Flüchtlinginnen und Flüchtlinge

Von Anatol Stefanowitsch

Dass das Wort „Flüchtling“ bezüglich sein­er Wort­bil­dung und vor allem sein­er Ver­wen­dung im all­ge­meinen Sprachge­brauch nicht unbe­d­ingt abschätzig ist, habe ich ja im vor­ange­hen­den Beitrag gezeigt, aber anlässlich der Wahl zum Wort des Jahres greift mein Kol­lege Peter Eisen­berg (bis zu sein­er Emer­i­tierung an der Uni­ver­sität Pots­dam, also gle­ich um die Ecke, tätig), in der FAZ ein anderes poten­zielles Prob­lem an diesem Wort auf:

Inter­es­sant ist, dass „Flüchtlinge“ sich bei genauerem Hin­se­hen als poli­tisch inko­r­rekt erweist. Es han­delt sich um eine Per­so­n­en­beze­ich­nung im Maskulinum, die von der Bedeu­tung her eigentlich einem Fem­i­ninum zugänglich sein sollte wie bei „Denker/Denkerin“, „Dieb/Diebin“. Aber die Form „Flüchtlingin­nen“ gibt es nicht. [Eisen­berg]

Auf dieses Prob­lem hat schon im Okto­ber meine Kol­le­gin Luise Pusch in ihrem Blog hingewiesen:

Rein sprach­lich gese­hen sind aber die „Flüchtlinge“ dur­chaus ein Prob­lem, denn das Wort „Flüchtling“ ist — wie alle deutschen Wörter, die mit „-ling“ enden — ein Maskulinum, zu dem sich kein Fem­i­ninum bilden lässt. [Pusch]

Als Prob­lem betra­cht­en das bei­de, auch wenn sie bezüglich ein­er möglichen Lösung zu unter­schiedlichen Ergeb­nis­sen kom­men: Pusch greift Sascha Lobos Vorschlag auf, das Wort Ver­triebene zu nehmen, oder ein anderes aus einem Par­tizip gebildetes Wort, wie Geflüchtete, Geflo­hene oder Willkommene. Diese Wörter kön­nen männlich (der Ver­triebene) oder weib­lich (die Ver­triebene) sein, im Plur­al (die Ver­triebe­nen) sind sie sog­ar geschlechtsneutral.

Eisen­berg kann sich mit dieser Lösung nicht anfre­un­den, denn er sieht an „willkür­lichen Norm­set­zun­gen“ wie Geflüchtete ein ungelöstes „Kern­prob­lem“:

Die bei­den Wörter bedeuten nicht das­selbe. Auf Les­bos lan­den Tausende von Flüchtlin­gen, ihre Beze­ich­nung als Geflüchtete ist zumin­d­est zweifel­haft. Umgekehrt wird auch ein aus der Advents­feier Geflüchteter nicht zum Flüchtling.

Das Deutsche ist so bil­dungsmächtig, dass man sich andere Wörter als Ersatz vorstellen kann: Ver­triebene, Geflo­hene, Zwangsem­i­granten, Enthei­matete und viele weit­ere, von denen eins schön­er ist als das andere. Aber es bleibt dabei: Sie alle bedeuten etwas anderes als Flüchtlinge. [Eisen­berg]

Über­haupt ist er geziel­ter Sprach­pla­nung gegenüber skep­tisch: „Die Sprache wird nicht akzep­tiert, wie sie ist, son­dern sie gilt als manip­ulier­bar­er Gegen­stand mit unklaren Gren­zen dieser Manipulierbarkeit.“

Eisen­berg und Pusch gehören bei­de zu den Sprachwissenschaftler/innen, die mich am stärk­sten geprägt haben, aber in diesem Fall bleiben sie mir bei­de etwas zu sehr an der Ober­fläche der zugrun­deliegen­den sprach­lichen Phänomene. Sehen wir uns das Prob­lem also genauer an.

