Schuldengrammatik

Von Anatol Stefanowitsch

Schon seit ein paar Monat­en geht eine Studie des Wirtschaftswis­senschaftlers Kei­th Chen durch die englis­chsprachige Presse, in der behauptet wird, dass die wirtschaftliche Men­tal­ität eines Volkes von sein­er Sprache abhängt. Eigentlich hat­te ich nicht vor, diese Studie zu kom­men­tieren (zu den Grün­den gle­ich mehr), aber vor zwei Wochen hat auch FAZ.net darüber berichtet und seit­dem bin ich mehrfach gebeten wor­den, etwas dazu zu sagen, vor allem von Leser/innen, die im Sprachlog gerne generell mehr über den Zusam­men­hang von Sprache und Denken lesen wür­den. Deshalb hier doch ein paar Gedanken zu der Studie.

Zunächst kurz zum Inhalt (wer es aus­führlich­er wis­sen will, dem sei der oben ver­link­te FAZ-Artikel emp­fohlen, wer es noch aus­führlich­er wis­sen will, kann die Studie selb­st [PDF, 450 KB] lesen). Chen teilt zunächst die Sprachen der Welt in zwei Grup­pen ein: die mit „schwachem Zukun­fts­bezug“ (weak future-time ref­er­ence) und die mit „starkem Zukun­fts­bezug“ (strong future-time ref­er­ence). Grob gesagt (es wird gle­ich noch fein­er) unter­schei­den let­zere in bes­timmten Zusam­men­hän­gen gram­ma­tisch zwis­chen Gegen­wart und Zukun­ft, während erstere das nicht tun. Will ich z.B. auf Deutsch aus­drück­en, dass ich für mor­gen Regen erwarte, kann ich dazu die Präsens­form (1) oder die Futur­form (2) verwenden:

(1) Ich glaube, es reg­net mor­gen.
(2) Ich glaube, es wird mor­gen reg­nen.

Auf Franzö­sisch kann ich dage­gen die Präsens­form pleut nicht ver­wen­den, (3) ist also gram­ma­tisch falsch. Stattdessen muss ich entwed­er wie in (4a) die mor­phol­o­gis­che Futur­form pleu­vra ver­wen­den (so eine Form gibt es im Deutschen gar nicht), oder wie in (4b) die syn­tak­tis­che Futur­form va pleu­voir (va bedeutet geht, man ver­gle­iche das englis­che Futur mit going to):

(3) *Je pense qu’il pleut demain.
(4a) Je pense qu’il pleu­vra demain.
(4b) Je pense qu’il va pleu­voir demain.

Deutsch ist deshalb eine Sprache mit schwachem Zukun­fts­bezug, Franzö­sisch eine mit starkem.

Chen kor­re­liert nun in sein­er Studie für eine große Zahl von Sprachen die Art ihres Zukun­fts­bezugs (stark/schwach) mit ökonomis­chen Fak­toren wie Spar­quote, Renten­vor­sorge, Schulden. Er stellt dann fest, dass eine Kor­re­la­tion dergestalt beste­ht, dass Sprecher/innen von Sprachen mit starkem Zukun­fts­bezug weniger Schulden machen, mehr sparen, bessere Altersvor­sorge betreiben usw. als Sprecher/innen von Sprachen mit schwachem Zukun­fts­bezug. Diesen Effekt beobachtet er sowohl auf der Ebene ganz­er Volk­swirtschaften als auch auf der ebene einzel­ner Haushalte in viel­sprachi­gen Ländern.

Seine Erk­lärung ist, dass Sprecher/innen schwach zukun­fts­be­zo­gen­er Sprachen die Zukun­ft nicht klar von der Gegen­wart tren­nen, da ihre Sprachen das auch nicht tun. Deshalb denken sie nicht daran, dass es ihnen in der Zukun­ft anders gehen kön­nte als in der Gegen­wart und dementsprechend sor­gen sie auch weniger vor. Sprecher/innen stark zukun­fts­be­zo­gen­er Sprachen dage­gen sehen die Zukun­ft als von der Gegen­wart unab­hängig, schließen nicht von ihrer aktuellen Sit­u­a­tion auf die zukün­ftige Sit­u­a­tion und sor­gen deshalb stärk­er vor.

