Auch in 2012 darf man „in 2012“ sagen

Von Anatol Stefanowitsch

Im Zuge der Nominierun­gen zum Anglizis­mus des Jahres ist auch die Ver­wen­dung von in mit Jahreszahlen nominiert. „Es ist für mich der kle­in­ste aber wider­wär­tig­ste Anglizis­mus, den jedes hal­bakademis­che Bull­shit­bin­goopfer in jed­er Besprechung allzu häu­fig ver­wen­det“, schreibt der Nominierende. „Warum müssen wir in unserem Sprachge­brauch ein Wort ein­fü­gen, wo es bei uns gar nicht notwendig ist? Das hat­ten wir bere­its 2010 disku­tiert und nicht in 2010 – meinetwe­gen im Jahre 2010.“

Mit dieser Abnei­gung ist er nicht allein. Immer wieder wird behauptet, dass es sich dabei um einen „lästi­gen Anglizis­mus“ aus dem „Wirtschaft­s­jar­gon“ han­delt, der von „schlechtem Stil zeugt“, und dass er zwar „weit ver­bre­it­et“ aber „tat­säch­lich falsch“ sei.

Trotz­dem hat die Kon­struk­tion im Wet­tbe­werb keine Chance. Denn erstens ist sie schlicht zu alt, wie diese Beispiele zeigen:

  • Aus „Die Löbliche Her­ren Her­ren Stände Deß Ertz-Her­zogth­umb Oester­re­ich ob der Ennß“ (1732): „der See­len selig abgelei­digte Leib der Wohl-Gebohrnen Frauen Frauen Annæ … ist gestor­ben zu Agg­stein den 3ten Feb­ru­ar. nach 12. Uhr Vor­mit­tag in 1617. ihres Alters in 51. und ihres Wit­tib-Stands in 26. Jahr …“ ([Link])
  • Aus „Rue­bezahlid­er Schle­sis­che Prov­inzial­blaet­ter“ (1799): „Nur bisweilen erschienen keine Ver­bote, wie in 1627 …“ ([Link])
  • Aus „Geschichte der Math­e­matik seit der Wieder­her­stel­lung der Wis­senschaften“ (1800): In 1615 hat­te Kepler ein trau­riges Schick­sal wegen sein­er Mut­ter, er erzählt das Krügern im 293. Briefe.“ ([Link])
  • Aus „Astronomis­che Nachricht­en“ (1855): „Ich habe oben gezeigt, dass das west­liche Sys­tem, welch­es im Jahre 1600 sich in dem östlichen Theile von Europa befand, sich nach dem östlichen Sibirien bewegt hat, und das östliche Sys­tem, welch­es in 1600 das west­liche Europa und einen Theil des Atlantis­chen Meeres ein­nahm.“ ([Link])
  • Aus „Die Ein­wohn­erzahl der ehe­ma­li­gen Reichsstadt Nürn­berg“ (1857): „Ueber 1800 stieg die Zahl 2mal, in 1622 und 1624; über 1700 4mal, in 1606, 1608, 1620; über 1600 7mal, in 1601, 1603, 1604, 1612, 1615, 1619, 1621; über 1500 nur 3mal in 1602, 1607, 1613; über 1400 nur 1mal, in 1617; über 1300 3mal, in 1636 1637, 1639; über 1200 nur 1mal, in 1641.“ ([Link])

Und zweit­ens ist es auf der Grund­lage eben dieser Beispiele unwahrschein­lich, dass es sich bei [in + JAHRESZAHL] über­haupt um einen Anglizis­mus han­delt. Viel wahrschein­lich­er haben wir es mit einem lupen­reinen Latin­is­mus zu tun: Im Lateinis­chen würde man in Anno Domi­ni MDCXVII usw. sagen. Die Kon­struk­tion find­et sich außer­dem in vie­len anderen europäis­chen Sprachen, z.B. im Franzö­sis­chen (en 2012), im Nieder­ländis­chen (in 2012) im Dänis­chen (i 2012) und im Spanis­chen (en 2011).

Aber selb­st, wenn sie tat­säch­lich aus dem Englis­chen käme: Zwei­hun­dert Jahre reichen, um eine urdeutsche gram­ma­tis­che Struk­tur daraus zu machen.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

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