Kein Femininum zu Flüchtling

Eisen­berg und Pusch sind sich einig, dass es zum masku­li­nen Flüchtling kein fem­i­nines Gegen­stück gibt. Pusch stellt das als Tat­sache lediglich fest, Eisen­berg geht einen Schritt weit­er und liefert eine sprach­wis­senschaftliche Begrün­dung dafür, dass die Bil­dung Flüchtlingin „aus­geschlossen“ sei. Er erk­lärt, dass die Suf­figierung (also das Anhän­gen von Nach­sil­ben an Wörter) bes­timmten Regeln fol­gt, speziell, dass dabei eine gewisse Rei­hen­folge einzuhal­ten sei. Das kann zum (wort­bild­ner­ischen) Prob­lem wer­den, wenn zwei Ele­mente in dieser Rei­hen­folge die gle­iche Posi­tion einnehmen:

Es kommt vor, dass in ein­er solchen Hier­ar­chie zwei Suf­fixe sozusagen par­al­lel geschal­tet sind und dann nur alter­na­tiv auftreten, niemals aber gemein­sam, egal in welch­er Rei­hen­folge. Das gilt für ‑in und ‑ling. Bei­de bilden im Gegen­warts­deutschen Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen, das eine Maskuli­na, das andere Fem­i­ni­na. Das Sys­tem sieht sie als miteinan­der unverträglich an. [Eisen­berg]

Es gebe eben Fälle, so Eisen­berg weit­er, „in denen das Sprach­sys­tem die vielle­icht ver­bre­it­et­ste Form des Gen­derns nicht zulässt“, und das müsse „jed­er, der auf diesem Gebi­et tätig wird, wis­sen und akzeptieren“.

Auch die sprachre­formerisch nicht ger­ade zurück­hal­tende Luise Pusch weiß und akzep­tiert das ja, aber stimmt es eigentlich? Spricht tat­säch­lich ein tiefliegen­der sprach­sys­temis­ch­er Grund dage­gen, an Maskuli­na mit -ling zusät­zlich das fem­i­nine Suf­fix -in zu hängen?

Ein kurz­er Blick in die jün­gere Sprachgeschichte zeigt, dass das nicht der Fall ist. Im Deutschen Textarchiv find­en sich rund 50 Tre­f­fer für Wörter, die bei­de Nach­sil­ben kom­binieren – am häu­fig­sten Lieblin­gin, gefol­gt von Läu­flingin, Flüchtlin­gin und Fremdlin­gin, aber auch Neulin­gin, Schüt­zlin­gin, Täu­flingin u.a.:

  1. Seit jhr so eine Frem­b­dlin­gin in der Welt / daß jhr das nicht wis­set? antwortete Santscho Panssa. [1648]
  2. Die Novi­tiatin oder Neulin­gin tra­gen zum Gedaͤchtniß der Unſchuld des Selig­mach­ers ein weiſſes Scapuli­er. [1715]
  3. Es ward ihm aufgegeben, die Fluͤchtlingin einzu­holen, nach­dem ihre Flucht und ihr grober Diebſ­tal zu jed­er­manns Wiſſenſchaft drang. [1779]
  4. Kommt mein Sohn Paris, wie mein väter­lich­er Wunſch iſt, glück­lich nach Tro­ja zurück, und bringt er eine ent­führte Griechin mit ſich, ſo ſoll euch dieſe aus­geliefert wer­den, wenn ſie anders nicht als Flüchtlin­gin unſern Schutz anfle­ht. [1839]
  5. Täu­flingin hat­te, während ihr das Mützchen gelöſt ward, dreimal kräftig genieſt: item, ſie war ein Weltwun­der von Geiſt und Gaben; [1871]
  6. Sie ſehen in mir die Abkömm­lin­gin eines Geſch­lecht­es, das ſich ſeit hun­dert Jahren nur von Frauengut und ohne jede andere Arbeit oder Ver­di­enſt erhal­ten hat, bis der Faden endlich aus­ge­gan­gen iſt. [1882]

Die Tre­f­fer reichen bis ins späte 19. Jahrhun­dert hinein, und sie stam­men von Autor/innen, deren Kom­pe­tenz bezüglich der deutschen Sprache außer Frage ste­ht, darunter Gus­tav Schwab (Bsp. [4]) und Got­tfried Keller (Bsp. [6]).

Die bei­den Nach­sil­ben haben keine nen­nenswerte Bedeu­tungsverän­derung erfahren, aus der sich die Verän­derung in ihrer Kom­binier­barkeit erk­lären würde – es ist also nur ein his­torisch­er Zufall, dass sie derzeit nicht gemein­sam vorkom­men können.

