro Reli“ tat­säch­lich zugeben würde, dass sie eigentlich „Anti Ethik“ heißen müssten);

    - Reli­gion und option­al Ethik (wäre deut­lich extremer als der „Pro-Reli“-Antrag);

    - Nur Reli­gion (wäre viel extremer als der „Pro-Reli“-Antrag);

    - Nur Ethik (wäre tat­säch­lich eine „harte Lin­ie“ seit­ens des Senats);

    - Wed­er Ethik noch Reli­gion (wäre ein völ­liges Ver­mei­den ein­er Entschei­dung und vielle­icht noch am ehesten als „Kom­pro­miss“ zu beze­ich­nen, da nie­mand bekommt, was er/sie will).

    Antworten
  4. Nörgler

    Das alles ist — mit Ver­laub — aus­gemachter Quatsch.

    Ich empfehle die Lek­türe des Berlin­er Geset­zes über Volksini­tia­tive, Volks­begehren und Volk­sentscheid. Danach kann Gegen­stand eines Volksbegehrens/Volksentscheids nur der Erlaß eines neuen oder die Änderung oder Aufhe­bung eines beste­hen­den Geset­zes sein. Der Antrag­steller für ein Volksbegehren/Volksentscheid ist verpflichtet, dem Antrag einen aus­gear­beit­eten, mit Grün­den verse­henen Geset­zen­twurf beizufügen.

    Abges­timmt wird somit über den vorgelegten Geset­zen­twurf. Wer zus­timmt, wählt “Ja”, wer nicht zus­timmt, wählt “nein”. So ein­fach ist das, und der Antrag­steller hat darauf kein­er­lei Ein­fluß. In $ 34 (2) des Geset­zes heißt es zudem:

    (2) Die in dem Volk­sentscheid jew­eils zu stel­lende Frage ist

    vom Lan­desab­stim­mungsleit­er oder von der Landesabstimmungsleiterin

    so zu for­mulieren, daß sie mit „Ja“ oder „Nein“

    beant­wortet wer­den kann. Zusätze sind unzulässig.”

    Wer sich über Gründe und Gegen­gründe informieren will, kann das in den “Amtlichen Infor­ma­tio­nen zum Volk­sentscheid” des Lan­desab­stim­mungsleit­ers tun.

    Die Unter­stel­lung, der Antrag­steller für ein Volksbegehren/Volksentscheid könne den Wahlzettel oder die Alter­na­tive Ja/Nein manip­ulieren, ist daher völ­lig abwegig.

    Antworten
  5. Anatol Stefanowitsch

    Nör­gler (#4), ich ver­liere langsam die Geduld mit Ihnen. Welch­er Teil Ihres Kom­men­tars ist ein Beleg für Ihre Behaup­tung, „das alles“ sei „aus­gemachter Quatsch“? Im Gegen­teil, Sie bestäti­gen doch Jens’ Ver­mu­tung, dass der Lan­deswahlleit­er selb­st den Text for­muliert. Das Gesetz, über das abges­timmt wird, erset­zt ein beste­hen­des, also spricht nichts dage­gen, auch dieses in der Zusam­men­fas­sung zu erwäh­nen. Und nie­mand hier hat auch nur angedeutet, dass die Alter­na­tive „Ja/Nein“ von irgend­je­man­dem manip­uliert wor­den ist. Ich lasse Ihnen hier große Frei­heit­en mit Ihren Kom­mentaren, solange Sie etwas Inhaltlich­es beitra­gen (und wenn es noch so falsch ist), dür­fen Sie hier auch gerne einen rauen Ton­fall pfle­gen (zumin­d­est mir gegenüber). Aber Ihre mit all­ge­meinen Belei­di­gun­gen gar­nierte Beispiele Ihres man­gel­nden Textver­ständ­niss­es fan­gen an, mich zu langweilen.

