SMS-Kürzel im 19. Jahrhundert

Von Anatol Stefanowitsch

 

SMS-Kürzel aus dem 19. Jahrhundert

SMS-Kürzel aus dem 19. Jahrhundert

Vio­la hat mich auf einen Artikel im Guardian hingewiesen, in dem es um eine neue Ausstel­lung der British Library geht: Evolv­ing Eng­lish: One Lan­guage, Many Voic­es.

Die Ausstel­lung, die am 12. Novem­ber 2010 eröffnet wird und bis zum 3. April 2011 laufen wird, bietet einen umfassenden Ein­blick in die (doku­men­tierte) Geschichte der Englis­chen Sprache. Wertvolle Manuskripte aus den let­zten tausend Jahren wer­den dort eben­so zu bestaunen sein wie Tonauf­nah­men ver­schieden­er englis­ch­er Dialek­te aus der ganzen Welt.

Der Guardian freut sich aber am meis­ten über ein soge­nan­ntes „Emblema­tis­ches Gedicht“ aus dem 19. Jahrhun­dert, das dort zu sehen sein wird und das zeigt, dass die bei britis­chen Sprach­nör­glern beson­ders ver­has­sten SMS-Abkürzun­gen schon damals üblich waren:

… 130 years before the arrival of mobile phone tex­ting, Charles C Bom­baugh uses phras­es such as “I wrote 2 U B 4”. Anoth­er verse reads: “He says he loves U 2 X S,/ U R vir­tu­ous and Y’s,/ In X L N C U X L/ All oth­ers in his i’s.”

Für die Leser/innen des Sprachlogs ist mir kein Aufwand zu groß, deshalb habe ich das voll­ständi­ge Gedicht bei Google Books gesucht, gefun­den und abgetippt:

Essay to Miss Catharine Jay

An S A now I mean to write
To U, sweet K T J,
The girl with­out a ||,
The belle of U T K.

I 1 der if you got that 1
I wrote 2 U B 4
I sailed in the R K D A,
And sent by L N Moore.

My M T head will scarce contain
A calm I D A bright;
But A T miles from U I must
M︷ this chance 2 write.

And 1st, should N E N V U,
B E Z, mind it not;
Should N E friend­ship show, B true,
They should not be forgot.

But friends and foes alike D K,
As U may plain­ly C,
In every funer­al R A,
Or uncle’s L E G,

And if you can­not cut a —,
Or cause an !
I hope U ’ll put a .
2 1 ?

R U for an X ation 2,
My cous N? Heart and ☞
He off R’s in a ¶
A § 2 of land.

He says he loves U 2 X S,
U R vir­tu­ous and Y’s,
In X L N C U X L
All oth­ers in his i’s.

This S A, until U I C,
I pray U 2 X Q’s,
And do not burn in F E G
My young and way­ward muse.

Now fare U well dear K T J,
I trust that U R true;
When this U C then you can say,
An S A I O U.

Sprach­wis­senschaftlich ist zu diesem Gedicht nicht allzu­viel Inter­es­santes zu sagen. Wer einen Beleg brauchte, dass SMS-Kürzel kein Zeichen von Sprachver­fall son­dern eines von sprach­lich­er Kreativ­ität sind, der kann ihn in diesem Gedicht vielle­icht sehen.

Wem Sprach­spiel­ereien Spaß machen, der kann einen Son­nta­gnach­mit­tag damit ver­brin­gen, das Gedicht zu dekodieren. An eini­gen Stellen ist das sehr leicht, an anderen muss man ein biss­chen Nach­denken und Aus­pro­bieren. Mir bere­it­et im Moment die Zeile The girl with­out a || noch Kopfzerbrechen.

[Nach­trag (22. August 2010): Die obige Ver­sion ist nicht die aus Bom­baughs „Har­vest Fields of Lit­er­a­ture“, sie stammt aus dem Amer­i­can Pen­ny Mag­a­zine (Band 3) von 1847. Bom­baughs Ver­sion ist iden­tisch bis auf die fün­fte Stro­phe, die bei ihm fol­gen­der­maßen lautet:

From virt U nev R D V 8;
Her influ­ence B 9
A like induces 10 dern S,
Or 40 tude D vine.

Woher das Gedicht ursprünglich stammt, wird übri­gens in kein­er der Quellen angegeben.]

[Nach­trag (23. August 2010): Ein stark abwe­ichen­des aber eben­falls an „Cather­ine Jay aus Uti­ca“ gerichtetes Gedicht voller Kürzel find­et sich hier. (via Word Routes).]

[Nach­trag (26. August 2010): Hier meine Auflö­sung, unklare Stellen habe ich mit Frageze­ichen markiert:

An essay now I mean to write
To you, sweet Katie J,
The girl with­out a parallel,
The belle of Utica.

I won­der if you got that one
I wrote to you before
I sailed in the Arcadia,
And sent by Ellen/Allen Moore (?)

My emp­ty head will scarce contain
A calm idea bright;
But eighty miles from you must
Embrace this chance to write.

And first, should any envy you,
Be easy, mind it not;
Should any friend­ship show, be true,
They should not be forgot.

But friends and foes alike decay,
As you may plain­ly see,
In every funer­al array,
Or uncle’s elegy.

(From virtue nev­er deviate;
Her influ­ence benign
A like induces tendernes,
Or for­ti­tude divine.)

And if you can­not cut a dash,
Or cause an exclamation (?)
I hope you’ll put a period (?)
To one interrogation (?).

