Stresstest [Kandidaten für den Anglizismus des Jahres]

Von Anatol Stefanowitsch
Button für den Anglizismus des Jahres 2011

But­ton für den Anglizis­mus des Jahres 2011

Über das Wort Stresstest habe ich ja vor ein paar Wochen schon geschrieben, als die Gesellschaft für deutsche Sprache es zum Wort des Jahres 2011 wählte. Als ich dann bekan­nt­gegeben habe, dass Stresstest auch für den Anglizis­mus des Jahres nominiert ist, wurde in den Kom­mentaren gle­ich ver­mutet, dass wir keine Lust haben wür­den, das Wort sozusagen als Zweitver­w­ert­er noch ein­mal zu ehren.

Aber diese Art von strate­gis­chem Denken ist der Jury der besten Wörter­wahl der Welt völ­lig fremd — möge das beste Wort gewin­nen, ist unser Mot­to. Deshalb soll natür­lich auch das Wort Stresstest angemessen disku­tiert wer­den, bevor es näch­ste Woche an die Entschei­dungs­find­ung geht.

Wie ich in meinem Beitrag zum Wort des Jahres schon angedeutet habe, ist das Wort aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht etwas lang­weilig: Es ist ein ein­fach­es Kom­posi­tum, das aus den Wörtern Stress („erhöhte Beanspruchung, Belas­tung physis­ch­er oder psy­chis­ch­er Art“ Duden, s.v. Stress) und Test („nach ein­er genau durch­dacht­en Meth­ode vorgenommen­er Ver­such, Prü­fung zur Fest­stel­lung der Eig­nung, der Eigen­schaften, der Leis­tung o. Ä. ein­er Per­son oder Sache“ Duden, s.v. Test) die Bedeu­tung „Test, bei dem Reak­tio­nen auf Stress gemessen wer­den“ (Duden, s.v. Stresstest) macht. Genauer kön­nte man es definieren als „nach ein­er genau durch­dacht­en Meth­ode vorgenommen­er Ver­such, Prü­fung zur Fest­stel­lung der Reak­tio­nen ein­er Per­son oder Sache auf erhöhte Beanspruchung, Belas­tung physis­ch­er oder psy­chis­ch­er Art“ — man würde also ein­fach die Bedeu­tun­gen von Stress und Test regel­haft kombinieren.

Inter­es­sant ist dabei höch­stens, dass das Wort Stress im Deutschen die Hauptbe­deu­tung „psy­chis­che Belas­tung“ hat, während die Lesart „physis­che Belas­tung“, die für das Wort Stresstest die rel­e­van­tere ist, besten­falls rand­ständig ist. Auf jeden Fall aber sind sowohl Stress und Test, als auch Stresstest ein­deutig aus dem Englis­chen entlehnt, und let­zteres füllt eine Lücke, die nur teil­weise durch das in medi­zinis­chen Zusam­men­hän­gen vork­om­mende Belas­tung­stest (das übri­gens nicht im Duden ste­ht) gefüllt wird.

Wie sieht es aber mit dem Alter und der Ver­bre­itung des Wortes aus? Das Wort taucht im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus erst­mals 1997 auf, ist also schon etwas älter. Es führt dann aber mit einem kleinen Aufleucht­en 2003 bis zum Jahr 2009 ein absolutes Nis­chen­da­sein, steigt dann 2010 leicht an und explodiert 2011 dann geradezu.

Häufigkeitsentwicklung von Stresstest

Häu­figkeit­sen­twick­lung von Stresstest

Die ersten Tre­f­fer stam­men inter­es­san­ter­weise alle aus dem Zürcher Tage­sanzeiger — es kön­nte also sein, dass Stresstest über die Schweiz in den deutschen Sprachraum einge­wan­dert ist (oder, dass Schweiz­er Texte im betr­e­f­fend­en Jahr im Kor­pus über­repräsen­tiert sind). Gle­ich im ersten Tre­f­fer vom April 1997 geht es übri­gens um einen Stresstest der Finanzmärkte.

