Nachruf auf eine Sprache: Aka-Bo

Von Anatol Stefanowitsch

Man schätzt, dass alle ein bis zwei Wochen eine der derzeit noch sechs- bis sieben­tausend men­schlichen Sprachen für immer ver­schwindet, weil ihr let­zter Sprech­er oder ihre let­zte Sprecherin stirbt. Meis­tens geschieht das, ohne dass es jeman­dem auf­fällt. Aber da inzwis­chen in vie­len Gegen­den der Welt Sprach­wis­senschaftler ver­suchen, ausster­bende Sprachen in einem Wet­t­lauf gegen die Zeit zu doku­men­tieren, erfahren wir ab und zu davon.

Diese Woche ging der Tod der 85-jähri­gen Boa Sr., der let­zten Sprecherin des Aka-Bo, durch die Medien.

Aka-Bo gehört zum Zweig der groß-andaman­is­chen Sprachen in der Fam­i­lie der andaman­is­chen Sprachen, die auf den Andama­nen vor der Küste von Bir­ma gesprochen wer­den [Google Maps], und die ver­mut­lich mit kein­er anderen heute noch existieren­den Sprach­fam­i­lie ver­wandt sind. Von den zehn bekan­nten Sprachen dieses Zweiges sind neun bere­its aus­gestor­ben, nur das A‑Pucikwar hat noch 8–10 Sprecher/innen. Dem anderen Hauptzweig der Sprach­fam­i­lie, den drei klein-andaman­is­chen Sprachen, geht es etwas bess­er, aber auch sie wer­den ver­mut­lich zu den min­destens 2000 Sprachen zählen, die die näch­sten fün­fzig Jahre nicht über­leben: Sie haben zusam­men nur noch etwa 450 Sprech­er [Lewis 2009].

Wer wis­sen will, wie das Aka-Bo klang, kann sich hier anhören, wie Boa Sr. über den Tsuna­mi spricht, der 2004 auch die Andama­nen traf.

Als Sprech­er ein­er Sprache mit über hun­dert Mil­lio­nen Sprech­ern, ein­er lebendi­gen Presse- und Medi­en­land­schaft und ein­er umfan­gre­ichen lit­er­arischen Tra­di­tion kön­nen wir uns kaum vorstellen, wie es sich anfühlen muss, der let­zte Sprech­er sein­er Sprache zu sein und sich sog­ar mit der eige­nen Fam­i­lie nur noch in ein­er Fremd­sprache aus­tauschen zu kön­nen. Natalia Sanga­ma, die let­zte Sprecherin des Cham­i­curo, sagte einem Reporter der New York Times 1999: „Ich träume auf Cham­i­curo, aber ich kann meine Träume nie­man­dem erzählen. Einige Dinge lassen sich auf Spanisch nicht aus­drück­en. Es ist ein­sam, wenn man die let­zte ist.“ [NYTIMES.com 1999] Und John­ny Hill Jr., der let­zte Sprech­er des Cheme­hue­vi (eines Dialek­ts des Ute), erzählte den Mach­ern des Doku­men­tarfilms The Lin­guists, dass er sich alte Aufze­ich­nun­gen inzwis­chen ver­stor­ben­er Stammesmit­glieder anhört. Und: „Ich spreche meine Sprache mit mir selb­st, weil es nie­man­den gibt, mit dem ich sie sprechen kann“ [NATIONALPOST.com/Knight 2009].

Das Ver­schwinden ein­er Sprache ist für die Wis­senschaft jedes Mal ein Ver­lust, denn eine umfassende The­o­rie men­schlich­er Sprachen muss auf ein­er möglichst bre­it­en Daten­grund­lage beruhen. Es kommt immer wieder vor, dass eine neuent­deck­te oder bis­lang nicht doku­men­tierte Sprache eine Struk­tur oder ein gram­ma­tis­ches Merk­mal enthält, von dem man bis dahin annahm, dass es unmöglich vorkom­men könne. Es ist deshalb wichtig, ver­schwindende Sprachen möglichst umfassend zu doku­men­tieren. Dort, wo das geschieht, gibt es außer­dem die Möglichkeit, die Sprache wiederzubeleben, falls die Nach­fahren der let­zten Sprech­er nach deren Tod ent­deck­en, dass ihnen mit der Sprache auch ein Stück ihrer kul­turellen Iden­tität ver­loren gegan­gen ist.

Wer die Doku­men­ta­tion ausster­ben­der Sprachen unter­stützen will, kann das durch eine Spende an die Gesellschaft für bedro­hte Sprachen tun.

KRAMER, Seth, Daniel A. MILLER und Jere­my NEWBERGER (2008), The lin­guists, Iron­bound Films. [IMDB, Offizielle Web­seite]

LEWIS, M. Paul (Hg, 2009). Eth­no­logue: Lan­guages of the world, 16. Auflage. Dal­las: SIL Inter­na­tion­al. [Link]

NATIONALPOST.com/KNIGHT, Chris (2009), When the spo­ken word falls silent, Nation­al Post, 27. Novem­ber 2009 [Link]

NYTIMES.com (1999), With world open­ing up, lan­guages are losers, New York Times, 16. Mai 1999. [Link]

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

41 Gedanken zu „Nachruf auf eine Sprache: Aka-Bo

  1. Michael Boehm

    Sprachen­tod kein Schaden
    Je weniger Sprachen es gibt um so besser
    sin­nvoll wäre es wohl eine wirkliche
    Welt­sprache nicht nur zu haben son­dern auch durchzuset­zen die in Zukun­ft jeder
    Men­sch auch wirk­lich spricht und schreibt man denke nur mal daran was das für Vorteile hätte kön­nte sich doch jed­er Weltweit!!!
    ver­ständi­gen die Vorteile einer
    Weltweit­en Ein­heitssprache wären wohl
    enorm nicht nur in finanzieller Hinsicht
    son­dern auch was Effe­tiv­ität betrifft
    man mache sich darüber nur mal Gedanken
    was dann alles über­flüs­sig wer­den würde
    welch­er enorme Arbeit­saufwand sich auf dauer ein­fach in Luft auflösen würde
    von der “ein­fachen” Bedienungsanleitung
    in 10 Sprachen bis zum Fremd­sprache­nun­ter­richt und noch vielem mehr.
    Nachteile? nicht wirk­lich oder doch?
    der Ver­lust von unzäh­li­gen Über­flüs­si­gen Arbeitsplätzen

  2. Matthias

    Kein Ver­lust?
    Sich­er wäre vieles ein­fach­er, wenn alle dieselbe Sprache sprechen wür­den. Aber offen­sichtlich ist das Inter­esse daran nicht vorhan­den, son­st hätte sich eine einzelne Sprache längst durchgesetzt.
    Im Hin­blick auf die kul­turelle Vielfalt wäre es sich­er auch ein Ver­lust, wenn es nur noch eine einzige Sprache gäbe.