Sie wer­den mir zus­tim­men, dass dieser Erk­lärungszusam­men­hang an sich nicht unplau­si­bel klingt. Allerd­ings ver­tritt Chen mit sein­er The­o­rie eine extrem starke Ver­sion der soge­nan­nten „Sapir-Whorf-Hypothese“, die besagt, dass unser Denken durch unsere Sprache deter­miniert ist. Wenn man einen solchen Deter­min­is­mus nach­weisen kön­nte, würde das nicht nur unser­er Intu­ition wider­sprechen, son­dern auch ein­er lan­gen Forschungstra­di­tion, die besten­falls sehr sub­tile Labor­ef­fek­te von sprach­lichen Struk­turen auf bes­timmte kog­ni­tive Prozesse nach­weisen kon­nte (neben­bei: die Namensge­ber der Hypothes selb­st, Edward Sapir und Ben­jamin Lee Whorf, haben einen echt­en Deter­min­is­mus nicht vertreten, aber dazu ein ander­mal mehr). Mit anderen Worten: Chens Studie wäre spek­takulär. Sie müsste deswe­gen auch spek­takulär sauber und ordentlich gear­beit­et sein.

Wie gesagt hat­te ich eigentlich nicht vor, etwas zu der Studie zu sagen, und zwar aus zwei Grün­den: erstens han­delt es sich um eine unveröf­fentlichte Studie, die bish­er nur als Arbeitspa­pi­er vor­liegt, also keine Begutach­tung durch Fach­leute durch­laufen hat. Zweit­ens haben die Kolleg/innen vom Lan­guage Log im Prinzip alles zu der Studie gesagt, was auch ich dazu gesagt hätte und was man über­haupt außer­halb ein­er tat­säch­lichen stren­gen Begutach­tung dazu sagen kann. Die fol­gen­den Gedanken sind deshalb nicht viel mehr als eine Zusam­men­fas­sung divers­er Lan­guage-Log-Beiträge (mit ein paar eige­nen Kom­mentaren verse­hen). Um die betr­e­f­fend­en Beiträge nicht mehrfach ver­linken zu müssen, ver­weise ich durch Fußnoten darauf und ver­linke sie am Ende dieses Beitrags.

Grund­sät­zlich gibt es drei sub­stanzielle Prob­leme an Chens Studie: Die Klas­si­fizierung der Sprachen, die Rich­tung sein­er Hypothese/Erklärung und die ver­wen­de­ten Methoden.

Zur Klas­si­fizierung der Sprachen in solche mit starkem und schwachem Zukun­fts­bezug ist zunächst zu sagen, dass die Lage deut­lich kom­plex­er ist, als Chen sie darstellt. Auch Sprachen mit soge­nan­ntem „starkem Zukun­fts­bezug“ erlauben es näm­lich an vie­len Stellen, die Präsens­form zu ver­wen­den, um auf die Zukun­ft zu ver­weisen. Chen klas­si­fiziert z.B. Englisch als „stark Zukun­fts­be­zo­gen“, weil man nicht sagen könne It rains tomor­row, son­dern nur It will rain tomor­row. Geof­frey Pul­lum ent­geg­net im Lan­guage Log [i], dass man im Englis­chen prob­lem­los Sätze wie die fol­gen­den sagen könne:

(5a) Meg’s moth­er arrives tomor­row.
(5b) My flight takes off at 8:30.
(5c) IBM is declar­ing its fourth-quar­ter prof­its tomor­row.

Ähn­lich­es gilt für viele andere „stark zukun­fts­be­zo­gene“ Sprachen; allerd­ings muss man Chen zugute hal­ten, dass er für die Klas­si­fika­tion ein spez­i­fis­cheres Kri­teri­um aus der sprachver­gle­ichen­den Forschung ver­wen­det: „stark zukun­fts­be­zo­gen“ sind danach solche Sprachen, die bei Vorher­sagen von Ereignis­sen, die außer­halb der Kon­trolle des Sprech­ers liegen, das Futur erfordern — so, wie in den Beispie­len (1–4) oben. Pul­lums Sätze sind aber keine solchen Vorher­sagen son­dern ein­fache, auf exter­nen Infor­ma­tio­nen beruhende Aus­sagen über die Zukun­ft (Megs Mut­ter, die Fluglin­ien und IBM haben angekündigt, dass sie vorhaben, diese Dinge zu tun). Macht man Vorher­sagen daraus, z.B. indem man ein I pre­dict (that) vor den jew­eili­gen Satz stellt, wird das Präsens merk­würdig bis ungram­ma­tisch und muss tat­säch­lich durch eine Futurkon­struk­tion erset­zt wer­den (I pre­dict that Meg’s moth­er will arrive tomor­row usw.).