Zwei Jahre später, im März 1999 find­et sich (eben­falls im Zürcher Tage­sanzeiger) erst­mals eine Ver­wen­dung mit Bezug auf den Gesund­heits­bere­ich (dort ist, wie oben angedeutet, das Wort Belas­tung­stest üblich­er. Auch aus Öster­re­ich gibt es einen Tre­f­fer mit dieser Bedeutung.

Der erste Tre­f­fer in Deutsch­land ist aus dem Mannheimer Mor­gen vom Juni 2000, auch dort geht es um Gesund­heit — allerd­ings um die von Börsen­mak­lern, wom­it der Bogen zu den Finanzmärk­ten wieder geschlossen wäre:

Als Zusatzbe­hand­lung erhielt die Hälfte der Patien­ten die Empfehlung, sich einen Hund oder eine Katze als Hausti­er anzuschaf­fen. Ein neuer­lich­er Stresstest trieb den Blut­druck der tier­losen Börsen­händler wieder in alt bekan­nte Höhen. Dage­gen war der Anstieg bei den Tierbe­sitzern nicht ein­mal halb so hoch, wie das Blatt berichtete. [Haustiere helfen bei Stress, Mannheimer Mor­gen, 2.6.2000]

Aus dem sel­ben Jahr und der sel­ben Quelle ist die erste Ver­wen­dung, bei der ein Gegen­stand einem Stresstest unter­zo­gen wird. Bei diesen drei Bedeu­tun­gen bleibt es dann eine Weile, wobei das Stresstesten von Finanzmärk­ten und ‑insti­tu­tio­nen die dom­i­nante Bedeu­tung bleibt. Sie ist auch für den kleinen Außreißer nach oben in 2003 ver­ant­wortlich: Die Bun­de­sanstalt für Finanz­di­en­stleis­tungsauf­sicht führte in diesem Jahr einen umfassenden Stresstest der Ver­sicherungs­branche durch.

Im Jahr 2005 find­et sich dann eine Ver­wen­dung, in der es um den Stresstest eines Com­put­er­sys­tems geht, und 2009 wird das Wort zum ersten Mal auf eine Sport­mannschaft bezo­gen (danach fol­gen ähn­liche Treffer):

Nürn­bergs Train­er Michael Oen­ning … warnt vor der Atmo­sphäre im ausverkauften Sta­dion der Fre­und­schaft: „Wir wer­den ver­suchen, kühlen Kopf zu bewahren und unsere Lin­ie durchzuziehen.“ Auch sein Cot­tbuser Kol­lege Bojan Pras­nikar schwört seine Elf auf den ulti­ma­tiv­en Stresstest ein: „Ich werde nur Spiel­er ein­set­zen, die alles für den Vere­in geben.“ [Cot­tbus set­zt auf Kampf, Rhein-Zeitung, 27.5.2009]

Ins­ge­samt bleibt aber die Anwen­dung auf den Finanzsek­tor auch 2009 und 2010 abso­lut dom­i­nant. 2010 ist dies im Prinzip die einzige Ver­wen­dung, die sich im DeReKo findet.

Das Jahr 2011, in dem die Häu­figkeit fast um den Fak­tor 10 ansteigt, ist dann eine Art Super­stresstest­jahr: Anfang des Jahres geht die Diskus­sion der Banken­stresstests weit­er, ab April kom­men Atom­kraftwerk­stresstests dazu, und ab Juli dann auch noch die Kopf- und Durch­gangs­bah­nof­sstresstests. Dazwis­chen find­en sich weit­er­hin vere­inzelte Gesundheits‑, Pro­dukt- und Fußball­man­schaftsstresstests. In einem Jahr, in dem die Ziel­losigkeit und Entschei­dung­sun­fähigkeit der poli­tis­chen Akteure einen Höch­st­stand erre­ichte, wurde gestresstestet, was das Zeug hielt, damit man nur ja keine eige­nen Lösun­gen für die Finanzkrise, den panikar­ti­gen Atom­ausstieg und das Ver­graben eines Kle­in­stadt­bahn­hofs entwick­eln oder vertei­di­gen musste.

Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat das Wort Stresstest also dur­chaus berechtigter­weise zum Wort des Jahres erk­lärt, und auch auf den Anglizis­mus des Jahres darf es trotz seines Alters Anspruch erheben. Es kon­nte sich im Jahr 2011 nicht nur in sein­er Häu­figkeit extrem steigern, son­dern auch in der Bre­ite sein­er Anwen­dungs­bere­iche. Es ist deshalb ein klar­er Kan­di­dat für die Endrunde.

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

Dieser Beitrag wurde unter Altes Sprachlog abgelegt am von .

Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

10 Gedanken zu „Stresstest [Kandidaten für den Anglizismus des Jahres]

  1. Martin Holzherr

    2011: Erhöht­es Stressbewusstsein
    Das Wort Stress passt zu 2011 in mehrfach­er Hin­sicht: Die Stresstests bei Banken, AKW’s, etc. sind nur ein Aus­druck für eine unter Stress geset­zte, durch Beben unter­schiedlich­er Art in ihren Fun­da­menten erschüt­terte Gesellschaft. Nicht zufäl­lig las man 2011 auch vieles über das Burn-Out-Syn­drom, welch­es ja eben­falls mit Stress in Verbindung steht.
    Das alles ergibt ein Bild ein­er belasteten, vielle­icht über­lasteten Zeit. Unver­mutet ver­mit­telt das Wort “Stress” aber auch eine Hoff­nung: Näm­lich die, dass der Stress über­standen wer­den kann, dass man den Stresstest beste­ht. Das ist also fast das Gegen­teil von der unver­mei­dlichen Apoka­lypse, auf die man nur noch mit Fatal­is­mus reagieren kann. Auch wieder typ­isch für unsere Zeit: Die Hoff­nung auf den Tech­nofix mit dem wir das Sys­tem so verbessern, dass der näch­ste Stresstest bestanden wird.

  2. Götz Kluge

    Psy­chis­che Belastung
    In den Arbeitswis­senschaften ste­ht “Stress” für jede z.B. im Arbeitss­chutz rel­e­vante Belas­tung, darunter dann auch die psy­chis­che Belas­tung. In Banken ist das die dom­i­nante Belastungskategorie.
    Beispiel­sweise in der Bild­schir­mar­beitsverord­nug sind physis­che und (siehe ISO 10075) psy­chis­che Belas­tung gle­ichrangig (http://blog.psybel.de/…dschirmarbeitsverordnung/). Es geht also längst nicht mehr um tech­nis­che Bild­schirm­pa­ra­me­ter, son­dern um Benutzer­fre­undlichkeit usw.
    Übri­gens: “Stress” und “Belas­tung” sind neu­trale Begriffe. Prob­lema­tisch ist, wenn daraus “Fehlbe­las­tun­gen” werden.
    Der Stresstest bei Banken bet­rifft den Umgang mit Geld als gen­er­al­isiertes Kom­mu­nika­tion­s­medi­um, passt also ganz gut in das The­ma der psy­chis­chen Belas­tun­gen. Im automa­tis­chen Han­del sind psy­chisch erk­lär­bare Reak­tio­nen sog­ar als Pro­gramme implementiert.

  3. D. Müller

    Das Neue im Alten
    Der zweite Wort­teil wird interessanterweise
    kaum noch als Anglizis­mus wahrgenom­men, beim ersten verblasst diese Wahrnehmung allmäh­lich. Den­noch ist es auch in der Zusam­menset­zung ein echter Anglizis­mus, was ver­mut­lich, wenn es nicht im Zusam­men­hang mit der GfDS-Wahl gesagt wor­den wäre, dem “Durch­schnitts­bürg­er” und selb­st vie­len Sprach­in­ter­essierten kaum aufge­fall­en wäre.
    Insofern ist es ein Beispiel für eine gelun­gene Integration.

  4. impala

    Ich glaube nicht, dass “Stress” noch als Anglizis­mus oder Lehn­wort wahrgenom­men wird, da es anders als andere englis­che Lehn­wörter auch phonetisch voll­ständig inte­gri­ert ist, also mit [ʃ] statt [s] im Anlaut aus­ge­sprochen wird, anders als z.B. ähn­lich fre­quente Wörter wie Star oder Stunt.

