Wörterwahl nach Wutsherrenart

Von Anatol Stefanowitsch

Ich habe ja nie ein Geheim­nis daraus gemacht, dass ich wenig Begeis­terung für die Wahl von Wörtern zum Wort, Unwort, Jugend­wort oder über­flüs­sig­sten Wort des Jahres oder Monats, zum schön­sten aus­ge­wan­derten oder einge­wan­derten oder zum schön­sten Wort über­haupt auf­brin­gen kann. Ich habe ja nichts gegen Wörter. Viele mein­er besten Fre­unde sind Wörter. Aber, das wird man ja wohl noch sagen dür­fen, ausze­ich­nen sollte man keins von ihnen. Wörter sollen ihre Arbeit erledi­gen, näm­lich, uns beim Reden zu helfen, und davon abge­se­hen sollen sie uns in Ruhe lassen.

Das gilt natür­lich auch für das gestern von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum „Wort des Jahres 2010“ gekürte Wut­bürg­er. Aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht ist das Wort ohne­hin völ­lig unin­ter­es­sant; es ist ein ganz nor­males Nom­i­nalkom­posi­tum, von denen das Deutsche eins pro Sekunde prä­gen kön­nte, wenn es nur wollte. Und es wollte schon oft: ich nenne nur bespiel­haft Ehren­bürg­er, Schild­bürg­er, Spießbürg­er, Welt­bürg­er, Bun­des­bürg­er, Erden­bürg­er, Net­zbürg­er, Pfahlbürg­er, Cheese­bürg­er und Staats­bürg­er.

Nein, aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht wäre das auf einem abgeschla­ge­nen sech­sten Platz gelandete schot­tern deut­lich inter­es­san­ter gewe­sen, dessen ungewöhn­liche struk­turelle und seman­tis­che Eigen­schaften meine Kolleg/innen Alexan­der Lasch und Juliana Goschler schon im Novem­ber in unserem Nis­chen­blog „Kon­struk­tion­s­gram­matik“ disku­tiert haben.

Aber der Gesellschaft für deutsche Sprache geht es bei der Wörter­wahl ja (lei­der) auch gar nicht darum, der Öffentlichkeit die Eigen­heit­en, oder von mir aus auch die Schön­heit der deutschen Sprache näherzubrin­gen. Stattdessen ver­sucht man dort alljährlich, auf­fäl­lige gesellschaftliche Strö­mungen des zu Ende gehen­den Jahres an einem Wort festzu­machen. Warum, das habe ich nie ganz ver­standen. Soll damit die betr­e­f­fende Strö­mung noch ein­mal gewürdigt oder an den Pranger gestellt wer­den? Oder will man uns zeigen, dass neue Dinge — welche Über­raschung — neue Wörter brauchen und bekommen?

Wie dem auch sei, beim Wut­bürg­er, das sei noch gesagt, hat die Gesellschaft nicht sehr genau hinge­se­hen. Hier die Begrün­dung für die Auszeichnung:

Als Wort des Jahres wurde Wut­bürg­er gewählt. Diese Neu­bil­dung wurde von zahlre­ichen Zeitun­gen und Fernsehsendern ver­wen­det, um ein­er Empörung in der Bevölkerung darüber Aus­druck zu geben, dass poli­tis­che Entschei­dun­gen über ihren Kopf hin­weg getrof­fen wer­den Das Wort doku­men­tiert ein großes Bedürf­nis der Bürg­erin­nen und Bürg­er, über ihre Wahlentschei­dung hin­aus ein Mit­spracherecht bei gesellschaftlich und poli­tisch rel­e­van­ten Pro­jek­ten zu haben. 

Das ist, sagen wir es mal so, eine sehr pos­i­tive Sicht darauf, wozu „zahlre­iche Zeitun­gen und Fernsehsender“ das Wort ver­wen­den. Tat­säch­lich hat es in der pop­ulärge­wor­de­nen aktuellen Ver­wen­dung der Spiegel-Autor Dirk Kur­b­juweit ins Spiel gebracht, und der hat es ver­wen­det, um eine wenig nachvol­lziehbare Par­al­lele zwis­chen Sar­razin-Unter­stützern und Stuttgart-21-Geg­n­ern zu ziehen, indem er bei­de als „buhende“, „schreiende“ und „has­sende“, „kon­ser­v­a­tive“ und über die Poli­tik „zutief­st empörte“ Gestal­ten darstellt — so eine Art deutsches Ana­log zur amerikanis­chen „Tea-Par­ty-Bewe­gung“.

Auch in der Folge hat die Presse das Wort dann haupt­säch­lich ver­wen­det, um rel­a­tiv undif­feren­ziert über die Proteste um den Stuttgarter Kopf­bahn­hof und ein paar andere mehr oder weniger ver­gle­ich­bare Protest­si­t­u­a­tio­nen zu schreiben. Dabei ging es weniger darum, ein „Bedürf­nis“ nach „Mit­spracherecht“ darzustellen, son­dern vielmehr darum, die Protestieren­den pauschal abzu­urteilen (wom­it ich gar nicht sagen will, dass unter diesen nicht tat­säch­lich ein paar Wut­bürg­er zu find­en sind).