  3. Patrick Schulz

    Was bringt sprach­liche Diversität
    Im Grunde habe ich schon auf einen Beitrag wie den meines Vorkom­men­ta­tors gewartet. Das ist aber noch nichts gegen die Kom­mentare auf den BBC-Artikel von „The Lin­guist“ K. David Har­ri­son über Sprachtod.
    Natür­lich sind aus rein wirtschaftlich-glob­al­isiert­er Sicht zu viele (i.e. mehr als eine) Sprachen hin­der­lich. Doch wenn man seinen Blick mal von solchen schlim­men Din­gen wie Wirtschaft abwen­det merkt man schnell, dass es daneben noch mehr gibt, was sprach­liche Vielfalt fördern kann: Der Drang sich von Anderen abzu­gren­zen, beispiel­sweise. Man denke an Jugend­sprache, wie auch immer sie ausse­hen mag. Oder eine bewusst gehobene Sprache um sich von wer-auch-immer-da-unten-ist abzuheben. Oder Rotwelsch (oder wegen mir Nava­ho), wenn man was zu ver­ber­gen hat. Die Gründe für’s abgren­zen sind vielfältig.
    Auch glaube ich kaum, dass es je irgendwem geschadet hat, eine oder mehrere Fremd­sprachen zu erler­nen, und wenn man der Pop­ulär­wis­senschaft glauben schenken will, soll es ja sog­ar dem Geiste förder­lich sein, fremd­sprechen zu kön­nen… (zumin­d­est solange man dafür nicht seine Mut­ter­sprache aufgibt)
    Davon abge­se­hen ist „Sprache“ etwas sich so ras­ant entwick­el­ndes, dass zwar in 100 Jahren nur noch 100 Sprachen gesprochen wer­den, es aber in 200 Jahren wieder 1000 sein wer­den, auch wenn man vielle­icht nur 10 zählen wird — soviel zum The­ma „Die Vorteile von glob­alem Monolingualismus“
    Oder gehen wir ganz lin­guis­tisch-egozen­trisch an die Sache ran: Wenn es nur noch eine Sprache gäbe wären wir niemals in der Lage, die voll­ständi­ge Funk­tion­sweise des men­schlichen Gehirns zu entschlüs­seln, weil wie ein­fach nicht wis­sen wer­den, welche for­malen Struk­turen es zu bilden in der Lage ist (sage ich, der ich aus ein­er gen­er­a­tiv­en Schule komme oO ).
    Und auch, wer his­torisch inter­essiert ist, wird um das Studi­um von Sprache nicht herumkom­men: Wie sollen wir etwas über ver­gan­gene Kul­turen ler­nen, wenn kein­er die Sachen ver­ste­ht, die sie uns sprach­lich hin­ter­lassen haben?
    Mir ist aber schon klar, dass das alles Sachen sind, die einen primär wirtschaftlich denk­enden Men­schen nicht wirk­lich inter­essieren. Deswe­gen kann er auch nichts aus der Ver­gan­gen­heit ler­nen und macht stur so weit­er, wie er es gewohnt ist, auch wenn er dadurch schnurstracks in den Abgrund latscht.
    So, genug aufgeregt für heute…

  4. suz

    Die von (lei­der) von vie­len Men­schen geteilte Mei­n­ung “weniger Sprachen sind besser/konfliktfreier/effektiver/…” lässt viel zu häu­fig ein eurozen­trisches Welt­bild ver­muten: die weit ver­bre­it­ete Mono­lin­gual­ität in unser­er west­lichen Welt ist glob­al gese­hen die Aus­nahme — und damit lasse ich bewusst die Bi- und Mul­ti­lin­gual­ität einiger außer acht, denn nach wie vor ist Mono­lin­gual­ität in min­destens den ersten zehn Jahren eines Men­schen in der west­lichen Welt die Regel, und darüber hin­aus bleiben die meis­ten von uns abge­se­hen von ein paar in der Schule gel­ern­ten FREMD­sprachen meist Monolingual.
    Weltweit gese­hen ist Bi- und Mul­ti­lin­gual­ität von einem frühen Alter an die Regel. Die meis­ten Men­schen in Afri­ka und Asien sprechen zwei oder mehr Sprachen, und zwar ihr Leben lang und in unter­schiedlichen Funk­tio­nen, nicht nur die gebildete Elite ihres Lan­des, nicht nur im “Urlaub” oder mit ihren Geschäftspart­nern. Dies gilt beson­ders für mul­ti­lin­guale Gesellschaften in Indi­en, Malaysia oder Indone­sien, nur um mal einige zu nen­nen. Im Ver­gle­ich zu Indi­en sind wir in der EU ja noch unglaublich gut bedient 🙂
    Darüber hin­aus hat man in der Geschichte ja schon oft gese­hen, wozu gewalt­sam durchge­set­zte Mono­lin­gual­ität führen kann — Spanien, Balkan, Sovi­etu­nion, um nur mal Europa anzuführen. Sprache ist nicht nur für den Aus­tausch von Gütern und deren Effizienz da.
    Wir wer­den den Rück­gang der Sprachen­vielfalt nicht aufhal­ten kön­nen (inter­essiere mich selb­st sehr für Sprach­doku­men­ta­tion usw. und muss dementsprechend viel Skep­sis mein­er Umwelt “ertra­gen”), zu bedauern ist sie sehr. Nur weil uns in Europa EINE Sprache den Über­set­zungsap­pa­rat der EU eins­paren würde, heißt das nicht, dass wir unser mono­lin­guales Ide­al auf die Welt über­tra­gen kön­nen. Das ist eine sehr undif­feren­zierte und bevor­mundende Einstellung.

  5. MisterBernie

    @suz: Rein bürokrati­estech­nisch über­trifft die EU inzwis­chen Indi­en; Indi­en hat 22 Sprachen im “Eight Sched­ule” und zwei Arbeitssprachen, die EU inzwis­chen 23 Amtssprachen (ohne den Halb­sta­tus von Katal­nisch, Gal­izisch und Bask­isch) und drei Arbeitssprachen.
    Zum The­ma selb­st kann ich mich nur der Mei­n­ung, dass eine höhere Wirtschaftlichkeit der Ein­sprachigkeit nicht die kul­turelle Ver­ar­mung wert ist, nur anschließen.
    (Ganz abge­se­hen davon finde ich die Vorstel­lung von hun­derten Lojban-Dialek­ten* o.ä. in ein paar Gen­er­a­tio­nen leicht furchte­in­flößend >_> )
    *Wenn schon Welt­sprache, dann eine, die für jed­er­mann gle­ich schwierig ist.