  5. NörglerIn

    Anglizis­mus? Lücke?
    1. Ist Stresstest wirk­lich so klar ein Anglizismus?
    Test ist schon seit langem, Stress seit nicht ganz so langem im Deutschen einge­bürg­ert. Im Englis­chen wie im Deutschen läßt sich völ­lig gle­ichar­tig aus bei­den Wörtern das Kom­posi­tum stress test/Stresstest bilden. Der einzige ober­fläch­liche Unter­schied beste­ht in der Getren­nt- und Zusam­men­schrei­bung. Es ist ja möglich, daß dieses Kom­posi­tum zum ersten mal im Englis­chen gebildet wurde. Macht das allein das Wort, das im Deutschen genau­so hätte gebildet wer­den kön­nen, zum Anglizis­mus, empfind­en die Deutschen es als solches?
    2. Füllt Stresstest wirk­lich eine Lücke im Deutschen aus?
    Schon seit langem gibt es im Deutschen die Belas­tung­sprobe (ste­ht im Duden), seit nicht ganz so langem gibt es auch den Belas­tung­stest (ste­ht nicht im Duden). Belas­tung­sprobe ist seit jeher gängig. Belas­tung­stest mag ja noch über­wiegend medi­zinisch gebraucht wer­den, es gibt aber auch genug Belege für son­stige Ver­wen­dun­gen (Com­put­er, Grafikkarten, Ver­sicherun­gen, Unternehmen, selb­st S‑21 usw.). Wo ist da die Lücke?

  6. karl

    Wie schon die Her­leitung im Text belegt: Stress und Test sind bei­des “deutsche Wörter”, die im Englis­chen eine ziem­lich ähn­liche Bedeu­tung haben. Aber schein­bar sche­inst du ja ziem­lich begeis­tert von diesem Wort zu sein — schade eigentlich.

  7. NörglerIn

    @karl
    Wie kom­men Sie darauf, daß ich “ziem­lich begeis­tert” von dem Wort “Stresstest” sei?
    Im Gegen­teil: ich halte das Wort für über­flüs­sig, da die ange­bliche Lücke durch das Wort “Belas­tung­stest” schon bestens aus­ge­füllt ist.
    Ich halte “Belas­tung­sprobe” auch für bess­er, weil “Belas­tung” im Deutschen eine weit­ere Bedeu­tung hat als “Stress”, das — wie ja A.S. richtig sagt — “im Deutschen die Hauptbe­deu­tung ‘psy­chis­che Belas­tung’ ” hat.

  8. NörglerIn

    Erra­tum
    Anfang des drit­ten Absatzes sollte es “Belas­tung­stest”, nicht “Belas­tung­sprobe” heißen.

  9. MCBuhl

    Kle­in­stadt­bahn­hof?
    Tss, Stuttgart ist doch keine Kle­in­stadt, auch wenn manche seine Bürg­er­meis­ter als kleingeistig bis spießig beschreiben wür­den und der Wun­sch als großstädtisch wahr genom­men wer­den zu wollen nicht ger­ade dafür spricht, eine sou­veräne Großs­tadt zu sein :-/
    Zugegeben, off topic.

  10. klappnase

    @ Nör­g­lerIn: Was denn jetzt?
    Also, so wie ich Ihre Beiträge ver­ste­he ist
    1. Stresstest Ihrer Mei­n­ung nach kein Anglizis­mus, son­dern ein qua­si “urdeutsches” Wort und
    2. soll man es den­noch nicht ver­wen­den, weil es im Deutschen ja “schon lange” (heisst das jet­zt: “noch länger”?) schon die “Belas­tung­sprobe” gibt, die Ihrer Ansicht nach völ­lig syn­onym ist.
    Darf es also Ihrer Ansicht nach für jeden Sachver­halt immer nur genau einen Begriff geben oder was spricht Ihrer Mei­n­ung nach son­st gegen den “Stresstest”, wenn es sich doch um gar keinen Anglizis­mus handelt?

Kommentare sind geschlossen.