Trotz­dem gibt es zwei Prob­leme, wenn man aus dieser Art des Zukun­fts­bezugs Ein­flüsse auf Denken und Han­deln ableit­en will. Erstens stellt sich die Frage, warum aus­gerech­net der spezielle Zusam­men­hang von „Vorher­sagen“ rel­e­vant für die Denk- und Hand­lungsmuster der Sprecher/innen sein sollte, und nicht die vie­len anderen Zusam­men­hänge, in denen auch in „stark zukun­fts­be­zo­ge­nen“ Sprachen das Präsens ver­wen­det wird um über die Zukun­ft zu sprechen. Zweit­ens wird schnell klar, dass die sprach­liche Sit­u­a­tion auch in den Vorher­sage-Kon­tex­ten kom­plex­er ist als eine ein­fache Tren­nung in „starken“ und „schwachen“ Zukun­fts­bezug ver­muten lässt. Auch für das Englis­che lassen sich dur­chaus Zusam­men­hänge find­en, in denen Vorher­sagen dur­chaus im Präsens ste­hen (vgl. auch [i] und [vi]):

(6a) I pre­dict the spring thaw is com­ing ear­ly this year. [Link]
(6b) Nova Scotia’s Shube­nacadie Sam did not see his shad­ow which would pre­dict win­ter is end­ing soon. [Link]

Solche Ver­wen­dun­gen sind ver­gle­ich­sweise sel­ten, aber sie zeigen, dass „starker/schwacher Zukun­fts­bezug“ kein binäres Merk­mal ist, son­dern dass Sprachen einen mehr oder weniger starken Zukun­fts­bezug haben kön­nen. Das stellt die Chens Studie zugrun­deliegende Kat­e­gorisierung grund­sät­zlich infrage.

Zweit­ens sehe ich ein Prob­lem mit Chens Erk­lärung. Man kön­nte ja ver­sucht sein, alle Ein­wände gegen die Unterteilung in „starken/schwachen“ Zukun­fts­bezug und gegen die Meth­o­d­en (siehe unten) mit dem Argu­ment vom Tisch zu wis­chen, dass Chen schließlich einen Effekt gefun­den habe, der ja irgend­wie erk­lärt wer­den müsse. Und vielle­icht kommt Ihnen die Erk­lärung ja auch intu­itiv plau­si­bel vor.

Das Prob­lem ist aber, dass man auch dann für einen Ein­fluss von Sprache auf Denken argu­men­tieren kön­nte, wenn die Kor­relta­tion umgekehrt gewe­sen wäre [i, vi]. Denn wenn die Sprecher/innen, deren Sprache Gegen­wart und Zukun­ft durch den Präsens aus­drückt, stärk­er für die Zukun­ft vor­sor­gen wür­den als diejeni­gen, die für die Zukun­ft immer (oder wenig­stens in bes­timmten Sit­u­a­tio­nen) das Futur ver­wen­den müssen, kön­nte man das wie fol­gt erk­lären: In schwach Zukun­fts­be­zo­ge­nen Sprachen gibt es keinen sprach­lichen Unter­schied zwis­chen Gegen­wart und Zukun­ft; dadurch ist die Zukun­ft den Sprecher/innen dieser Sprache viel näher, viel präsen­ter, und deshalb sor­gen sie natür­lich auch bess­er vor. In stark zukun­fts­be­zo­ge­nen Sprachen wird die Zukun­ft aber durch das Futur in weite Ferne ver­lagert, sodass deren Sprecher/innen unbe­wusst davon aus­ge­hen, dass später noch genug Zeit sein wird, um sich darum zu kümmern.

Und an dieser Stelle muss ich mich bei meinen Leser/innen entschuldigen, denn ich habe sie absichtlich in die Irre geführt: Die Kor­re­la­tion und die dazuge­hörige Erk­lärung, die ich am Anfang des Textes Chen untergeschoben habe, habe ich mir aus­gedacht. Tat­säch­lich hat Chen die Kor­re­la­tion gefun­den, die ich im vor­ange­hen­den Absatz genan­nt habe, und auch seine Erk­lärung ist die dort beschriebene. Wenn sie das nicht gle­ich am Anfang des Textes gemerkt haben, zeigt das (so zumin­d­est meine Hoff­nung), wie beliebig sich solche Erk­lärun­gen kon­stru­ieren lassen. Anders gesagt: Egal, in welche Rich­tung die Kor­re­la­tion in Chens Studie aus­ge­fall­en wäre, die Hypothese vom Ein­fluss der Sprache auf das Denken hätte sich immer bestätigt (das ist übri­gens ein Prob­lem viel­er Stu­di­en zu Sprache und Denken, aber dazu ein ander­mal mehr).