  6. kreetrapper

    Ich freue mich sehr, daß das “neue” Sprachlog in let­zter Zeit so rege ist. Und beson­ders freue ich mich über Artikel wie diesen, in denen es zur Abwech­slung mal nicht um Sprachkri­tikkri­tik geht. Auch wenn ich dieser ihre Berech­ti­gung nicht absprechen will, aber zuviel des­sel­ben wird dann eben doch irgend­wann langweilig.
    Da mich dieses The­ma zur Abwech­slung sog­ar mal beru­flich bet­rifft, nutze ich die Gele­gen­heit und weise Inter­essierte ein­fach mal auf das DoBeS-Pro­gramm der Volk­swa­gen-Stiftung hin. Hier wid­met sich ein Haufen emsiger Lin­guis­ten der Doku­men­ta­tion Bedro­hter Sprachen (=DoBeS) und zumin­d­est einen Teil der so ent­stande­nen Videos und Tonauf­nah­men kann man sich auch direkt im Inter­net anschauen.

  7. suz

    @MisterBernie: da gebe ich Ihnen Recht, wobei es mir weniger um die offiziellen Amtssprachen, als vielmehr um die lin­guis­tis­che Vielfalt der Gesellschaft an sich ging. Darüber hin­aus ging es mir lediglich um Beispiele, die verdeut­lichen soll­ten, dass unser eurozen­trisches Mod­ell von “ein Land, eine Sprache” glob­al gese­hen doch eher etwas mick­rig ist. (Wobei es, wenn Sie die EU ansprechen, natür­lich viel Diskus­sion­sstoff gibt — ob es denn “sin­nvoll” ist, jedes Doku­ment für wenige zehn­tausend Sprech­er in Irisch zu über­set­zen, die ja ver­mut­liche alle zweis­prachig sind — vom rein ide­ol­o­gis­chen Stand­punkt her finde ich das aber richtig. Die EU definiert sich vielsprachig.)
    Wir mögen in Europa zwar — je nach Bil­dungs­grad — Zwei- oder Mehrsprachigkeit leben, aber für die meis­ten bleiben es FREMD­sprachen, in vie­len anderen Regio­nen der Erde sind viele aber Sprech­er mehrerer MUT­TER­sprachen, und zwar durch alle Schicht­en. Darum ging es mir hauptsächlich.

  8. CAL

    Thanks God…
    Wer weiß, was uns allen noch abge­hen würde, wenn es das beliebte Inter­net nicht gäbe.

  9. Michael Boehm

    da war ich wohl etwas zu Provokativ
    ja ich bin ein primär wirtschaftlich denk­ender Men­sch vor allem im Bezug auf Arbeit­szeit­einsparung was wohl an mein­er früheren Tätigkeit in einem Arbeits­bere­ich lag wo Zeit eine sehr wichtige Rolle spielte zudem war mein Kom­men­tar eng mit dem Gedanken von Fremd­sprachi­gen Arbeit­saufträ­gen verknüpft die nie­mand wirk­lich lesen kon­nte aber den­noch aus­ge­führt wer­den soll­ten und mir schon so manchen Nerv gekostet haben und ich rede nicht von Englisch und für einen primär wirtschaftlich denk­enden Men­schen wäre es fatal nichts aus sein­er Ver­gan­gen­heit zu ler­nen und ein­fach so weit­er zu machen wie er es gewohnt ist das Gegen­teil ist der Fall ständi­ger Zwang sich anzu­passen zu reagieren und zu verän­dern. Ich bitte meinen “Kurz­schlussko­men­tar” zu entschuldigen.
    Die derzeit­ige Sprachen­vielfalt wird sich weit­er ver­min­dern — eine neue Sprachen­vielfalt wohl kaum noch entste­hen. Vielle­icht wäre es mit ein­er glob­alen Ein­heitssprache als Primärsprache
    und der Mut­ter­sprache als “Fremd­sprache” getan um einen Mit­tel­weg zu haben damit die kul­turelle Vielfalt nicht Ver­loren geht? Als primär wirtschaftlich­er Men­sch und auf­grund mein­er Erfahrun­gen sehe ich — muss ich lei­der zugeben vor­rangig den enor­men Wirtschaftlichen Kosten­fak­tor und “Einsparungspoten­zial” das wurde mir lei­der wärend meines Arbeit­slebens “antrainiert”.

  10. Peter Jakob

    Sprachen­tod / Einheitssprache
    Es ist sich­er schön eine Sprache zu haben, die alle Men­schen gut beherrschen. Denoch ist der Tod jed­er Sprache ein Ver­lust. Und die Ein­samkeit der Let­zten ein­er solchen Sprache rührt mich an.
    Eine Sprache ist auch ein Spe­ich­er kollek­tiv­er Kreativ­ität eines Volkes.
    Es wäre auch ökonomis­ch­er nur eine Blu­men­sorte zu zücht­en, aber es die Erde wäre sich­er ärmer.
    Bitte drescht nicht so aufeinan­der ein!

  11. VP

    @Michael Boehm: Auch aus wirtschaftlich­er Sicht kann man eine rege Sprachen­vielfalt als sehr gewinnbrin­gend betra­cht­en, näm­lich wenn es darum geht, diese zu nutzen, um die Funk­tion­sweisen des men­schlichen Geistes zu ergrün­den (hat Patrick Schulz ja schon weit­er oben angedeutet). Darum geht es näm­lich der Lin­guis­tik unter anderem. Es ist nicht ein­fach “nur” ein kul­tureller Ver­lust, wenn eine Sprache aus­stirbt, son­dern jede einzelne Sprache ver­rät uns mehr darüber, wie der Men­sch als geistiges Wesen ‘funk­tion­iert’. Und das wiederum lässt sich doch pri­ma wirtschaftlich auss­chöpfen und sei es nur in Coach­ings. Aber vorallem auch in der Entwick­lung neuer Tech­nolo­gien, die die Men­sch-Mas­chine-Kom­mu­nika­tion vorantreiben, Stich­wort: Kün­stliche Intel­li­genz. Das eröffnet ganz neue Geschäfts­felder und Märkte.
    Natür­lich sollte die Wis­senschaft nicht für die Wirtschaft arbeit­en, son­dern immer unab­hängig bleiben, aber den­noch arbeit­et sie ihr indi­rekt zu und das ist doch der Punkt, der die Wis­senschaft und auch deren Daten­grund­lage (in dem Fall die Sprachen der Welt) für sie inter­es­sant macht.