Solche Zufälle gibt es auch ganz ohne das Suf­fix -ling: die fem­i­nine Form Gästin, zum Beispiel, ist im Deutschen Textarchiv bis ins frühe 18 Jahrhun­dert belegt, klingt aber heute im all­ge­meinen Sprachge­brauch merk­würdig bis falsch. ((Das Wort erlebt aber möglicher­weise ein Come­back – Im Google-Books-Kor­pus zeigt sich seit Mitte des let­zten Jahrhun­derts ein Aufwärt­strend und der Duden hat Gästin 2013 offiziell aufgenom­men)) Da es keine tiefer­ge­hen­den Gründe für die derzeit­ige Nicht-Kom­binier­barkeit der Suf­fixe gibt, kann dieser Zus­tand dur­chaus vorüberge­hend sein – wenn die Sprecher/innen des Deutschen aufge­hört haben, diese Nach­sil­ben zu kom­binieren, kön­nen sie auch wieder damit anfangen.

Ist der Flüchtling überhaupt männlich?

Aber wäre es über­haupt ein Prob­lem, wenn die Nach­sil­ben unkom­binier­bar und der Flüchtling damit ein reines Maskulinum bliebe? Im Prinzip nicht, und die Gründe dafür liegen in ein­er Funk­tion­sweise men­schlich­er Sprachen, die auch weit­er unten noch ein­mal rel­e­vant wird: Wörter erhal­ten ihre Bedeu­tung nicht (bzw. nicht auss­chließlich) aus sich selb­st her­aus, son­dern zu einem großen Teil durch ihre Oppo­si­tion zu ähn­lichen Wörtern: Die Wörter Stuhl und Ses­sel unter­schei­den sich in ihrer Bedeu­tung, eben weil es zwei Wörter für Sitzgele­gen­heit­en gibt: im Englis­chen gibt es für bei­des nur das Wort chair, das – anders als die deutschen Wörter — harte und weiche Sitzmö­bel gle­icher­maßen bezeichnet.

Die meis­ten Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen im Deutschen haben eine masku­line und eine fem­i­nine Form, und aus dieser Oppo­si­tion ergibt sich die Bedeu­tung „männlich“ und „weib­lich“. Wörter, die in kein­er solchen Oppo­si­tion ste­hen – der Men­sch, die Per­son und eben auch der Flüchtling – sind im Prinzip geschlechtsneutral.

Lei­der nur im Prinzip, denn ganz so ein­fach ist es dann doch nicht, wie Luise Pusch schreibt:

Diese masku­li­nen Beze­ich­nun­gen [„Flüchtling“, „Lehrling“, „Täu­fling“, „Säugling“ usw.] ver­drän­gen Mäd­chen und Frauen aus unserem Bewusst­sein; sie lassen in unseren Köpfen automa­tisch Bilder von Jun­gen oder Män­nern entstehen.“

Das stimmt unglück­licher­weise, es liegt aber an einem Prob­lem, für das die Sprache nur teil­weise etwas kann: an ein­er kul­turell bed­ingten kog­ni­tiv­en Verz­er­rung, die uns immer dann, wenn von Men­schen die Rede ist, davon aus­ge­hen lässt, dass Män­ner gemeint sind, solange nicht expliz­it das Gegen­teil kom­mu­niziert wird. Dieser Verz­er­rung mögen wir uns nicht bewusst sein, sie ist aber dutzend­fach exper­i­mentell nachgewiesen, sie greift schon bei Kindern und existiert in allen bish­er unter­sucht­en Kul­turen – auch solchen, in deren Sprachen Geschlecht nie oder nur aus­nahm­sweise markiert wird.

Das Wort Flüchtling selb­st ist also nicht ver­ant­wortlich für die stereo­typ männliche Bedeu­tung, die es aus­löst. Die all­ge­meine kog­ni­tive Verz­er­rung wird aber in abse­hbar­er Zeit nicht ein­fach ver­schwinden (damit das geschieht, müsste zuerst das Patri­ar­chat und die Erin­nerung daran ver­schwinden). Es kön­nte also nüt­zlich sein, eine gram­ma­tisch fem­i­nine, seman­tisch weib­liche Alter­na­tive für das Wort Flüchtling zu haben, mit der man dort, wo nötig, dieser Verz­er­rung ent­ge­gen­wirken könnte.

Also doch alternative Wörter für Flüchtling?

Solche Alter­na­tiv­en gibt es ja, wie oben disku­tiert, bere­its: Pusch und Eisen­berg nen­nen das von Lobo und anderen vorgeschla­gene Ver­triebene, das auch von der Wort-des-Jahres the­ma­tisierte Geflüchtete/r und dessen Vari­ante Geflo­hene, Eisen­berg außer­dem Zwangsem­i­granten und Enthei­matete. Sie alle wer­den bere­its ver­wen­det und haben maskulin-männliche und fem­i­nin-weib­liche For­men, wären also gute Alter­na­tiv­en – wenn sie nicht, wie Eisen­berg betont, andere Bedeu­tun­gen trans­portieren wür­den als Flüchtling.