Drit­tens ist die Meth­ode prob­lema­tisch. Das einzige Ergeb­nis, das gegen einen Zusam­men­hang zwis­chen Sprache und Denken spräche wäre bei Chens Studie die völ­lige Abwe­sen­heit ein­er Kor­re­la­tion. Nun lassen sich aber in aus­re­ichend großen Daten­sätzen fast immer irgendwelche Kor­re­la­tio­nen find­en, ohne, dass die deswe­gen etwas bedeuten müssten [vgl. i]. Wenn man nicht eine extrem saubere Hypothese mit glasklaren Vorher­sagen hat, sollte man die Fin­ger von Ver­fahren lassen, die auf Kor­re­la­tio­nen beruhen (bzw., sollte man solche Ver­fahren angemessen ein­set­zen, näm­lich als explo­rative, erkun­dende Meth­ode zur Ver­feinerung möglich­er Hypothesen).

Vor allem bei der Kor­re­la­tion zwis­chen unter­schiedlichen kul­turellen Prak­tiken (und Ökonomie und Sprache sind kul­turelle Prak­tiken) muss man immer bedenken, dass sie sich nicht zufäl­lig geografisch Verteilen, son­dern dass sie sich über zusam­men­hän­gende geografis­che Regio­nen aus­bre­it­en; vor allem bre­it­en sich immer ganze Bün­del kul­tureller Prak­tiken gemein­sam aus [ii]. Das führt automa­tisch zu starken Kor­re­la­tio­nen in bes­timmten Regio­nen (also an bes­timmten Daten­punk­ten im entsprechen­den Daten­satz), die dann das Gesamtergeb­nis ver­fälschen. So berichtet Östen Dahl (von dem übri­gens die Unter­schei­dung „starker/schwacher Zukun­fts­bezug“ stammt), dass er Chen auf dessen Nach­frage hin davon abbrin­gen wollte, mit der Studie an die Öffentlichkeit zu gehen, da sich ähn­liche Kor­re­la­tio­nen auch zwis­chen der Anzahl vorder­er gerun­de­ter Vokale und dem ökonomis­chen Ver­hal­ten nach­weisen lassen [iii].

Chen bestre­it­et die Möglichkeit zufäl­liger Kor­re­la­tio­nen und ver­weist darauf, dass die Kor­re­la­tion auch dann existiert, wenn man sich Fam­i­lien mit unter­schiedlichen Mut­ter­sprachen ansieht, die im sel­ben Land leben und einen ver­gle­ich­baren sozioökonomis­chen Sta­tus haben [iv]. Das ist aber wenig überzeu­gend, da diese Fam­i­lien ihre Sprache ja nicht zufäl­lig auswählen, son­dern gemein­sam mit anderen Aspek­ten kul­turellen Ver­hal­tens aus ihrer Heimat mit­brin­gen bzw. von ihren Eltern und Großel­tern übernehmen (vgl. auch [v]).

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass erste Kri­tik an der spez­i­fis­chen sta­tis­tis­chen Meth­ode geäußert wor­den ist, die Chen ver­wen­det hat [vii]

Zusam­men­fassend lässt sich sagen: Ein kausaler Zusam­men­hang zwis­chen Mut­ter­sprache und ökonomis­chem Ver­hal­ten ist von vorne­here­in extrem unwahrschein­lich. Um ihn zu bele­gen, bedürfte es außeror­dentlich­er (und außeror­dentlich überzeu­gen­der) Belege. Chens Studie liefert solche Belege nicht.

 

[i] Pul­lum, Geoff (2012) Kei­th Chen, Whor­fi­an econ­o­mist. Lan­guage Log, 9.2.2012. [Link]

[ii] Liber­man, Mark (2012) Cul­tur­al dif­fu­sion and the Whor­fi­an hypoth­e­sis. Lan­guage Log, 12.2.2012. [Link]

[iii] Dahl, Östen (2012) Kom­men­tar zu Liber­man (2012), Lan­guage Log, 13.2.2012. [Link]

[iv] Chen, Kei­th (2012), Whor­fi­an eco­nom­ics, Lan­guage Log, 21.2.2012. [Link]

[v] Sedi­vy, Julie (2012) Thought exper­i­ments on lan­guage and thought, Lan­guage Log, 22.2.2012. [Link]

[vi] Pepin­sky, Thomas B. (2012) If it rains tomor­row, I save, Indolaysia, 22.2.2012. [Link]

[vii] Galdino, Manoel (2012) The effect of lan­guage on sav­ings, Pra falar de coisas, 27.2.2012. [Link]

[Dieser Beitrag erschien ursprünglich im alten Sprachlog auf den SciLogs. Die hier erschienene Ver­sion enthält möglicher­weise Kor­rek­turen und Aktu­al­isierun­gen. Auch die Kom­mentare wur­den möglicher­weise nicht voll­ständig übernommen.]