    Antworten
  6. Dierk

    Na ja, wer nie vor die Tür kommt, Herr Nör­gler, wird sich­er eher ein­mal Ide­al mit Real­ität ver­wech­seln, nich’? Da auch in Berlin irgend­je­mand einen Antrag auf ein Volkbegehren/einen ‑entscheid stellen muss — und der Lan­deswahlleit­er dies nicht von sich aus machen kann, hat der Antrag­steller sehr wohl einen großen Ein­fluss auf die For­mulierung. Tat­säch­lich wäre es ver­messen und ver­mut­lich sog­ar unzuläs­sig, wenn die zuständi­ge Stelle der Exeku­tive [= Regierung] Texte auf Entschei­dungszetteln selb­st verfasst.

    Das schließt selb­stver­ständlich nicht aus, dass im Büro des Lan­deswahlleit­ers eine For­mulierung entwick­elt wird, die Bürokratese ist — aber selb­st dies geht nur in Absprache mit den Initiatoren.

    On anoth­er note, die beste­hende Regelung ist bere­its ein Kom­pro­miss, jed­er kann religiös gefärbten Unter­richt in der staatlichen Schule nehmen [was ohne­hin nur gesellschaftlich geduldet ist; ver­fas­sungsrechtlich frag­würdig bleibt es], kein­er muss. Ich frage mich ohne­hin schon seit Jahrzehn­ten — mein Alter war noch ein­stel­lig, als mir das The­ma auffiel -, weshalb Reli­gion­sun­ter­richt in Deutsch­land kon­fes­sion­s­ge­bun­den und ein­seit­ig ist. Es spielt dabei keine Rolle, ob Imame, Pfar­rer, Pas­toren oder Sci­en­tolo­gen [kA wie deren Berufs­beze­ich­nun­gen laut­en] unterrichten.

    Eine gute Lösung wäre ein ver­gle­ichen­der Reli­gion­sun­ter­richt, also eine Betra­ch­tung der Reli­gion und des Glaubens im gesellschaftlichen Zusam­men­hang durch die Jahrtausende. Denn im Grunde ist das Fach an sich nicht schlimm, ja, es ist genau­so ein Fach wie Deutsch, Geschichte, Englisch, Erd­kunde oder Wirtschaft. Man kann es also mit üblichen wis­senschaftlichen Meth­o­d­en fassen, zumin­d­est solchen, die auch in anderen Fäch­ern ange­wandt wer­den. Aber das ist natür­lich nicht, was Pro Reli [oder die diversen Glaubens­ge­mein­schften in D] wollen, so etwas wollen nur Athe­is­ten wie ich.

    Antworten
  7. Bernhard

    Mir scheint, ein wesentlich­er Aspekt des Wahlzettel­prob­lems geht hier ver­loren: Es ist die Auf­gabe der poli­tisch aktiv­en Bürg­erIn­nen, sich zu informieren, und zwar vor dem Urnen­gang (son­st dauert das in den Kabi­nen auch zu lange). Wer auf Mei­n­ungs­bil­dung verzichtet, sollte wenig­stens so fre­undlich sein, auf die Teil­nahme an Abstim­mungen eben­falls zu verzicht­en (so habe ich das mit der Demokratie jeden­falls verstanden).

    Insofern ist es nicht notwendig oder gar sin­nvoll, dass auf dem Stim­mzettel das alte Gesetz, das neue Gesetz, Argu­mente für und wider abge­druckt sind; der Text hat also eher Erin­nerungs­funk­tion. (Bei Wahlen liegt ja auch nicht das Parteipro­gramm bei – und manIn hat sicher­lich keinen Anspruch auf Neuwahlen, wenn manIn unin­formiert wählt und hin­ter­her find­et, dass die CDU nicht christlich genug, die GAL nicht alter­na­tiv genug oder die Linke nicht links genug ist und der Name also irreführend ist.) ManIn geht doch in die Wahlk­a­bine mit ein­er Mei­n­ung und Absicht, die manIn sich vorher gebildet hat.