Kann also keine dieser Alter­na­tiv­en das Wort Flüchtling erset­zen? The­o­retisch doch, denn auch hier greift das Prinzip der Oppo­si­tion: die Wörter bilden ein Wort­feld, in dem jedes der Wörter seine Bedeu­tung durch Bezüge und Abgren­zun­gen der anderen vorhan­de­nen Wörter erhält. Würde das Wort Flüchtling mit einem Mal ver­schwinden, wür­den eins oder mehrere der anderen Wörter den frei­w­er­den­den Bedeu­tungs­bere­ich mit abdeck­en. Wie ich im let­zten Beitrag beschrieben habe, zeigt das Wort Geflüchtete/r tat­säch­lich jet­zt schon erste Anze­ichen ein­er Aus­dehnung in den Bedeu­tungs­bere­ich von Flüchtling.

Schlussgedanken

Eisen­bergs Argu­men­ta­tion geht also an min­destens zwei Stellen impliz­it von ein­er sta­tis­chen Vorstel­lung von Sprache aus: erstens dort, wo er die derzeit­ige Nicht-Kom­binier­barkeit von -ling und -in als unverän­der­liche Eigen­schaft des Sprach­sys­tems darstellt und zweit­ens dort, wo er die Bedeu­tun­gen der Alter­na­tiv­en für Flüchtling als gegeben und eben­falls unverän­der­lich annimmt. Aus dieser angenomme­nen Sta­tik des Sys­tems ergibt sich zum Teil seine oben zitierte Kri­tik an denen, die die Sprache nicht so akzep­tieren, „wie sie ist“. Zum anderen Teil ergibt sie sich – ver­mute ich – aus dem in der Sprach­wis­senschaft weit ver­bre­it­eten Axiom, dass Sprache sich nicht von außen verän­dern lässt, son­dern sich nach eige­nen Geset­zmäßigkeit­en entwickelt.

Aber natür­lich „ist“ Sprache nie, sie ist zu jedem Zeit­punkt im Wer­den. Und natür­lich lässt sie sich in ihrer Entwick­lung bee­in­flussen: die Sprachge­mein­schaft hat eine Rei­he diskri­m­inieren­der Wörter aus dem all­ge­meinen Sprachge­brauch genom­men, sodass sie ganz ver­schwun­den oder in einzelne Sub­kul­turen abge­drängt wor­den sind.

Man kann – wie Eisen­berg, und wie auch ich – der Mei­n­ung sein, dass keine Notwendigkeit beste­ht, das auch mit dem Wort Flüchtling zu tun. Ich stimme ihm zu, dass die Bedeu­tungsvielfalt der Wörter im Wort­feld „Men­schen auf der Flucht“ eine Ressource zur Bedeu­tungs­d­if­feren­zierung ist, die wir nicht vorschnell aufgeben müssen und soll­ten. Das Prob­lem des Gen­derns wür­den wir allein mit ein­er Neube­wor­tung sowieso nicht in den Griff bekom­men, denn im schein­bar geschlecht­sneu­tralen Plur­al, in dem die Wörter typ­is­cher­weise ver­wen­det wer­den, käme ohne­hin die oben erwäh­nte kog­ni­tive Verz­er­rung wieder ins Spiel (bei die Geflüchteten denken wir zunächst genau­so sehr nur an Män­ner wie bei dem Wort die Flüchtlinge).

Aber man sollte die grund­sät­zlichen Möglichkeit­en und Notwendigkeit­en sprach­planer­isch­er Ein­griffe nicht mit dem Argu­ment abtun, das Sprach­sys­tem sei, wie es ist. Sprache ist, was ihre Sprachge­mein­schaft aus ihr macht.

Dieser Beitrag wurde unter Recherchen abgelegt am von .

Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

20 Gedanken zu „Flüchtlinginnen und Flüchtlinge

  1. Manfred Höfert

    Ja, habt ihr bei Flüchtlin­gen keine anderen Gedanken, als darüber zu schreiben, dass sich aus Flüchtling kein Fem­i­ninum bilden lässt? Schaut euch doch die Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm an, die sich über die Balka­n­routen schlep­pen und vergesst die Petitesse des gram­matikalis­chen Geschlechts.