  12. Lars von Karstedt

    Wirtschaftliche Uni­ver­sal­sprache
    @Michael Boehm
    Ihnen wurde also „lei­der wä[h]rend [Ihres] Arbeit­slebens ‘antrainiert’“, alles dem Pri­mat der Wirtschaftlichkeit unterzuord­nen. Offen­sichtlich bedauern Sie dies sog­ar. Ich habe aber den Ein­druck, dass dieses Train­ing in Sachen Wirtschaftlichkeit nicht hun­dert­prozentig erfol­gre­ich war und Sie sich einen Rest an Indi­vid­u­al­ität bewahren kon­nten; das legt zumin­d­est Ihr Schreib­stil nahe.
    Oder aber es erscheint Ihnen wirtschaftlich, Ihre Gedanken so aufzuschreiben, wie sie Ihnen ger­ade durch den Kopf gehen und dabei beispiel­sweise weitest­ge­hend auf die Ver­wen­dung von Satzze­ichen zu verzicht­en. Für den Leser bringt dies hinge­gen einen Mehraufwand mit sich. In kom­mu­nika­tiv­er Hin­sicht ist da also kein „wirtschaftlich­er“ Vorteil entstanden.
    Dies offen­bart aber auch, dass „Wirtschaftlichkeit“ kein beson­ders aus­sagekräftiges Konzept ist, wenn es um Sprache, ihre Ver­wen­dung und ihre Funk­tio­nen geht.
    Zur „Uni­ver­sal­sprache“ ist aus sprach­his­torisch­er Sicht anzumerken, dass eine solche den gle­ichen Verän­derung­sprinzip­i­en unter­wor­fen wäre, wie jede andere Sprache auch. Es wür­den sich also eher über kurz als über lang ver­schieden­ste Sprachreg­is­ter bis zu Dialek­ten und schließlich ver­schiedene Sprachen her­aus­bilden (hierzu kann ich wärm­stens Jean Aichisons ‘Lan­guage change: progress or decay? Cam­bridge, 2006’ als ein­führende Lit­er­atur empfehlen). Die Welt­sprache Englisch ist beispiel­sweise wesentlich unein­heitlich­er als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Britis­ches, amerikanis­ches, indis­ches und aus­tralis­ches Englisch hören sich nicht nur unter­schiedlich an, es kön­nen sich hin­ter den gle­ichen Wörtern auch unter­schiedliche gedankliche Konzepte ver­ber­gen. Das führt dann dazu, dass die Sprech­er nur GLAUBEN, sie wür­den sich gegen­seit­ig ver­ste­hen. Dies gilt natür­lich in beson­derem Maße für die All­t­agssprache. Kleines Beispiel aus dem US- und dem kanadis­chen Englisch: „to be pissed“ bedeutet in New York State soviel wie „gen­ervt sein/von etwas angekotzt sein“, in Alber­ta bedeutet es hinge­gen „betrunk­en sein“. Wenn man bedenkt, dass die (west-)kanadische All­t­agskul­tur eine Vielzahl an Berührungspunk­ten mit der US-All­t­agskul­tur hat, so kann man sich leicht aus­malen, was passiert, wenn es um Vari­anten ein­er Sprache geht, deren Sprech­er nicht Tür an Tür leben.
    Vor dem Hin­ter­grund sprach­his­torisch­er Forschung ist die utopis­che Vorstel­lung, dass eine weltweit ein­heitliche Sprache von dauer­haftem Nutzen (und Bestand) wäre, nichts anderes als – eben eine Utopie.

  13. hanswerner

    Noch ein Beispiel
    @ Lars von Karstedt
    Irgend­wann in den 70er Jahren kaufte ich mir ein Büch­lein, ich glaube “What’s the dif­fer­ence” war der Titel, in dem zahllose Beispiele für Bedeu­tung­sun­ter­schiede des sel­ben Wortes im AE und BE ange­führt wur­den. Viele waren durch kleine Anek­doten aus­geschmückt. Eine ist mir im Gedächt­nis hän­gen geblieben: Ein Englän­der bemerkt in einem Gespräch über einen gemein­samen Bekan­nten einem Amerikan­er gegenüber: “He was my fag at Eton.” Wobei der Amerikan­er bei sich denkt: “My god, they are frank, those English.”
    Wie ich eben bei Wikipedia gele­sen habe, ist “fag­ging” in den 80er Jahren abgeschafft worden.

  14. Armin

    Ver­staendi­gung­sprob­leme
    @ hanswerner
    Das “Ver­staendi­gung­sprob­lem” mit “fag” gibt’s aber auch heutzu­tage noch:
    Im Britis­chen Englisch ist “fag” ein umgangssprach­lich­er Begriff fuer eine Zigarette, “he’s gone for a fag” heisst so viel wie “Er ist eine rauchen gegangen”.
    Gib’ die Antwort mal einem Amerikan­er der mit dem Begriff bzw der Redewen­dung nicht ver­traut ist wenn er nach jeman­den fragt…

  15. Martin Holland

    Track­back | fingolas.blogspot.com
    […]Ver­gan­gene Woche ist der Stamm der Bo auf den Inseln der Andama­nen endgültig ausgestorben[…]

  16. Martin Huhn

    @ Hol­land
    Wir hat­ten gestern Abend/Nacht auf unseren neuen Web­serv­er umgestellt. Daher hat es mit dem Track­back nicht geklappt. Das wird aber bald wieder funktionieren.

  17. Patrick Schulz

    @Holland
    Das Stille-Post-Prinzip funk­tion­iert noch immer: Nicht der Stamm ist aus­gestor­ben, son­dern die Sprache, die nach dem Stamm benan­nt wurde.
    Aber man kann natür­lich stre­it­en, ob bei­des ein­her geht…

  18. Achim

    Ver­ständ­nis­prob­leme
    @Lars von Karstedt:

    Das führt dann dazu, dass die Sprech­er nur GLAUBEN, sie wür­den sich gegen­seit­ig verstehen.

