Spiegel online berichtet darüber, dass ein Pfarrer eine Todesanzeige für Jesus geschaltet hat und zur Gedenkfeier einlädt. So weit, so trivial. Allerdings ist der Text mit einem Bild der Anzeige illustriert, und das fand ich spannend. Da heißt es nämlich:
Wir gedenken an den Tod von
Jesus Ben Josef
genannt der “König der Juden”
*04 v. Chr. †34 n. Chr.
Das Verb gedenken in der Bedeutung ‘sich ehrfurchtsvoll erinnern an’ geht in meinem Kopf nämlich nur mit einem Objekt im Genitiv oder Dativ zusammen, also Wir gedenken des Todes von … oder Wir gedenken dem Tod von … Letzteres noch nicht ganz so salonfähig, aber ich prognostiziere gute Aussichten, weil wir generell Genitivobjekte abbauen. (Auch wenn sich der unsägliche Bastian Sick dabei im Grab umdr darüber geifernd ereifert.)
Erster Gedanke also: Man hat hier an denken oder die Wendung in Gedenken an gedacht und Konsequenzen daraus gezogen. Zweiter Gedanke: Stop! Wer weiß, das kann auch alt sein. Die meisten sprachlichen Phänomene erweisen sich ja bei näherer Betrachtung als viel älter als vermutet. Das Language Log hat dafür die schöne Bezeichnung recency illusion.
Wo schaut man alte Sachen nach? Ich habe das Grimmsche Wörterbuch herangezogen und bin tatsächlich fündig geworden.
Ein Wort, viele Bedeutungen
Zunächst einmal lässt sich gedenken in mindestens drei Teilbedeutungen trennen:
- die Erinnerungsbedeutung, um die es hier geht,
- der einfache Denkbedeutung, die heute nicht mehr gebräuchlich ist und
- die Absichtsbedeutung (Ich gedenke nicht zum Gottesdienst zu gehen).
Während die Erinnerungsbedeutung heute ziemlich stark darauf eingeschränkt ist, Verstorbenen oder abstrakten Ereignissen zu gedenken, ist sie im Grimmschen Wörterbuch noch nicht so speziell erfasst. Unter 6) wird da angegeben: “zurück denken, sich erinnern, eingedenk sein”.
Ein gar nicht monogames Verb
In dieser Bedeutung nimmt das Verb in erster Linie den Genitiv:
aber gedenk meiner, wenn dirs wol gehet. (1 Mose 40,14)
‘aber erinnere dich an mich, wenn es dir gut geht’
Nicht gerechnet hatte ich mit einem blanken Akkusativ, aber seht selbst (besonders beliebt war das wohl mit es):
ich gedenks wol.
‘ich erinnere mich gut daran’
Und … ja … auch die an-Präpositionalphrase macht mit, früheste Belege im 16. Jahrhundert:
gedenk an uns.
‘erinnere dich an uns’er gedacht an sein heiliges wort (Ps 105,42)
‘er erinnerte sich an sein heiliges Wort’
Biblische Gedenkereien
Gerade das letzte Beispiel ist super, weil aus der vielfach neu übersetzten oder aktualisierten Bibel. Ich habe mir diesen Psalm einmal genauer angesehen. Von gedenken ist darin dreimal die Rede. In der Lutherbibel (1545) sind zwei der Stellen mit an, eine mit Genitiv:
- Gedencket seiner Wunderwerck / die er gethan hat / Seiner Wunder vnd seines Worts (Vers 5)
- Er gedenckt ewiglich an seinen Bund (Vers 8)
- Denn er gedacht an sein heiliges Wort (Vers 42)
Das schreit danach, die ganze Lutherbibel systematisch zu durchsuchen (gibt’s ja elektronisch), ich verzichte aus Zeitgründen mal darauf. Was ich aber stattdessen gemacht habe, ist eine kurze Suche in anderen Bibelübersetzungen. Die beiden anderen Bibeln des 16. Jahrhunderts, die ich gecheckt habe, zeigen ebenfalls an-Konstruktionen.
