Der vollkommene Englische Weg=Weiser für die Deutschen

Von Kristin Kopf

Heute habe ich einen Buchtipp für euch: THE COMPLEAT ENGLISH GUIDE FOR THE GERMANS a.k.a. Der vol­lkommene Englis­che Weg=Weiser für die Deutschen. Erschienen 1715 in Leipsick/Leipzig.

Das ganze Buch ist super­span­nend, aber ich bin gle­ich bei den Aussprachehin­weisen hän­genge­blieben. Das geht auf Seite 1 los, klas­sis­cher­weise mit

A

Da gibt’s eine ganze Menge Beispiel­wörter mit Ausspra­chetipps für Deutsche, so z.B.

  • face ‘Gesicht’ → fähs,
  • blame ‘Schuld’ →  blähm.

Ein mod­ernes Lehrbuch würde hier eher fäis und bläim vorschla­gen, also Diph­thonge (Zwielaute). Das liegt nicht daran, dass der Autor keine Ahnung von englis­ch­er Aussprache hat­te (er war immer­hin “Englische[r] Sprach=Meister in Lon­don”), son­dern daran, dass das Englis­che sein Vokalsys­tem im Ver­lauf sein­er Geschichte ganz kräftig durchgerüt­telt hat.

So begann unser face seine Kar­riere im Englis­chen um 1300 herum, als es aus dem Franzö­sis­chen ein­wan­derte (steckt auch in den frz. Wörtern façade ‘Fas­sade, Front’ und en face ‘frontal, gegenüber’). Die dama­lige Aussprache war mit (langem) a. Gegen 1500 ver­wan­delte es sich in ein offenes ä − in IPA: [æ:] −, gegen Mitte des 17. Jahrhun­derts haben wir ein geschlosseneres ä − in IPA: [ɛ:] −, Mitte des 18. Jahrhun­derts ist ein e: draus gewor­den und erst Mitte des 19. Jahrhun­derts find­en wir das heutige [eɪ].

A wie Aufstieg

Das klingt erst­mal recht willkür­lich, hat aber ein gewiss­es Sys­tem: Der Laut kämpft sich im Mundraum immer weit­er nach oben, wie hier zu sehen:

Für Ani­ma­tion draufk­lick­en! (Vokaltrapez mod­i­fiziert nach: http://www.langsci.ucl.ac.uk/ipa/ipachart.html, CC-BY-SA, Inter­na­tion­al Pho­net­ic Asso­ci­a­tion. Kopf­quer­schnitt: Patrick J. Lynch, CC-BY‑2.5)

Das Lehrbuch von Beginn des 18. Jahrhun­derts gibt also einen älteren Aussprache­s­tand wider, den mit [ɛ:], das man im Deutschen pri­ma mit <ä> ver­schriften kann.

Andere Vokale

Die ersten Schritte dieser Umwälzung des Vokalsys­tems heißen auf Englisch Great Vow­el Shift (wörtlich ‘Große Vokalver­schiebung’). Sie betraf neben dem lan­gen a auch die anderen mit­te­lenglis­chen Lang­vokale (vgl. Pyles 1971:188; Oden­st­edt 2000:97; Free­born 1998:301):

  1. [e:] > [i:], z.B. feet ‘Füße’
  2. [ɛ:] > [e:] > [i:], z.B. speak ’sprechen’
  3. [i:] > [əɪ] > [aɪ], z.B. ride ‘reit­en’
  4. [o:] > [u:], z.B. boot ‘Stiefel’
  5. [ɔ:] > [o:] > [ɔʊ] > [əʊ], z.B. hope ‘hof­fen’
  6. [u:] > [əʊ] > [aʊ], z.B. house ‘Haus’

Der erste angezeigte Wan­del ist hier die GVS, die weit­eren (in Hell­grau) sind spätere Laut­wan­del. Auch hier sieht man schnell, dass der Artiku­la­tion­sort im Mund ten­den­ziell weit­er nach oben ver­lagert wurde.

In unserem Fall hier ist die GVS schon vol­l­zo­gen, aber die später noch fol­gen­den Verän­derun­gen noch nicht alle. Schaut man sich im Lehrbuch die Aussprachehin­weise für die übri­gen Lang­vokale an, die noch weit­ere Ver­schiebun­gen durchgemacht habe, so find­et man auch Hin­weise auf einen älteren Sprach­stand für das mit­te­lenglis­che [ɛ:] und [ɔ:]:

  • appeal ‘anrufen, appe­lieren’ → appehl (statt apihl)
  • open ‘offen’ → open (statt oupen)

Mit Nr. 3 ist das so eine Sache: Für das mit­te­lenglis­che [i:] gibt das Buch das Beispiel­wort time ‘Zeit’ mit der Aussprache teim an. Sieht also so aus, als sei die Verän­derung schon durch. Aber … im Deutschen gab es ja auch lustige Verän­derun­gen, unter anderem den früh­neuhochdeutschen Diph­thong­wan­del, bei dem aus ei ein ei wurde. Äh, ja. Genau. In der Schrei­bung sieht man keinen Unter­schied. Gesprochen aber schon: Aus [ɛɪ] (wie in ey!) wurde [aɪ]. Der Prozess war aber im 16. Jahrhun­dert abgeschlossen, d.h. hier ist tat­säch­lich die [aɪ]-Aussprache gemeint. Die Ver­schiebung von [u:] (Nr. 6) ist eben­falls schon kom­plett durch, wie man an der Wieder­gabe mit <au> sehen kann (house ‘Haus’ → haus).