    Eben. Das größte Prob­lem in der deutsch-östere­ichis­chen Ver­ständi­gung ist die gemein­same Sprache. Hab ich vor eini­gen Jahren beru­flich selb­st erlitten.
    Ander­er­seits frage ich als gebür­tiger Schleswig-Hol­stein­er mich manch­mal, ob das Gewese um friesis­chsprachige Ortss­childer etc. nicht doch ein biss­chen doll ist. Rein zahlen­mäßig kommt Friesisch (alle Dialek­te zusam­men) in Schleswig-Hol­stein inzwis­chen weit hin­ter Türkisch. Aber der Sta­tus von Ein­wan­der­ersprachen ist nun wirk­lich ein anderes Thema

  19. Gerhard

    Warum sollen eigentlich einzelne Sprachen schutzwürdig sein, während gle­ichzeit­ig die Ver­suche, einen bes­timmten Sprach­stand zu bewahren (durch die sog. Sprach­nör­gler), ange­blich lächer­lich (oder zumin­d­est völ­lig unnütz) sein sollen. Es würde mich wirk­lich inter­essieren, wie dieser (schein­bare?) Wider­spruch aufzulösen ist.

  20. David

    Im einen Fall geht es um Sprachen, im andern Fall um einen arbi­trären Sprach­stan­dard, wie sie ja selb­st schreiben.

  21. Gerhard

    Tolle Erken­nt­nis. Wär ich nie drauf gekommen.
    Bloß: Ich kann den wesentlichen Unter­schied nicht erken­nen. In bei­den Fällen scheint es um die Frage zu gehen, ob ein bes­timmter Sprach­stand bewahrenswert ist oder nicht.
    Die (lin­guis­tis­chen) Argu­mente, die für die Bewahrung von Sprachen gebracht wer­den, kann man eben­so für die Bewahrung von einzel­nen Sprach­merk­malen anführen.
    Um ein Beispiel anzuführen:
    Eine bes­timmte Sprache soll bewahrenswert sein, weil sie beispiel­sweise eine bes­timmte gram­ma­tis­che Struk­tur enthält, die von kein­er anderen Sprache bekan­nt ist.
    Wenn aber just diese gram­ma­tis­che Struk­tur auf­grund eines Sprach­wan­dels ver­lorenge­ht, soll es Unfug sein, sich für ihren Erhalt einzusetzen?

  22. Patrick Schulz

    Ich ver­suchs mal mit diesem Beispiel: Sprach­nör­gler wollen das Auto auf dem Stand von 1929 hal­ten und ver­hin­dern, dass es irgend­wann mit einem ein­er neuen Karosserie aus­ges­tat­tet wird. Wenn eine Sprache stirbt, ist das, als würde es auf ein­mal keine Mot­tor­räder mehr geben. Bei­des sind Fahrzeuge, oder im weitestens Sinne Hil­fmit­tel um von A nach B zu kom­men. Aber ein Motor­rad hat Eigen­schaften, die kein Auto der Welt hat und umgekehrt, z.B. dass man ein Fahrzeug auch in der Spur hal­ten kann, wenn es nur zwei Räder und trotz­dem einen Motor hat, was man, wenn man nur Autos und Fahrräder ken­nt, nicht wis­sen würde.
    Ich hoffe, es ist einiger­maßen klar, was ich meine?

  23. Gerhard

    Es ist klar, aber die Analo­gie ist schief.
    Sprach­nör­gler wollen, dass der neue Golf nicht mit Automatikgetriebe aus­ges­tat­tet wird, weil Hand­schal­tung irgend­wie bess­er ist.
    Wenn eine Sprache stirbt, als würde die Pro­duk­tion des Golf eingestellt.
    Wenn der Golf das let­zte Auto mit Hand­schal­tung ist, ist das ein großer Ver­lust. Diesel­ben Leute, die ihn beweinen behaupten aber, den neuen Golf (der jet­zt aber nicht gebaut wird) mit Automatik auszuliefern wäre in Ord­nung gewe­sen und eine natür­liche Weit­er­en­twick­lung und die Automatiknör­gler seien Deppen.

  24. David

    @Gerhard:
    Kön­nen Sie mir bitte mal ein Beispiel für ein inter­es­santes und exk­lu­sives gram­ma­tis­ches Merk­mal des Deutschen nen­nen, das im Ausster­ben begrif­f­en ist und von den Sprach­nör­glern vertei­digt wird? Damit wir wis­sen, wovon wir eigentlich reden. (Meinem Ein­druck nach sind die Nör­gler ja zumeist viel zu sehr damit beschäftigt, sich amüsante neue Vok­a­beln auszu­denken, als daß sie noch wirk­lich auf die Sprache acht­en kön­nten. Aber mir mag da was ent­gan­gen sein.)

  25. Gerhard

    @David
    Es han­delt sich um eine rein the­o­retis­che Fragestel­lung, völ­lig los­gelöst von der Frage, ob das Sprach­nörgeln im Aka-Boa, im Labour­dis­chen Bask­isch oder im Stan­dard­deutsch des frühen 21. Jahrhun­derts stat­tfind­et; denn Sprach­nörgelei ist eben­so uni­versell wie das Sprachensterben.
    Ob das Aka-Boa irgendwelche inter­es­san­ten lin­guis­tis­chen Merk­male hat, die evtl. in kein­er anderen Sprache der Welt vorhan­den sind, haben wir ja auch nicht gefragt, oder?

  26. Patrick Schulz

    Hm, also doch unklar… Dann Klartext:
    Was Sprach­nör­gler wollen, und das wurde im Sprach­blog schon­mal erörtert, ist eine Sprach­stands­be­wahrung, nicht etwa eine Sprach­be­wahrung. Sprachen ster­ben in dem Moment, in dem sie sich nicht weit­er entwick­eln, vielle­icht weil sie nicht mehr gesprochen wer­den, oder weil sie irgend­wann so stark stan­dar­d­isiert sind, dass es keinen Raum mehr für Entwick­lun­gen gibt. Dem­nach sind es ger­ade die Sprach­standswahrer, die dem Deutsche Ster­be­hil­fe leis­ten wollen.

  27. David

    @Gerhard:
    Ob es solche Merk­male hat­te, wird man jet­zt aber auch nur noch anhand von Aufze­ich­nun­gen beurteilen kön­nen. Vielle­icht enthal­ten die Aufze­ich­nun­gen aber für bes­timmte Merk­male, die es hat­te, gar keine Zeugen.
    Im Fall von Sprach­nörgelei ist die Sach­lage anders, denn die fraglichen Merk­male, ob sie nun befür­wortet oder abgelehnt wer­den, ste­hen bere­its im Fokus und zumin­d­est ihre Exis­tenz ist damit bewiesen.