    Antworten
  8. Achim

    Auch wenn ich noch nicht so lange Berlin­er bin, so hat­te ich doch bere­its ein­mal die Gele­gen­heit, an ein­er solchen Abstim­mung teilzunehmen (Nicht-Schließung von Tem­pel­hof für den Flug­be­trieb). Mit der Abstim­mungs­be­nachrich­ti­gung flat­terten auch zwei Blät­ter eng bedruck­tes Papi­er ins Haus: Die Begrün­dung der Antrag­steller, warum die frühere Entschei­dung (Schließung Tem­pel­hof) rev­i­diert wer­den solle, und die Begrün­dung des Sen­ats, warum die frühere Entschei­dung immer noch richtig sei.

    Ges­pan­nt bin ich auf diesen Begrün­dungszettel von Pro Reli — ob der also den gle­ichen Neusprech enthält wie die Plakate.

    Antworten
  9. Gareth

    Berlin ist das einzige Bun­des­land, in dem Eltern und Schüler nicht zwis­chen Ethik- und Reli­gion­sun­ter­richt wählen können. ”

    Das ist schlichtweg sach­lich falsch, weil sie unter­stellt, dass Eltern und Schüler in allen anderen Bun­deslän­dern zwis­chen Ethik- und Reli­gion­sun­ter­richt wählen kön­nen. Ethik ist aber in den meis­ten Bun­deslän­dern über­haupt kein Schulfach.

    Aber schön, dass Pro Reli bewusst mit Falschin­for­ma­tio­nen wirbt. Wer’s nötig hat…

    Antworten
  10. Christian S.

    #3:

    Welche Art von Kom­pro­miss stellen Sie sich zwis­chen diesen Posi­tio­nen vor?

    Es stimmt, die Fron­ten wirken zum jet­zi­gen Zeit­punkt sehr ver­härtet — weil sich bei­de Seit­en ver­ran­nt haben und nicht mehr ohne Gesichtsver­lust rauskommen.

    Ich denke, der Berlin­er Sen­at hätte sich früher um einen Kom­pro­miss bemühen müssen. Ger­ade die SPD ist in dieser Frage mit­nicht­en ein­er Mei­n­ung: Andrea Nahles und Wolf­gang Thierse vertreten bspw. die Sache von Pro Reli (wie ich ja auch, aber ohne Pro­mi zu sein ;), andere hinge­gen wie Björn Böh­n­ing sind kom­plett ander­er Meinung.

    Ich glaube nicht, dass es sin­nvoll ist, bei diesem The­ma Kul­turkämpfe zu führen; wirk­lich glück­lich dürfte außer CDU und FDP nie­mand über diese Sit­u­a­tion sein.

    Antworten
  11. Christian S.

    #10:

    Das ist schlichtweg sach­lich falsch, weil sie unter­stellt, dass Eltern und Schüler in allen anderen Bun­deslän­dern zwis­chen Ethik- und Reli­gion­sun­ter­richt wählen kön­nen. Ethik ist aber in den meis­ten Bun­deslän­dern über­haupt kein Schulfach.

    Wirk­lich? Das wusste ich gar nicht; in welchem Bun­des­land ist Ethik als Alter­na­tive zu Reli­gion denn kein Schulfach?

    Antworten
  12. Gareth

    Wirk­lich? Das wusste ich gar nicht; in welchem Bun­des­land ist Ethik als Alter­na­tive zu Reli­gion denn kein Schulfach?

    Nor­drhein-West­falen z.B. Dort ist das Fach zwar als Schul­ver­such unter ver­schiede­nen Namen aufge­taucht (mal heißt es Ethik, mal Human­is­tis­che Leben­skunde, mal Prak­tis­che Philoso­phie), aber nicht flächen­deck­end und umfassend umgesetzt.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.