Für eine Prise Chaos: Etymologische Schreibung

Das ver­weist auch gle­ich noch auf einen andere, wahrschein­lich recht offen­sichtlichen Punkt: Wie euch sich­er schon oft aufge­fall­en ist, ist die englis­che Orthografie ein einziges Durcheinan­der. Die GVS und die fol­gen­den Vokalwan­del sind daran ganz erhe­blich mitschuldig.

Die englis­che Schrei­bung wurde ziem­lich früh stan­dar­d­isiert. Laut­wan­del, die nach dem Ende des 15. Jahrhun­derts auf­trat­en, haben es i.d.R. nicht mehr in die Schrift geschafft, dort ist also ein älter­er Sprach­stand zu sehen. Eine Orthografiere­form, die die Schrei­bung an die heutige Aussprache angepasst hätte, gab es aber nie. Das Deutsche hinge­gen wurde sehr spät orthografisch stan­dar­d­isiert (im 18./19. Jahrhun­dert, mit der ersten offiziellen Regelung 1901), als der heutige Laut­stand bere­its erre­icht war. Wir haben daher nur ein paar kleinere Ver­weise auf die Laut­wan­delgeschichte in der Orthografie, die klas­sis­chen Beispiele sind:

  • <Leib>/<Laib> – <ei> geht auf mit­tel­hochdeutsches [i:] zurück (lîp), <ai> auf mit­tel­hochdeutsches [ɛɪ] (leip)
  • <Gäste>/<Reste>– <ä>geht auf althochdeutsches [a] zurück, <e> auf [e] oder [ɛ]

Das gilt allerd­ings zwar in vie­len, aber nicht in allen Fällen, dazu habe ich hier mal was geschrieben.

Ein weit­eres Beispiel für eine Sprache mit extrem ety­mol­o­gis­ch­er Schrei­bung ist das Franzö­sis­che, dessen Orthografie heute noch in vie­len Punk­ten dem Lautin­ven­tar des Alt­franzö­sis­chen folgt.

Quellen:

  • Free­born, Den­nis (²1998): From Old Eng­lish to Stan­dard Eng­lish. A Course Book in Lan­guage Vari­a­tion across Time. Bas­ingstoke, New York.
  • Oden­st­edt, Bengt (2000): The His­to­ry of Eng­lish. A Text­book for Stu­dents. Lund.
  • Pyles, Thomas (²1971): The Ori­gins & Devel­op­ment of the Eng­lish Lan­guage. New York u.a.

6 Gedanken zu „Der vollkommene Englische Weg=Weiser für die Deutschen

    1. Kristin Beitragsautor

      Schön­er Hin­weis! Die Diph­thongierung hat in zahlre­ichen englis­chen Dialek­ten nicht stattge­fun­den (schot­tis­ches Englisch, wal­i­sis­ches Englisch, nor­dengl. Dialek­te, (teilw.?) irisches Englisch), dort ist also noch ein älter­er Sprach­stand zu finden.

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  1. Milan No

    W lautet wie im Teutschen [sic]”
    Ist dieser Satz auch den Sprach­wan­del (wenn, dann wohl des Deutschen) zuzuschreiben, oder ein­fach der Unwillen des Autoren, eine unge­wohnte Aussprache zu beschreiben?

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    1. Kristin Beitragsautor

      Hm, Sprach­wan­del ist es nicht, unser [w] war schon im Mit­tel­hochdeutschen (1050–1350) ein [v] gewor­den. Vielle­icht wurde die Ähn­lichkeit aus prag­ma­tis­chen Grün­den für aus­re­ichend erachtet? Da der Autor ja Mut­ter­sprach­ler war, müsste er den Unter­schied auf jeden Fall hören gekon­nt haben.

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  2. lukas

    /er/ und /ur/ scheinen für den Autor noch nicht zusam­menge­fall­en zu sein (er gibt sie als “er” und “ör” wieder). /ir/ verteilt sich auf die bei­den Klassen.

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  3. smal grammeere

    Sehr toll ist auch die Liste der Homo­phone und ander­er leicht zu ver­wech­sel­nder Wörter auf S. 17. Inter­es­sant die Gegenüber von “bruit, Gerücht, Geschrey — brute, unvernünfftig Thi­er”. “bruit” habe ich noch nie gese­hen, wo das in den Zeitläuften wohl abge­blieben ist? 

    Die Bewe­is­führung, dass Nom­i­na im Englis­chen nicht durchdek­lin­iert wer­den, ist hin­reißend. Voka­tiv: ô Angel!

    Danke für den Hin­weis, das ist ein wirk­lich span­nen­des Buch.

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