Den „über­wiegend polemis­chen Sinn“, so schreibt taz-Autor Ben­no Schirrmeis­ter heute in der taz Bre­men „hat die GfdS nicht erfasst“. Und da muss man ihm Recht geben. Schirrmeis­ter ist in der ganzen Diskus­sion um das Wort bish­er sowieso zu kurz gekom­men, denn tat­säch­lich ist er, und nicht Dirk Kur­b­juweit, der Schöpfer dieses Wortes: Seit dem 20. Novem­ber 2007 ver­wen­den er und die Bre­mer taz das Wort als (eben­falls polemisierende) Kurz­form für die Schill-Nach­fol­gepartei „Bürg­er in Wut“, die in der Bre­mer Bürg­er­schaft und in der Stadtverord­neten­ver­samm­lung Bre­mer­haven vertreten ist und mit der Stuttgarter Abnei­gung gegen einen zeit­gemäßen Haupt­bahn­hof wenig zu tun hat.

Schirrmeis­ter fordert auf­grund der falschen Bedeu­tung, mit der die GfdS den Aus­druck Wut­bürg­er verse­hen hat, einen Wider­ruf der Wahl zum „Wort des Jahres“. Aber das wäre irgend­wie auch gemein. Ich weiß aus gut unter­richteten Kreisen, dass diese uner­wartete Ausze­ich­nung dem Selb­st­wert­ge­fühl des geschun­de­nen Wortes sehr gut getan hat, und dass es einen Teil des Preis­geldes schon als Anzahlung für ein hüb­sches Plätzchen in der näch­sten Auflage des Duden ver­wen­det hat. Es will näm­lich endlich aus sein­er engen Worthülse ausziehen und ein ganz neues Leben anfangen.

 

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

11 Gedanken zu „Wörterwahl nach Wutsherrenart

  1. Gareth

    Das Wort Wut­bürg­er habe ich das erste Mal gehört, als es zum Wort des Jahres gekürt wurde. So viel zu sein­er Verwendungshäufigkeit…

  2. Texts for Robots

    Wut­bürg­er“: Eine Prämie für Polemik… Der Sprach­wis­senschaftler Ana­tol Ste­fanow­itsch meint allerd­ings, die GfdS habe beim Gebrauch des Wortes „Wut­bürg­er“ durch „zahlre­iche Zeitun­gen und Fernsehsender“ etwas missverstanden. …

  3. Christoph Päper

    Schlag- und Modewörter
    Ich hat­te Wut­bürg­er (und auch das neunt­platzierte Femi­tain­ment) vorher auch noch nicht gehört oder gele­sen und erwarte das auch zukün­ftig nicht zu tun.
    Tat­säch­lich geht es bei der „Wahl“ zum „Wort des Jahres“ nicht um Wörter an sich, son­dern besten­falls um Schlag­wörter, schlecht­esten­falls um (deren Ober­menge) Mod­ewörter, die Neol­o­gis­men sein kön­nen, aber nicht müssen. Bei­de Typen sind natür­lich auch für (Polito-/Sozio-)Linguisten inter­es­sant, nicht so sehr, wenn man sich nur mit Mor­pholo­gie und Kon­sorten beschäftigt.
    Wenn man sich mal die Nachricht­en-Spalte im Google Zeit­geist anschaut – bei Twit­ter habe ich nichts DE-spez­i­fis­ches gefun­den –, sieht man, dass immer­hin ein paar Begriffe der GfdS-Liste (indi­rekt) auftauchen:
    2. Stuttgart 21 auf Platz 4.
    7. Aschewolke eben­falls Platz 7, daneben Haiti als weit­ere Naturkatas­tro­phe auf 9.
    8. Vuvuzela, die Fußball-WM war Top­suchthe­ma 2010 weltweit.
    PS: Ich habe abso­lut keine Ahnung, wer Menowin Fröh­lich und Daniela Katzen­berg­er sind oder was in (FC) Bay­ern beson­deres los war.

  4. Domingos

    Ich kenne nur Gutmensch
    Gut­bürg­er habe ich bewusst noch nicht gele­sen und ich lese viel. Ist Gut­bürg­er die neue Form von Gutmensch?
    Aber warum die Gesellschaft das macht, kann ich beant­worten, Medienaufmerksamkeit.

  5. Klausi

    Wörter­wahl
    “Nein, aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht wäre das auf einem abgeschla­ge­nen sech­sten Platz gelandete schot­tern deut­lich inter­es­san­ter gewesen…”
    Nicht nörgeln, son­dern mit­machen, kön­nte man darauf antworten. Die Laien­schar der Gesellschaft für deutsche Sprache kön­nte ein paar aus­gewiesene Fach­leute sicher­lich noch gut gebrauchen.