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

14 Gedanken zu „Schuldengrammatik

  1. Thomas Müller

    Dass aus­gerech­net Deutsch­land in die Gruppe der chro­nis­chen Schulden­mach­er gehören solle, hat mich schon stutzig gemacht, aber auf die Schliche gekom­men bin ich ihnen nicht. Tat­säch­lich erscheint mir ihre falsche Inter­pre­ta­tion sog­ar plau­si­bler als die Chens. Ich kann mir gut vorstellen, dass es mir ander­srum gin­ge, hätte ich die Orig­i­nal-Inter­pre­ta­tion zuerst gelesen.
    In der aktuellen Spek­trum ist ja auch ein Artikel zum The­ma von Lera Borodit­sky zu find­en, wobei ich noch nicht dazu gekom­men bin, ihn zu lesen.

  2. David

    Dass aus­gerech­net Deutsch­land in die Gruppe der chro­nis­chen Schulden­mach­er gehören solle, hat mich schon stutzig gemacht, aber auf die Schliche gekom­men bin ich ihnen nicht.

    Ziem­lich ähn­lich bei mir.

  3. Alexander Schatten

    Vie­len Dank…
    … wieder ein­mal ein wun­der­bar­er Artikel. Bitte mehr davon!

  4. D. Müller

    Chens These erscheint mir schon deswe­gen abwegig, weil sich ökonomis­che Ver­hält­nisse wesentlich schneller verän­dern als die Gram­matik ein­er Sprache. Die Hyper­in­fla­tion von 1923 hat die Deutschen geprägt, heißt es immer wieder (und das erscheint plau­si­bel) — doch die Gram­matik blieb offenkundig dieselbe.

  5. Michael

    Kor­re­la­tio­nen
    Wie ein­fach es heutzu­tage ist, faden­scheinig-zweife­lafte Kor­re­la­tio­nen zwis­chen sprach­lichen und kul­turellen Eigen­schaften zu find­en, wird sehr schön in diesen Beiträ­gen der Sprachevo­lu­tions­forsch­ers Seán Roberts und James Win­ters deut­lich gemacht, die unter anderem Kor­re­la­tio­nen zwis­chen dem Vorkom­men von Sies­tas und mor­phol­o­gis­ch­er Kom­plex­ität, sprach­lich­er Diver­sität und Autoun­fällen, sowie der Häu­figkeit außere­he­lichen Beis­chlafs und der Größe des Phone­m­inven­tars in ein­er Kul­tur aufzeigen:
    http://www.replicatedtypo.com/…00-hits/4374.html
    http://www.lel.ed.ac.uk/…talHumanities_ForRT.pdf
    http://www.replicatedtypo.com/…olution/4809.html

  6. Muriel

    Auf mich als sprach­wis­senschaftlichen Laien wirken diese The­sen nie beson­ders plau­si­bel. Insofern ist mir am Anfang auch nichts aufge­fall­en, abge­se­hen davon, dass es mir natür­lich verdächtig vorkam, dass du (Oder sagt man hier Sie? Ich komme mit der Vielfalt nicht klar.) sie für plau­si­bel erk­lärtest, insofern habe ich kurz ges­tutzt, aber dass es ander­srum sein muss, wäre mir nicht in den Sinn gekommen.
    Insofern war die Auflö­sung der Irreführung für mich aber auch eher ein Meh-Erleb­nis. Falls das jemand wis­sen will.
    Es leuchtet mir auch wirk­lich über­haupt nicht ein, dass die gram­ma­tis­che Zukun­fts­form über unsere Wahrnehmung der Zukun­ft bes­tim­men soll. Bloß weil ich keine Kon­struk­tion benutze, die “Futur” heißt, lässt sich ja nicht schließen, dass ich den Unter­schied zwis­chen Gegen­wart und Zukun­ft verkenne.
    Oder so.

  7. Anatol Stefanowitsch

    @Michael
    Obwohl — das mit dem außere­he­lichen Beis­chlaf und dem Phone­m­inven­tar leuchtet ein: Wer eine/n Fremde/n zum Sex ver­führen will, muss ihm/ihr das ja zunächst mit­teilen — große Phone­m­inventare führen zu weniger Mehrdeutigkeit und zu mehr erfol­gre­ichen Ver­führun­gen. Wer dage­gen nur mit dem/der Ehepartner/in schläft, braucht dafür nicht viel zu reden (man macht das ja automa­tisch neben­her, beim Fernse­hen und so) — hier gibt es keine Mehrdeutigkeit zu ver­mei­den, also wird auch kein großes Phone­m­inven­tar benötigt.
    [Full dis­clo­sure: Dieser Kom­men­tar ist nicht ernst gemeint. Ich habe ihn in mein­er Freizeit ver­fasst und wurde dafür nicht aus Steuergeldern bezahlt.]