So hat die Zürcher Bibel von 1534 (dort ist es Psalm 104):
- Gedenckend an seine grosse wunderthaten / an die wunder die er gethon hat: vnd an die vrteil die er mitt seinem mund gesprochen hat
- & 3. sind anders übersetzt (mit eingedenk sein)
Und Dietenberger 1534 (aber hier nach einer Ausgabe von 1556, und ebenfalls Psalm 104) zeigt die gleiche Verteilung wie Luther:
- Gedenckt seiner wunderwerck / die er gethan hatt / seiner wunderwerck vnd gerichten seines munds
- Er gedenckt ewiglich an seinen bund
- Denn er gedacht an sein heiliges Wort
Modernere Übersetzungen wie die Elberfelder Bibel (1871) haben i.d.R. zugunsten dem des Genitivs eingegriffen, alle drei Stellen sind an-frei. Ebenso die Menge-Bibel (1939). Aber das muss nicht immer so sein: In der Schlachter-Bibel (1905) ist alles be-an-t!
Wirklich aktuelle Fassungen haben sich des Verbs dann völlig entledigt, denn in keinem der drei Kontexte würde man heute noch ernsthaft gedenken benutzen. So nimmt die Einheitsübersetzung (1970er/80er) denken an, die Gute Nachricht (1997) erinnern an bzw. ganz andere Formulierungen.
Und heute?
Okay, langer Exkurs, zurück zur Jesus’schen Todesanzeige: Der Verfasser ist evangelischer Pfarrer, es könnte also gut sein, dass er vom lutherbiblischen an beeinflusst wurde. Genauso kann es sich aber um eine neue, davon unabhängige Entwicklung handeln, oder gar einfach um einen Fehler.
Ich habe mal im DWDS-Kernkorpus (1900–1999) nach gedenken an gesucht (“gedenken #5 an” und “an #5 @gedenk*” ) und die Treffer manuell durchkämmt, um zu testen, ob so etwas schriftsprachlich vorkommt. Das Ergebnis: 5 Stellen, die aktuellste von 1955:
1955: In Ehre gedenken wir alle an seinen parteiverbundenen Charakter (Klemperer, [Tagebuch] 1955, S. 490)
1922: … wir … fuhren den Nachmittag durch die Dardanellen hindurch, an Leander gedenkend, … (Deussen, Mein Leben, Leipzig, S. 19074)
1911: Mit jenem warmen Gefühl aber im Herzen, womit wir an Großmutter und Großvater gedenken, ... (Harms, Bei den Veteranen der Technik, in: Berliner Tageblatt (Abend-Ausgabe) 03.03.1911, S. 2)
1907: Grüß mir meinen lieben Andreas und all die Andren, an die ich so gerne gedenke. (Brief von Wilhelm Busch an Grete Thomsen vom 12.05.1907, S. 5766)
1904: Jeden Abend, wenn ich mein Täßchen trinke, werd ich dabei dankbar an Frankfurt gedenken. (Brief von Wilhelm Busch an Johanna Keßler vom 15.12.1904, S. 5625)
Alle Belege mit Ausnahme des Zeitungsartikels stammen aus privaten Dokumenten – vielleicht ein Hinweis darauf, dass die Verwendung eher mündlicher Natur war? (Oder darauf, dass das Korpus zu klein ist …) Die beiden Busch-Belege haben meiner Meinung nach auch noch nicht den ehrenvollen Zusatz, hier handelt es sich eher um die weite Erinnerungsbedeutung.
Obwohl das DWDS keine aktuelleren Treffer liefert, finden sich auch heute massenhaft Verwendungen von gedenken an, wie eine schnelle Google-Suche mit der Einschränkung auf das letzte Jahr zeigt. Willkürlich herausgegriffen:
Wir gedenken an die Opfer dieses Unglückes und hoffen, dass der Zustand sich bald möglichst verbessert. (Quelle)
Wir gedenken an die Toten. (Quelle)
Wir Gedenken an unseren Freund und Bekannten. (Quelle)
Wir gedenken an all die schönen Augenblicke, die Ihr uns geschenkt habt. (Quelle)
Diese Formen existieren also, und sie werden von so vielen Menschen verwendet, dass man sie nicht als einzelne Fehler abtun kann. Ob es sich um eine die ganze Zeit bewahrte ältere Variante oder um eine neue Entwicklung handelt, oder gar um beides, d.h. dass eine seltenere Variante an Verwendungshäufigkeit gewinnt, vermag ich momentan leider nicht zu sagen. Wenn ich nicht für heute genug gedacht hätte, würde ich mir den Spaß noch bei Cosmas II anschauen und zudem gedenken mit Dativ heranziehen – so aber verabschiede ich mich in die Osterfeiertage!

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