  28. David

    Im Übri­gen kön­nte zumin­d­est ich mich für halb­wegs anspruchsvolle ‘Sprach­nörgelei’ dur­chaus erwär­men. In ein­er Form etwa, die altherge­brachte Kon­struk­tio­nen solchen gegenüber­stellt, die erst durch den Ein­fluß des Englis­chen ent­standen und pop­ulär gewor­den sind. Sofern sie sich nicht als Sprach­wis­senschaft aus­gibt, von Sachken­nt­nis geprägt ist und vor allem nicht ver­sucht, ihre Posi­tio­nen am Ende in Geset­zes­rang zu erheben. (Auch solche Bestre­bun­gen gibt es ja, wen­ngle­ich das Extreme sein mögen.)
    Man muß schließlich bes­timmt nicht alles mögen. Ich bekam immer einen leicht­en Anfall, wenn Stef­fen Seib­ert vom “größten XY jemals” quas­selte. Sich über solche Dinge zu stre­it­en ist ja völ­lig OK.
    Aber die hier vor­ge­tra­gene Kri­tik an ‘Sprach­nörgelei’ muß sich ja immer auch auf den gegen­wär­ti­gen Stand der­sel­ben berufen kön­nen, und der ist hierzu­lande äußerst kläglich. Das Feld wird von Vok­a­bel­hei­nis dominiert. Ein echt­es Inter­esse an Sprache ist da wei­thin nicht zu erkennen.

  29. Gerhard

    @ Patrick Schulz
    Nein, ich glaube, Sie ver­ste­hen nicht.
    Der eine will einen bes­timmten Sprach­stand bewahren, der andere eine bes­timmte Sprache. Die Argu­mente für let­zteres sind min­destens eben­soweit herge­holt wie für ersteres.
    Eine Sprache verän­dert sich, weil die Sprech­er diese Verän­derung vol­lziehen. Eine Sprache stirbt, weil die Sprech­er sie nicht mehr benutzen. Das ist in aller Regel (sel­tene Aus­nah­men gibt es natür­lich) ein frei­williger Prozess. Und es ist vor allem ein natür­lich­er Prozess. Irgend­wann wan­deln sich äußere Gegeben­heit­en und eine bes­timmte Sprache hat nur noch einen sehr eingeschränk­ten Nutzen. Wenn dieser Nutzen den Sprech­ern zu ger­ing erscheint, geben sie die Sprache auf. Ganz nor­mal, seit der Antike (wahrschein­lich schon seit der Steinzeit).
    Mit der Sprache gehen notwendi­ger­weise auch Merk­male ver­loren, die die Forschung nicht bemerkt hat. Bei rel­a­tiv wenig erforscht­en Sprachen wer­den das sehr viele Merk­male sein, bei gut erforscht­en nur wenige.
    Aber auch aus dem Sprach­ster­ben kann die Wis­senschaft Erken­nt­nisse ziehen. Sie kann näm­lich den Prozess des Sprach­tods erforschen, en gros und en detail. Sie kann ihn vor allem auch inter­diszi­plinär erforschen: In Zusam­me­nar­beit etwa mit Wirtschafts­geo­graphen, Sozi­olo­gen, Psychologen.
    Stellen Sie sich vor: Welch­er Erken­nt­nisver­lust, wenn eine Sprache wider­borstig ist und nicht stirbt. Schreck­liche Vorstellung.
    Ander­er­seits der Sprach­wan­del: Ein bes­timmter Sprach­stand wird kon­serviert, damit er am leben­den Objekt erforscht wer­den kann. Dem Gen­i­tiv sein Leben lässt sich doch in der Real­ität viel bess­er erforschen als aus irgendwelchen staubi­gen Büch­ern, die davon bericht­en, dass er vor Jahrzehn­ten ein­mal hin­ter “wegen” stand.
    Klingt weit herge­holt? Ist es auch. Genau­so weit herge­holt wie das Argu­ment, man solle Sprachen, die von der Sprecherge­mein­schaft aufgegeben wer­den, bewahren, damit die Sprach­wis­senschaftler etwas Nettes zum Forschen haben.

  30. Gerhard

    nochmal @ Patrick Schulz
    Das hier
    Was Sprach­nör­gler wollen, und das wurde im Sprach­blog schon­mal erörtert, ist eine Sprach­stands­be­wahrung, nicht etwa eine Sprach­be­wahrung. Sprachen ster­ben in dem Moment, in dem sie sich nicht weit­er entwick­eln, vielle­icht weil sie nicht mehr gesprochen wer­den, oder weil sie irgend­wann so stark stan­dar­d­isiert sind, dass es keinen Raum mehr für Entwick­lun­gen gibt. Dem­nach sind es ger­ade die Sprach­standswahrer, die dem Deutsche Ster­be­hil­fe leis­ten wollen.
    ist natür­lich absurd.
    Denn erstens gibt es keinen bekan­nten Fall ein­er Sprache, die sich nicht irgend­wie verän­dern würde (Sprachen entwick­eln sich nicht, sie verän­dern sich nur ein­fach). Das wis­sen zweifel­los auch die ser­iöseren Sprach­schützer, ‑pfleger oder ‑nör­gler. Denen geht es um bes­timmte Sprach­merk­male, die sie für bewahrenswert hal­ten. Darüber zu urteilen ist müßig. Ein Sprach­merk­mal für “bewahrenswert” zu hal­ten ist eben­so eine Geschmacks­frage, wie es für “nicht bewahrenswert” zu halten.
    Zweit­ens ist die Behaup­tung, “Sprach­nör­gler” leis­teten dem Deutschen Ster­be­hil­fe völ­lig aus der Luft gegrif­f­en. Dann müsste das Franzö­sis­che seit Jahrhun­derten tot sein.
    Drit­tens ist der Bezug Ihrer Antwort zu meinem Beitrag nicht erkennbar.

  31. Gerhard

    @ David
    Danke, das ist eine Antwort, die nachvol­lziehbar ist.
    Ander­er­seits gibt es Sprach­nörgeleien auch in Sprachen, die nicht richtig doku­men­tiert sind. Kri­tik an neuen Sprachge­wohn­heit­en ist so alt wie die Sprache selb­st. Müsste man daher evtl. Sprach­nörgeleien bei bedro­ht­en Sprachen und Dialek­ten (etwa Elsäs­sisch oder Sor­bisch) gutheißen?
    Darüber­hin­aus halte ich es für äußerst frag­würdig, eine Sprachge­mein­schaft in eine bes­timmte Rich­tung (näm­lich i.d.R. zur Behal­tung ein­er obso­leten und möglicher­weise stig­ma­tisierten Min­der­heit­en­sprache) zu drän­gen und das mit wis­senschaftlichem Erken­nt­nis­in­ter­esse zu begründen.