  8. Erbloggtes

    @A.S. 26.03.2012, 16:11
    Genau das Umgekehrte trifft zu: Wer eine/n Fremde/n zum Sex ver­führen will, muss ihm/ihr das ja zunächst mit­teilen — große Phone­m­inventare führen zu MEHR Mehrdeutigkeit und zu mehr erfol­gre­ichen Verführungen.
    Denn ein­deutige ver­bale Ange­bote zum außere­he­lichen Beis­chlaf sind ja in monogamieori­en­tierten Kul­turen riskant/tabuiert. Daher braucht Don Juan viele zwei­deutige Worte.
    Mehrdeutigkeit­en erhöhen übri­gens — wie klin­is­che Stu­di­en beweisen — die Spiegel von Sex­u­al- und Glück­shormo­nen im Gehirn, was eine weit­ere Voraus­set­zung für Don Juans Erfolg ist.
    In der Sprache/Ökonomie-Frage ist doch entschei­dend, wie es mit dem Griechis­chen aussieht: Wenn die Griechen kein Futur haben, dann ste­ht das mor­gen in der Blödzeitung. Und wenn die Griechen viel Futur haben, dann auch. Haupt­sache, es gibt “kul­turelle” (Neudeutsch für ras­sis­tis­che) Fix­ierun­gen, mit denen die Blödzeitung zum Aus­druck brin­gen kann, dass “die” alles nur denkbare Übel mehr als ver­di­ent haben, weil “die” nun mal so sind.
    Übri­gens: Ghet­tosprache in Deutsch­land hat ja kein Futur (z.B. “dann hol isch meine Brü­da” statt “dann werde ich meine Brüder her­beirufen”), und wer sie benutzt ist schlecht ver­sichert, hat nichts für die Rente zurück­gelegt und macht mehr Schulden als Hochdeutsch-Mut­ter­sprach­ler. Quod erat demonstrandum.
    [Full dis­clo­sure: Dieser Kom­men­tar ist nicht ernst gemeint. Ich habe ihn in mein­er Freizeit ver­fasst und wurde dafür nicht aus Steuergeldern bezahlt.]

  9. David

    Sies­tas und mor­phol­o­gis­ch­er Komplexität”
    Die Zahl der Sies­tas nimmt mit der mor­phol­o­gis­chen Kom­plex­ität selb­stver­ständlich zu, da Wort­bil­dung wie Kap­i­tal­bil­dung, Aus­bil­dung und Ein­bil­dung kein Freizeitspaß son­dern harte Arbeit ist, die aus­laugt und Regen­er­a­tionsphasen erforder­lich macht. Außer­dem ste­hen ten­den­tiell mehr Wörter für unter­schiedliche Arten von Sies­ta zur Ver­fü­gung, die alle aus­pro­biert sein wollen (die Sies­ta-Arten, nicht die Wörter).
    “sprach­lich­er Diver­sität und Autounfällen”
    Auch dies klar: Entwed­er die Verkehrss­childer berück­sichti­gen alle Sprachen, wom­it es lange dauert sie zu lesen, was zur Unfal­lver­mei­dung drin­gend nötige Aufmerk­samkeit kostet. Oder es wer­den nicht alle Sprachen berück­sichtigt, weshalb nicht alle Verkehrteil­nehmer in der Lage sind, die Stop­schilder zu entziffern.
    [full dis­clo­sure: Dieser Kom­men­tar ist Teil ein­er gemein­samen Ini­tia­tive von Bun­desverkehrsmin­is­teri­um und Bun­de­sar­beitsmin­is­teri­um. Er wurde durch Vergnü­gungss­teuere­in­nah­men finanziert und ist ohne Unter­schrift gültig.]

  10. Muriel

    Ich habe ja mal gehört, dass Sin­gles im Gegen­satz zu ver­heirateten Men­schen viel mehr ver­schiedene Wörter für Sex haben.
    Über 9.000 offenbar.
    [Dieser Kom­men­tar wurde Ihnen präsen­tiert von der Inter­na­tionalen Vere­ini­gung Pseudo­bil­dungs­bürg­ertümel­nder Langweilerwebseiten.]