Are you for annex­a­tion too,
My cousin? Heart and hand
He offers in a paragraph
A sec­tion, too, of land.

He says he loves you to excess,
You are vir­tu­ous and wise,
In excel­len­cy you excel
All oth­ers in his eyes.

This essay, until you I see
I pray you to excuse,
And do not burn in effigy,
My young and way­ward muse.

Now fare you well dear Katie J,
I trust that you are true;
When this you see then you can say,
An essay I owe you.

Verbesserungsvorschläge sind natür­lich willkommen.]

BOMBAUGH, C.C. (1867) Har­vest-Fields of Lit­er­a­ture. A Melange of Excerp­ta, Curi­ous, Humor­ous and Instruc­tive. Bal­ti­more: T. New­ton Kurtz. [Google Books (Voll­text)]

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

13 Gedanken zu „SMS-Kürzel im 19. Jahrhundert

  1. Lars Fischer

    Defin­i­tiv “par­al­lel”
    Es reimen sich auch jew­eils nur Zeile 2 und 4.
    Das Ding ist ech ne harte Nuss. Sehr schön. ^^

  2. KRichard

    Dop­pel­strich
    Wenn der Dop­pel­strich für ´line´ ste­ht, dann wäre es ´das Mäd­chen ohne eine (Haut-)Falte´
    line = Leine, Lin­ie, Haut-Falte, Gren­ze — sagt mein Langenscheidt

  3. KRichard

    Dop­pel­strich, 2. Versuch
    Jet­zt war ich zu einfallslos.
    Das optis­che Dop­pel­strich-Zeichen dürfte für ´lane´ ste­hen = Gasse, Fahrspur.
    Wegen der ähn­lichen Aussprache wie ´line´ dürfte sich dann der Sinn ergeben.

  4. Willy Fritz

    The girl without …
    I think it should read:
    The girl with­out a Parallel.
    Kind reagards,
    Willy

  5. Willy Fritz

    The girl without…
    “par­al­lel” kön­nte eine Allit­er­a­tion mit “belle” sein.
    Kind regards,
    Willy

  6. Markus A. Dahlem

    Abtip­pen
    Danke für das Abtip­pen! (Das ist näm­lich wirk­lich dumme Arbeit, ich habe das Migräne-Gedicht “Geist im Tee” abgetippt, war nervig.)
    Ich habe wirk­lich Prob­leme den Text zu lesen (und bin wohl auch zu ungeduldig). Will jemand mal es übersetzen?
    [Eine Ver­sion in nor­maler Orthografie wird natür­lich fol­gen, aber ich will den Rates­paß jet­zt noch nicht verder­ben. — A.S.]

  7. Anatol Stefanowitsch

    ||
    Sehr schön, mir scheint par­al­lel plau­si­bel, da es in den Rhyth­mus der Zeile passt und inhaltlich plau­si­bel ist (to be with­out a par­al­lel ist eine fest­ste­hende Redewen­dung). Der interne Reim mit belle ist auch ein guter Hin­weis. Ich wäre nicht darauf gekom­men, weil ich mich zu sehr an dem Zeichen || ver­bis­sen habe, das ja die Bedeu­tung „Par­al­lel“ nicht hat (das kor­rek­te Zeichen wäre ∥). Aber natür­lich darf man hier nicht unbe­d­ingt von der heuti­gen Bedeu­tung der Zeichen ausgehen.

  8. Hans-Werner

    par­al­lel
    “par­al­lel” scheint mir die richtige Über­set­zung zu sein. Ich habe nach der Über­schrift gegoogelt und diese Seite gefun­den: http://www.visualthesaurus.com/…ordroutes/2398/. Wenn man im Text dem Link auf die Ver­sion des Gedichts seit 1847 fol­gt, find­et man einen Abdruck in “Dwight’s Amer­i­can mag­a­zine, and…”. Dort sind die bei­den Striche tat­säch­lich eng nebeneinan­der. In einem weit­eren Link wird auf eine frühere Ver­sion ver­wiesen. Dort find­et man eben­falls zwei Striche, die aber wohl eher zwei große i sind, also eine römis­che 2. Der Abstand ist hier auch größer.

  9. Pansen

    Kann mann
    A.S. schrieb:
    “Wer einen Beleg brauchte, dass SMS-Kürzel kein Zeichen von Sprachver­fall son­dern eines von sprach­lich­er Kreativ­ität sind, der kann ihn in diesem Gedicht vielle­icht sehen.”
    Alter­na­tiv kann man darin auch sehen, dass es zu jed­er Zeit “Sprachver­fall” (was auch immer das nun heißen mag) gegeben hat.
    Mich stört ein­fach dieses gan­den­lose Hochloben jeglich­er Form von Sprache Seit­ens der Lin­guis­ten. Unab­hängig davon, dass soet­was aus wis­senschaftlich­er Sicht vielle­icht toll ist, kann ich jeden ver­ste­hen, der solche Textfor­men nicht mag oder als Kreativ­ität anerken­nen möchte.
    Gruß
    Pansen

  10. Jens

    Auch wenn’s spät kommt…
    Statt “I hope you’ll put a peri­od” wäre auch “I hope you’ll put a stop” oder “I hope you’ll put a full stop” möglich – schließlich heißt der Punkt im Britis­chen Englisch “full stop”.
    Diese Vari­anten wären m.E. sprach­lich schön­er, allerd­ings schmiegt sich “peri­od” bess­er ins Versmaß.

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