  32. Patrick Schulz

    Ich merk schon, ich hab Prob­leme damit, mich und was ich meine einiger­maßen klar auszudrücken…
    Aber der Rei­he nach.
    Zunächst gebe ich ihnen Recht, dass das Bewahren­wollen ein­er Sprache genau­so unsin­nig ist, wie das eines Sprach­standes, zumal das in den aller­meis­ten Fällen eh das­selbe ist.
    Und ja, es gibt (z.T. unver­mei­d­bare) Gründe dafür, dass Sprachen ster­ben. Aber auch wenn man den Tod ein­er Sprache betrauert und auf die Kon­se­quen­zen von Sprach­tod war­nend hin­weist, heisst das nicht, dass Sprach­wis­senschaftler o.ä. ver­suchen, die Sprachen zu bewahren. Die Ini­tia­tive dazu muss von den (verbliebe­nen) Sprech­ern aus­ge­hen und Sprach­wis­senschaftler kön­nen lediglich Hil­festel­lun­gen geben, etwa in Form von Doku­men­ta­tio­nen oder eine Sen­si­bil­isierung für die Bedeu­tung ein­er (eige­nen) Sprache. Das ver­suchte ich auch mit meinem Fahrzeug-Beispiel darzustellen: Das Auto auf dem Stand von 1929 hal­ten ist ein bewusster und vom Geschmack abhängiger Wun­sch, während das Ver­schwinden der Motor­räder als ein (weitest­ge­hend) unges­teuert vorgehn­der Prozess mit erhe­blich weitre­ichen­deren Kon­se­quen­zen zu ver­ste­hen gewe­sen wäre.
    Ihr Ein­wurf mit dem Erken­nt­nis­gewinn aus Sprach­tod fasse ich als sarkastisch gemeint auf. Und auch wenn mir kein Fall bekan­nt ist, wo eine Sprache bewusst aus­gerot­tet wird, nur um zu schauen, wie die Noch-Sprech­er damit umge­hen, halte ich die Vorstel­lung für sehr inter­es­sant. Ethik und solch­er Schmar­rn wird sowieso viel zu sehr überbewertet…
    Aber natür­lich gibt es auch aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht kein­er­lei Gründe, warum eine Sprache nicht ster­ben sollte. Aber trotz­dem kann man doch den Tod ein­er Sprache bedauern, zumal dadurch die ver­füg­bare Daten­menge wieder etwas abnimmt.
    Ihr Punkt ist, wenn ich das richtig ver­ste­he, dass Sprach­wis­senschaftler das­selbe empfind­en soll­ten, wenn dieses „Ver­schwinden“ nur eine Struk­tur in ein­er anson­sten weit­erbeste­hen­den Sprache bet­rifft. Vielle­icht tun sie das auch. Wenn ich zynisch ver­an­lagt wäre, würde ich jet­zt wohl sagen: Ich weiß, dass in bes­timmten Var­itäten des Deutschen die Phrase nach „wegen“ im Gen­i­tiv flek­tiert wird und jet­zt wo ich es weiß, hab ich auch nichts dage­gen, wenn das Phänomen ver­schwindet. Aber, wie gesagt: Ethik und so… Wer als Lin­guist eine Sprache nur dess­we­gen bewahren will, um seinen Forschungs­ge­gen­stand nicht zu ver­lieren, hat in der Branche nichts verloren.
    Zum Franzö­sis­chen: Vielle­icht ist es das. Eben­so wie ich behaupten würde, dass das Stan­dard­deutsche tot ist. Oder son­st eine Sprache, die man allein auf Basis fest­ste­hen­der Regeln ver­wen­det. Ab und an mal kommt es vor, dass so eine tote Sprache aktu­al­isiert wird, aber das ändert nichts an ihrer „Lebendigkeit“.
    Ich denke aber so alles in allem, dass wir (oder vielmehr ich) die falsche Diskus­sion­s­grund­lage gewählt habe(n). Was die Sprach­wis­senschaftler an den Nör­glern stört ist weniger ihr Ziel ( = Sprach(stands)wahrung), son­dern vielmehr der Weg, der zum Erre­ichen des Ziels bestrit­ten wird. Da wer­den Un- und Halb­wahrheit­en ver­bre­it­et, zweifel­hafte Meth­o­d­en angewen­det und, und das gilt für bei­de Seit­en: mit viel Schlamm um sich gewor­fen. Das ist es, was (ser­iöse) Sprach­wis­senschaftler von Sprach­nör­glern unter­schei­det, wenn sie sich über Verän­derun­gen in den Sprachen beklagen.
    Zumin­d­est mein­er Mei­n­ung nach, um das nochmal deut­lich zu machen. Ich kann nicht für andere Sprach­wis­senschaftler sprechen.

  33. Bernhard

    Darüber­hin­aus halte ich es für äußerst frag­würdig, eine Sprachge­mein­schaft in eine bes­timmte Rich­tung (näm­lich i.d.R. zur Behal­tung ein­er obso­leten und möglicher­weise stig­ma­tisierten Min­der­heit­en­sprache) zu drän­gen und das mit wis­senschaftlichem Erken­nt­nis­in­ter­esse zu begründen.”
    Aber das tut doch auch niemand.

  34. Gerhard

    @ Patrick Schulz
    Danke für diese aus­führliche Antwort. Ich habe den Ein­druck, dass wir weitest­ge­hend ein­er Mei­n­ung sind.
    Ihr Ein­wurf mit dem Erken­nt­nis­gewinn aus Sprach­tod fasse ich als sarkastisch gemeint auf. Und auch wenn mir kein Fall bekan­nt ist, wo eine Sprache bewusst aus­gerot­tet wird, nur um zu schauen, wie die Noch-Sprech­er damit umge­hen, halte ich die Vorstel­lung für sehr inter­es­sant. Ethik und solch­er Schmar­rn wird sowieso viel zu sehr überbewertet…
    Das war sarkastisch gemeint. Aber ernst meine ich, das min­destens genauso­viel Erken­nt­nis aus dem Prozess eines Sprach­todes gewon­nen wer­den kann wie aus dem Studi­um der Struk­turen dieser Sprache. Nan­cy Dori­an hat ja auch nicht ver­sucht, das Gälisch von Embo zu retten.
    Ihr Punkt ist, wenn ich das richtig ver­ste­he, dass Sprach­wis­senschaftler das­selbe empfind­en soll­ten, wenn dieses „Ver­schwinden“ nur eine Struk­tur in ein­er anson­sten weit­erbeste­hen­den Sprache betrifft.
    Mein Punkt — und das hätte ich vielle­icht bess­er for­mulieren sollen — ist, dass es der Sprach­wis­senschaft bei­des egal sein kann; den Sprach­wis­senschaftlern bleibt es über­lassen, ob sie per­sön­lich einen gän­zlich unwis­senschaftliche Wehmut empfind­en, wenn bes­timmte Sprachen ster­ben oder auch bes­timmte sprach­liche Struk­turen verschwinden.