  11. Zottel

    [quote]Sie wer­den mir zus­tim­men, dass dieser Erk­lärungszusam­men­hang an sich nicht unplau­si­bel klingt. [/qoute] Gar nicht. Tat­säch­lich habe ich über diese Schlussfol­gerung nur den Kopf geschüt­telt und für mich die später im Text gebrachte “echte” Fol­gerung Chens formuliert.
    Inter­es­sant wäre hier noch die Erwäh­nung dieses merk­würdi­gen Ama­zonas-Volkes, der “Pira­ha”, die gar keine gram­ma­tis­che Zukun­fts­form und tat­säch­lich auch keine Vor­sorge ken­nen. Und wie Hebräisch in diese Gliederung fall­en würde, das ursprünglich ganz ohne Gegen­warts­form auskam.

  12. Phu

    hier­von gerne mehr
    “(das ist übri­gens ein Prob­lem viel­er Stu­di­en zu Sprache und Denken, aber dazu ein ander­mal mehr)”
    Das ist span­nend und ich freue mich darauf.

  13. Roxana L.

    Mich beschäftigt immer noch die Einord­nung der zukun­fts­be­zo­ge­nen Sprachen: Wieso ist Englisch stark und Deutsch dage­gen schwach zukunftsbezogen?
    Engl: It rains (Verb 3P Sg)
    Dt: Es reg­net (Verb 3P Sg)
    Engl: It will rain (Hil­fverb & Infinitiv)
    Dt: Es wird reg­nen (Hil­fsverb & Infinitiv)
    Sowohl im Englis­chen, als auch im Deutschen find­en wir hier keine mor­phol­o­gis­che Zukun­ftsvari­ante, wie z.B. im Französischen.
    Habe ich das — mit Bitte um Nach­sicht, ich bin blutiger Anfänger — richtig beobachtet oder bin ich auf dem Holzweg?

