Wir gedenken an den Tod von Jesus

Von Kristin Kopf

Spiegel online berichtet darüber, dass ein Pfar­rer eine Tode­sanzeige für Jesus geschal­tet hat und zur Gedenk­feier ein­lädt. So weit, so triv­ial. Allerd­ings ist der Text mit einem Bild der Anzeige illus­tri­ert, und das fand ich span­nend. Da heißt es nämlich:

Wir gedenken an den Tod von

Jesus Ben Josef

genan­nt der “König der Juden”
*04 v. Chr. †34 n. Chr.

Das Verb gedenken in der Bedeu­tung ‘sich ehrfurchtsvoll erin­nern an’ geht in meinem Kopf näm­lich nur mit einem Objekt im Gen­i­tiv oder Dativ zusam­men, also Wir gedenken des Todes von … oder Wir gedenken dem Tod von … Let­zteres noch nicht ganz so salon­fähig, aber ich prog­nos­tiziere gute Aus­sicht­en, weil wir generell Gen­i­tivob­jek­te abbauen. (Auch wenn sich der unsägliche Bas­t­ian Sick dabei im Grab umdr darüber geifer­nd ereifert.)

Erster Gedanke also: Man hat hier an denken oder die Wen­dung in Gedenken an gedacht und Kon­se­quen­zen daraus gezo­gen. Zweit­er Gedanke: Stop! Wer weiß, das kann auch alt sein. Die meis­ten sprach­lichen Phänomene erweisen sich ja bei näher­er Betra­ch­tung als viel älter als ver­mutet. Das Lan­guage Log hat dafür die schöne Beze­ich­nung recen­cy illu­sion.

Wo schaut man alte Sachen nach? Ich habe das Grimm­sche Wörter­buch herange­zo­gen und bin tat­säch­lich fündig geworden.

Ein Wort, viele Bedeutungen

Zunächst ein­mal lässt sich gedenken in min­destens drei Teilbe­deu­tun­gen trennen:

  • die Erin­nerungs­be­deu­tung, um die es hier geht,
  • der ein­fache Denkbe­deu­tung, die heute nicht mehr gebräuch­lich ist und
  • die Absichts­be­deu­tung (Ich gedenke nicht zum Gottes­di­enst zu gehen).

Während die Erin­nerungs­be­deu­tung heute ziem­lich stark darauf eingeschränkt ist, Ver­stor­be­nen oder abstrak­ten Ereignis­sen zu gedenken, ist sie im Grimm­schen Wörter­buch noch nicht so speziell erfasst. Unter 6) wird da angegeben: “zurück denken, sich erin­nern, einge­denk sein”.

Ein gar nicht monogames Verb

In dieser Bedeu­tung nimmt das Verb in erster Lin­ie den Genitiv:

aber gedenk mein­er, wenn dirs wol gehet. (1 Mose 40,14)
‘aber erin­nere dich an mich, wenn es dir gut geht’

Nicht gerech­net hat­te ich mit einem blanken Akkusativ, aber seht selb­st (beson­ders beliebt war das wohl mit es):

ich gedenks wol.
‘ich erin­nere mich gut daran’

Und … ja … auch die an-Prä­po­si­tion­alphrase macht mit, früh­este Belege im 16. Jahrhundert:

gedenk an uns.
‘erin­nere dich an uns’

er gedacht an sein heiliges wort (Ps 105,42)
‘er erin­nerte sich an sein heiliges Wort’

Biblische Gedenkereien

Ger­ade das let­zte Beispiel ist super, weil aus der vielfach neu über­set­zten oder aktu­al­isierten Bibel. Ich habe mir diesen Psalm ein­mal genauer ange­se­hen. Von gedenken ist darin dreimal die Rede. In der Luther­bibel (1545) sind zwei der Stellen mit an, eine mit Genitiv:

  1. Gedenck­et sein­er Wun­der­w­er­ck / die er geth­an hat / Sein­er Wun­der vnd seines Worts (Vers 5)
  2. Er gedenckt ewiglich an seinen Bund (Vers 8)
  3. Denn er gedacht an sein heiliges Wort (Vers 42)

Das schre­it danach, die ganze Luther­bibel sys­tem­a­tisch zu durch­suchen (gibt’s ja elek­tro­n­isch), ich verzichte aus Zeit­grün­den mal darauf. Was ich aber stattdessen gemacht habe, ist eine kurze Suche in anderen Bibelüber­set­zun­gen. Die bei­den anderen Bibeln des 16. Jahrhun­derts, die ich gecheckt habe, zeigen eben­falls an-Kon­struk­tio­nen.