  35. Gerhard

    @ Bern­hard
    Doch, es gibt eine ziem­lich weitver­bre­it­ete Ten­denz, Sprachen zu ret­ten oder zu revi­tal­isieren. Der Begriff “drän­gen” war allerd­ings wahrschein­lich etwas unüber­legt gewählt.

  36. Bernhard

    @ Ger­hard
    Wie weit diese Ten­denz ver­bre­it­et ist, ver­mag ich nicht zu beurteilen. Aber in den Fällen, in denen ver­sucht wird, eine Sprache zu ret­ten, geht die Ini­tia­tive dazu doch nicht von irgendwelchen Wis­senschaftlern aus, die um ihr Forschung­sob­jekt ban­gen, son­dern von den­jeni­gen, die die Sprache gerne (wieder) sprechen möcht­en oder die die Sprache selb­st noch sprechen und sich wün­schen, dass auch ihre Kinder und Kinde­skinder das tun.

  37. David

    Wer als Lin­guist eine Sprache nur dess­we­gen bewahren will, um seinen Forschungs­ge­gen­stand nicht zu ver­lieren, hat in der Branche nichts verloren.

    Ich weiß nicht — welche Moti­va­tion sollte den Lin­guis­ten als Lin­guis­ten denn son­st dazu antreiben?

  38. David

    wegen
    Die Erset­zung von wegen+Genitiv zu wegen+Dativ ist übri­gens ein typ­is­ches Beispiel für eine sprach­wis­senschaftlich eher unin­ter­es­sante sprach­liche Verän­derung. Eine min­i­male Änderung des Lexikonein­trages der Prä­po­si­tion genügt, um eine Gram­matik entsprechend anzupassen.
    Inter­es­san­ter ist vielle­icht, daß das Phänomen den Gen­i­tiv all­ge­mein, also auch bei “gedenken”, “während” etc., bet­rifft. Aber auch da sind die sys­tem­a­tis­chen Anpas­sun­gen ähn­lich einfach.
    Wesentlich inter­es­san­ter scheint mir beispiel­sweise die in den let­zten Jahren kon­tinuier­lich gewach­sene Akzept­abil­ität des ‘Reflex­iv­pas­sivs’ wie in “Hier wird sich nicht übergeben”, da sie Pas­si­v­analy­sen vor ziem­liche Her­aus­forderun­gen stellen kann — vor allem dann, wenn man den Unter­schied zwis­chen Akzept­abil­ität und Nicht-Akzept­abil­ität der Kon­struk­tion in der Gram­matik para­me­ter­isieren möchte.
    Das ist übri­gens auch wieder ein Fall, in dem eine vorher nicht mögliche Kon­struk­tion Ver­bre­itung gefun­den hat anstatt umgekehrt.
    Nochmal all­ge­mein in die Runde gefragt: Gibt es gram­ma­tisch inter­es­sante Kon­struk­tio­nen im Deutschen, die derzeit im Ausster­ben begrif­f­en sind?

  39. Patrick Schulz

    @David
    zum ersten: Er kann auf Anfrage der verbleiben­den Sprech­er beip­iel­sweise die Sprache doku­men­tieren und Wörter­büch­er oder Gram­matiken für die Lern­er der Sprache erstel­llen… Er betreibt dann auch Bestandss­chutz, allerd­ings nicht (nur) aus Forschungs­drang son­dern eben auch um den Sprech­ern wenig­stens eine Chance zu geben, ihre Sprache am Leben zu hal­ten, wen­ngle­ich die Erfol­gsaus­sicht­en meist eher ger­ing sind. Übri­gens habe ich mir von eini­gen Feld­forsch­ern sagen lassen, dass manch­mal schon die reine Präsenz aus­re­icht um bei den Sprech­ern eine Art Stolz auf „ihre“ Sprache zu weck­en und sie als etwas Erhal­tenswertes und Inter­es­santes zu betrachten.
    zum zweit­en: Der Ersatz­in­fini­tiv. Der kommt mir in freier Wild­bahn kaum unter und ist aus the­o­retis­ch­er Sicht höchst inter­es­sant. (Ich weiß allerd­ings nicht, ob man sich so weit aus dem Fen­ster lehnen und behaupten sollte, dass die Kon­struk­tion am Ausster­ben ist…)

  40. Gerhard

    @ Bern­hard
    Wie weit diese Ten­denz ver­bre­it­et ist, ver­mag ich nicht zu beurteilen. Aber in den Fällen, in denen ver­sucht wird, eine Sprache zu ret­ten, geht die Ini­tia­tive dazu doch nicht von irgendwelchen Wis­senschaftlern aus, die um ihr Forschung­sob­jekt ban­gen, son­dern von den­jeni­gen, die die Sprache gerne (wieder) sprechen möcht­en oder die die Sprache selb­st noch sprechen und sich wün­schen, dass auch ihre Kinder und Kinde­skinder das tun.
    Suchen Sie mal ein­fach über Guggel nach “lan­guage revi­tal­i­sa­tion” oder Ähn­lichem. Da gibt es unzäh­lige Pro­jek­te, die natür­lich den betrof­fe­nen Gemein­schaften nicht aufok­troy­oiert wer­den, die aber von Sprach­wis­senschaftlern begleit­et und unter­stützt werden.
    Die Grup­pen, die sich für die Ret­tung ihrer meist mori­bun­den Sprache inter­essieren, sind nor­maler­weise sehr klein im Ver­hält­nis zur tat­säch­lich existieren­den Sprachge­mein­schaft und haben oft auch kaum Kon­takt zu tat­säch­lichen Mut­ter­sprach­lern. Let­ztere haben ihre Sprache ja meist bewusst zum Ster­ben verurteilt, indem sie sie nicht an die Kinder weit­ergegeben haben.

  41. David

    @Patrick Schulz:
    Es kann (und es wäre erfreulich, wenn es so ist) natür­lich ein men­schlich­es Inter­esse daran hinzukom­men, die verbleiben­den Mut­ter­sprach­ler beim Erhalt ihrer Sprache zu unter­stützen. Aber das ist ja für sich noch kein gen­uin lin­guis­tis­ches Inter­esse. Ob man es den­noch zwin­gend voraus­set­zen sollte, weiß ich nicht.
    Zum Ersatz­in­fini­tiv: Danke! Aber ist es wirk­lich so, daß er Dir inzwis­chen fast gar nicht mehr begeg­net? Sätze wie “Du hättest das nicht machen gedurft” kom­men mir jeden­falls noch sehr merk­würdig vor.

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