  14. willi wamser

    Ehrenrettung(s‑Versuch)
    Gewiss trifft dieser (dieses?) Essay mit sein­er reduc­tio ad absur­dum exakt und elegant:
    Eröff­nung mit ein­er verdeck­ten Gegen­these, spiel­er­sch-argu­men­ta­tiv der favorisierten und gewürdigten Unter­suchung implantiert
    Zwei kon­tradik­torische Zen­tral-Aus­sagen lassen sich mit gle­ichem empirischen Mate­r­i­al bele­gen. Insofern ist die Argu­men­ta­tion nicht halt­bar. Wäre sie halt­bar, so ist logis­ches Argu­men­tieren nicht möglich. Und das will keiner.
    Immer­hin kön­nte — nach Ken­nt­nis der Schneep­rob­lematik, der Farb­wahrnehmung­sprob­lematik — doch noch das fokussier­bar sein, was vielle­icht nach Rand­bezirken der Whorf-Hypothese aussieht und mit ihr ganz gut erk­lärt wer­den kann (?).
    a) Kon­no­ta­tio­nen und Humboldt
    b) Abstrak­te Begriffe
    c) Kinder und ihr Ver­ste­hen der Erwachsenensprache
    Zu den ersten bei­den Bezirken hier Material:
    a) Kon­no­ta­tion und Humboldt
    „Die Ver­mes­sung der Welt“, Daniel Kehlmanns Roman, rückt zwei his­torische Fig­uren in den Vorder­grund, den Forsch­er Alexan­der von Hum­boldt und den Math­e­matik­er Carl Friedrich Gauß, bei­de auf ihre Art an exak­ten Dat­en und Fak­ten inter­essiert, der eine bewegt sich allerd­ings kaum aus Göt­tin­gen weg, der andere ist Wel­treisender von Beruf. Auf sein­er Fahrt den Ama­zonas ent­lang schlägt Hum­boldt von sein­er Mannschaft eine gereizte Stim­mung ent­ge­gen. Es dro­ht die rohe Gewalt, der Aufruhr, die Insub­or­di­na­tion. Selb­st sein franzö­sis­ch­er Begleit­er, der Chirurg Aimé Bon­pland, lässt es immer wieder an der nöti­gen Hal­tung und Diszi­plin fehlen.
    Aber von seinem Ziel lässt sich der preußis­che Beamte und Natur­forsch­er nicht abbrin­gen. Er will vom Ori­noko zum Ama­zonas durch­stoßen, mit­ten durch den Dschun­gel. Dafür muss er in jed­er Minute seine Autorität behaupten. Eines Tages wird Hum­boldt von den ange­heuerten Män­nern, ein­fachen Burschen, die sich die Zeit mit Geschicht­en­erzählen vertreiben, gebeten, auch ein­mal etwas zu erzählen. Hum­boldt begeg­net der Bitte mit Unver­ständ­nis und winkt ab.
    Geschicht­en wisse er keine, sagte Hum­boldt […]. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schön­ste deutsche Gedicht vor­tra­gen, frei ins Spanis­che übersetzt.
    Ober­halb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäu­men kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
    Alle sahen ihn an.
    Fer­tig, sagte Humboldt.
    Ja wie, fragte Bonpland.
    Hum­boldt griff nach dem Sextanten.
    Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewe­sen sein.
    Daniel Kehlmann (2005): Die Ver­mes­sung der Welt. Rein­bek: Rowohlt, S. 128
    Das Goethe-Gedicht lautet im Original:
    J. W. Goethe: Wan­der­ers Nachtlied (ent­standen 6.September 1780)
    Über allen Gipfeln
    Ist Ruh,
    In allen Wipfeln
    Spürest du
    Kaum einen Hauch;
    Die Vöglein schweigen im Walde.
    Warte nur, balde
    Ruh­est du auch.
    Was an sprach­lichem “Mehrw­ert” wird von Hum­boldts Para­phrase nicht erfasst?
    (b)Abstrakte Begriffe
    Eine gewisse Bestä­ti­gung für Whorf find­et man, so man die eher “konkreten” Begriffe (Zahlen, Schnee u.ä.) ver­lässt und in den Bere­ich Abstrak­ta, Men­tal­ität, soziokul­turelle Seman­tik streift:
    […]Men­schen­rechte und poli­tis­che Rechte wer­den auf chi­ne­sisch mit “Quan Li” umschrieben (Berech­ti­gung, Nutzen). Auch hier geht es nicht um “Recht”, son­dern Berech­ti­gun­gen, Voll­macht, Priv­i­legien, die die Obrigkeit gnädig den Unter­ta­nen gewährt hat und jed­erzeit zurück­nehmen kann. Daß Men­schen­rechte etwas Primäres sind und es gilt, staatliche, vielle­icht notwendi­ge Beschränkun­gen dieser Rechte zu kod­i­fizieren, wird deshalb nicht ver­standen — auch wenn Präsi­dent Jiang Zemin die amerikanis­che Unab­hängigkeit­serk­lärung auswendig her­sagen kann.
    Die chi­ne­sis­chen Führer haben keine Schwierigkeit­en, sich im Gespräch mit aus­ländis­chen Wür­den­trägern zur Demokratie (Min Zhu) oder Rechtsstaatlichkeit (Fa Zhi) oder Men­schen­recht­en (Quan Li) zu beken­nen. Sie meinen stets die chi­ne­sis­che Bedeu­tung. Und daß man mit Demokratie nicht “west­liche Demokratie” meint, son­dern die “sozial­is­tis­che”, die auch im Chi­ne­sis­chen “Volks­demokratie” heißt, ver­schweigt man dem Besuch­er tak­tvoll. Ist es Zufall, daß regelmäßig Juris­ten, die auf Dol­metsch­er angewiesen sind, aus den Min­is­te­rien nach Chi­na entsandt wer­den und nicht etwa Chi­na-Experten? Die chi­ne­sis­chen Gesprächspart­ner sind meist bestens geschulte Desin­for­ma­tion­sex­perten der Staatssicher­heit, die das west­liche Rechts­vok­ab­u­lar beherrschen und sich gerne nach Lon­don, Göt­tin­gen oder Kopen­hagen zu einem Sem­i­nar ein­laden lassen. Solche regierungsamtlichen Men­schen­recht­sex­perten wer­den gele­gentlich west­lichen Besuch­ern als “Men­schen­rechtler” vorgeführt.
    SIEGFRIED THIELBEER
    Bei aller polemis­chen Unter­strö­mung in Thiel­beers Text:
    Wie sauber ist hier die These abzu­sich­ern, dass es soziokul­turelle, ethis­che Norm­be­griffe gibt, die in ein­er bes­timmten Kul­tur missver­standen wer­den. Und ist solch­es Missver­ste­hen nicht ein schwach­er Beleg für die schwach for­mulierte Whorf-Hypothese?
    Nachsatz:
    Dass Kinder bes­timmte Worte nicht ver­ste­hen oder noch nicht ver­ste­hen, haben wir alle erlebt, sei es in Erin­nerung an unsere eigene Kind­heit, sei es es in gegen­wär­tiger Beobach­tung an Kindern.
    Dass damit bes­timmte Ver­ste­hen­sprozesse und darauf basierte Hand­lungsweisen kaum möglich sind, scheint einleuchtend.
    Dass sich bes­timmte Konzepte erst bei entsprechen­der Erfahrung im men­tal­en Lexikon aktu­al­isieren, das .…..

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