So hat die Zürcher Bibel von 1534 (dort ist es Psalm 104):

  1. Gedenck­end an seine grosse wun­derthat­en / an die wun­der die er geth­on hat: vnd an die vrteil die er mitt seinem mund gesprochen hat
  2. & 3. sind anders über­set­zt (mit einge­denk sein)

Und Dieten­berg­er 1534 (aber hier nach ein­er Aus­gabe von 1556, und eben­falls Psalm 104) zeigt die gle­iche Verteilung wie Luther:

  1. Gedenckt sein­er wun­der­w­er­ck / die er geth­an hatt / sein­er wun­der­w­er­ck vnd gericht­en seines munds
  2. Er gedenckt ewiglich an seinen bund
  3. Denn er gedacht an sein heiliges Wort

Mod­ernere Über­set­zun­gen wie die Elber­felder Bibel (1871) haben i.d.R. zugun­sten dem des Gen­i­tivs einge­grif­f­en, alle drei Stellen sind an-frei. Eben­so die Menge-Bibel (1939). Aber das muss nicht immer so sein: In der Schlachter-Bibel (1905) ist alles be-an-t!

Wirk­lich aktuelle Fas­sun­gen haben sich des Verbs dann völ­lig entledigt, denn in keinem der drei Kon­texte würde man heute noch ern­sthaft gedenken benutzen. So nimmt die Ein­heit­süber­set­zung (1970er/80er) denken an, die Gute Nachricht (1997) erin­nern an bzw. ganz andere Formulierungen.

Und heute?

Okay, langer Exkurs, zurück zur Jesus’schen Tode­sanzeige: Der Ver­fass­er ist evan­ge­lis­ch­er Pfar­rer, es kön­nte also gut sein, dass er vom luther­bib­lis­chen an bee­in­flusst wurde. Genau­so kann es sich aber um eine neue, davon unab­hängige Entwick­lung han­deln, oder gar ein­fach um einen Fehler.

Ich habe mal im DWDS-Kernko­r­pus (1900–1999) nach gedenken an gesucht (“gedenken #5 an” und “an #5 @gedenk*” ) und die Tre­f­fer manuell durchkämmt, um zu testen, ob so etwas schrift­sprach­lich vorkommt. Das Ergeb­nis: 5 Stellen, die aktuell­ste von 1955:

1955: In Ehre gedenken wir alle an seinen parteiver­bun­de­nen Charak­ter (Klem­per­er, [Tage­buch] 1955, S. 490)

1922: … wir … fuhren den Nach­mit­tag durch die Dar­d­anellen hin­durch, an Lean­der gedenk­end, … (Deussen, Mein Leben, Leipzig, S. 19074)

1911: Mit jen­em war­men Gefühl aber im Herzen, wom­it wir an Groß­mut­ter und Groß­vater gedenken, ... (Harms, Bei den Vet­er­a­nen der Tech­nik, in: Berlin­er Tage­blatt (Abend-Aus­gabe) 03.03.1911, S. 2)

1907: Grüß mir meinen lieben Andreas und all die Andren, an die ich so gerne gedenke. (Brief von Wil­helm Busch an Grete Thom­sen vom 12.05.1907, S. 5766)

1904: Jeden Abend, wenn ich mein Täßchen trinke, werd ich dabei dankbar an Frank­furt gedenken. (Brief von Wil­helm Busch an Johan­na Keßler vom 15.12.1904, S. 5625)

Alle Belege mit Aus­nahme des Zeitungsar­tikels stam­men aus pri­vat­en Doku­menten – vielle­icht ein Hin­weis darauf, dass die Ver­wen­dung eher mündlich­er Natur war? (Oder darauf, dass das Kor­pus zu klein ist …) Die bei­den Busch-Belege haben mein­er Mei­n­ung nach auch noch nicht den ehren­vollen Zusatz, hier han­delt es sich eher um die weite Erinnerungsbedeutung.

Obwohl das DWDS keine aktuelleren Tre­f­fer liefert, find­en sich auch heute massen­haft Ver­wen­dun­gen von gedenken an, wie eine schnelle Google-Suche mit der Ein­schränkung auf das let­zte Jahr zeigt. Willkür­lich herausgegriffen:

Wir gedenken an die Opfer dieses Unglück­es und hof­fen, dass der Zus­tand sich bald möglichst verbessert. (Quelle)

Wir gedenken an die Toten. (Quelle)

Wir Gedenken an unseren Fre­und und Bekan­nten. (Quelle)

Wir gedenken an all die schö­nen Augen­blicke, die Ihr uns geschenkt habt. (Quelle)

Diese For­men existieren also, und sie wer­den von so vie­len Men­schen ver­wen­det, dass man sie nicht als einzelne Fehler abtun kann. Ob es sich um eine die ganze Zeit bewahrte ältere Vari­ante oder um eine neue Entwick­lung han­delt, oder gar um bei­des, d.h. dass eine sel­tenere Vari­ante an Ver­wen­dung­shäu­figkeit gewin­nt, ver­mag ich momen­tan lei­der nicht zu sagen. Wenn ich nicht für heute genug gedacht hätte, würde ich mir den Spaß noch bei Cos­mas II anschauen und zudem gedenken mit Dativ her­anziehen – so aber ver­ab­schiede ich mich in die Osterfeiertage!

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