  6. Paul

    Bürg­er in Wut
    Nur mal so zur Richtig­stel­lung: Die „Bürg­er in Wut“ sind erstens keine Partei, son­dern eine Wäh­lervere­ini­gung. Zweit­ens han­delt es sich bei „Bürg­er in Wut“ auch nicht um eine Nach­fol­ge­or­gan­i­sa­tion der Schill-Partei, son­dern allen­falls um eine Abspal­tung. Denn die „Bürg­er in Wut“ wur­den schon 2004 gegrün­det, die Partei Rechtsstaatlich­er Offen­sive (vul­go Schill-Partei) aber erst im Okto­ber 2007 aufgelöst.

  7. Michael Kuhlmann

    Zum “Spiegel”
    Es ist beze­ich­nend, dass der Spiegel-typ­is­che Begriff zum Wort des Jahres gewählt wurde. Sind doch die Zeit­en, als der Spiegel ein kri­tis­ches Nachricht­en­blatt war, lange vor­bei. Derzeit liest man dort nur noch Het­z­pam­phlete gegen Kli­maschützer, Cas­tor-Geg­n­er und eben gegen S21-Gegner.
    Da wird dann ein rel­a­tiv sach­lich­er Artikel abge­druckt, in dem auch die Argu­mente der Kopf­bahn­hof­be­für­worter gut zur Sprache kom­men, und dann wird in ein­er seit­en­lan­gen “Mei­n­ung” dargelegt, dass das doch alles nur maulende Meck­er­fritzen wären, die die Prob­leme nur woan­ders, aber nicht bei sich selb­st haben wollen.
    Dass dieses Schund­blatt weit­er­hin als ser­iös­es Nachricht­en­magazin wahrgenom­men wird, ist das trau­rige daran.

  8. bes

    Ruh­e­s­tand
    ist eine gute Anre­gung: Die Wahlanfech­tung war so ’ne bremis­che Anspielung, weil die Wut­ler sein­erzeit ihr Man­dat in der dor­ti­gen Bürg­er­schaft (Land­tag), nach­dem sie zunächst mit kuriosen 4.9981956 Prozent die Fünf­prozen­thürde in Bre­mer­haven geris­sen hat­ten — das ist so ähn­lich wie bei Men­sch-ärg­er-dich-nicht auf dem Feld vorm Häuschen raus­geschmis­sen zu wer­den — auf­grund ein­er erfol­gre­ichen Wahlbeschw­erde und ein­er Wieder­hol­ungswahl in einem Stimm­bezirk errun­gen haben. Zur Präzisierung: Wahlvere­ini­gung ist kor­rekt. Und: Der ober­ste Wut­ler war Bre­mer Lan­desvor­sitzen­der der Schill-Partei..

  9. Gregor

    Was soll das — außer PR?
    Ich frage mich bei solchen Wahlen immer, wer denn diese Juroren sind. Da erk­lärt eine Gruppe selb­ster­nan­nter Experten einen Begriff, der von Jour­nal­is­ten oder Poli­tik­ern geprägt wird, zum Wort oder Unwort des Jahres, und die Medi­en bericht­en darüber wie über den Nobel­preis. Es wurde ja hier schon dargelegt, wie weit ab von der Real­ität diese Entschei­dun­gen im Falle der ange­blichen “Jugend-Wörter” liegen. (Man kön­nte eigentlich auch selb­st ein paar neue Wörter erfind­en und sie dann auch gle­ich pre­mieren.) Aber offen­bar brauchen die Medi­en solche Wahlen, und die Jour­nal­is­ten behaupten wie immer dreist, die Leser/Zuschauer/Zuhörer wollen das so. Es wird ja auch über­all eil­fer­tig darüber bere­ichtet, wenn irgend ein Klatschblatt die immer gle­ichen Promis zum schön­sten, ero­tis­chsten, best- oder schlecht­es­tange­zo­ge­nen Stars kürt. Also lohnt es sich aus PR-Sicht auch, solche Wahlen zu veranstalten.

  10. corax

    ’schot­tern’
    Schot­tern war für mich immer ein stin­knor­maler, tagtäglich­er Begriff aus dem Garten- und Land­schafts­bau bzw. Straßen­bau, Tiefbau.
    Er bedeutet, auf dem aus­ge­hobe­nen Unter­gund bei Bau­maß­nah­men das Auf­brin­gen der Tragschicht aus, taraaaa ‘Schot­ter’. Beispiel­sweise einem Min­er­al­gemisch aus Hartkalk­stein der Korn­größe 0 bis 45 mm oder einem Recy­cling­ma­te­r­i­al der sel­ben Korngöße. Kurz HKS 0/45 oder RCL 0/45.
    Damit war für mich als Land­schafts­gärt­ner immer das ‘Auf­brin­gen’ oder ‘Auf­tra­gen’ von Schot­ter gemeint. Weshalb mich das ‘Cas­tor schot­tern’ welch­es das ‘Abtra­gen’ oder ‘Ent­fer­nen’ von Schot­ter meinen soll von Anfang an stark irritierte.

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