    Antworten
  2. f.k.

    Ich finde, da wird mit Eisen­bergs Artikel noch sehr gnädig umge­gan­gen. Was hier als Sprach­pla­nungsskep­sis aus­gelegt wird, klingt für mich im Zusam­men­hang eher nach etwas merk­würdi­gen präskrip­tivis­tis­chen Auswüch­sen mit Allgemeingeltungsanspruch:

    Was einen Sprach­wis­senschaftler am etablierten Gen­dern selb­st dann beun­ruhigt, wenn er die sprach­liche Sicht­bar­ma­chung von Frauen freudig begrüßt, ist dreier­lei. Erstens: Die Sprache wird nicht akzep­tiert, wie sie ist, son­dern sie gilt als manip­ulier­bar­er Gegen­stand mit unklaren Gren­zen dieser Manip­ulier­barkeit. Zweit­ens: Die Ken­nt­nis des Gegen­standes, an dem man Verän­derun­gen vorn­immt, geht nicht sehr weit. Drit­tens: In vie­len Fällen stig­ma­tisiert man Wörter, ohne dass es brauch­bare Alter­na­tiv­en gäbe.”

    Eisen­berg nimmt nicht nur an, dass das Sys­tem Sprache sta­tisch ist, er tut so, als sei dies unum­strit­ten (und disst neben­bei auch noch dezent die ange­bliche Unken­nt­nis der­er, die für Verän­derun­gen ein­treten). Aber was ihn als offen­sichtlichen Hard­core-Präskrip­tivis­ten “beun­ruhigt”, kön­nen für Deskriptivist*innen ja dur­chaus recht span­nende Entwick­lun­gen und Phänomene sein.

    Es wirkt auf mich nun mal immer sehr befremdlich, wenn jemand den Ein­druck erweck­en möchte, die Gesamt­mei­n­ung eines sehr het­ero­ge­nen Feldes zu vertreten — ins­beson­dere, wenn ich mich als Teil dieses Feldes betrachte.

    Antworten
    1. Anatol Stefanowitsch Beitragsautor

      @ f.k.: Ich war vielle­icht in sofern „gnädig“, dass ich mich auf die Sub­stanz der Argu­mente konzen­tri­ert habe, und nicht auf den sich teil­weise etwas ans Kon­ser­v­a­tiv-Feuil­leton­is­tis­che annäh­ern­den Ton. Den sehe ich eher der Textsorte geschuldet, als dass ich Eisen­berg Präskrip­tivis­mus unter­stellen würde. Ich denke nicht, dass es ihm um Nor­men geht, son­dern um die Idee eines Sprach­wan­del, der nach sys­temim­ma­nen­ten Prinzip­i­en abläuft. Diese Idee ist in der Sprach­wis­senschaft ja dur­chaus noch Lehrmei­n­ung, ich halte sie aber vor allem im Bere­ich der Wortschatzen­twick­lung für nicht haltbar.

      Antworten
  3. Thorsten

    Ganz doofe Frage: Kann man Flüchtling nicht als Diminu­tiv sehen? So dass man sich den Flüchter und die Flüch­terin vorstellen könnte?

    Bei Säugling geht das nicht, der Säuger ist schon belegt, aber hier?

    Antworten
    1. Anatol Stefanowitsch Beitragsautor

      @ Thorsten: -ling hat sich his­torisch aus der Sub­stan­tivierungsendung -ing (wie es sie im Englis­chen heute noch gibt) entwick­elt, ist also nicht vor­rangig diminu­tiv. Flüchter/in wäre natür­lich trotz­dem eine mögliche Alter­na­tive, sie klingt für meine Ohren aber spon­tan sehr abw­er­tend (warum, kann ich noch gar nicht genau sagen, möglicher­weise wegen Wörtern wie Nest­flüchter).

      Antworten
  4. Rebecca

    Sehr guter Debat­ten­beitrag! Ich würde gerne noch das auch als Anglizis­mus des Jahres vorgeschla­gene “Refugee/s” als Alter­na­tive in den Raum wer­fen, welch­es die Prob­lematik der Bedeu­tungsver­schwim­mung bei Ver­wen­dung von “Geflüchtete” (die ja nicht immer schon angekom­men sind, die Flucht also noch nicht abgeschlossen haben) nicht hat. Ich selb­st nutze es, wenn ich darauf achte, fast immer, mein Umfeld ebenso.
    Allerd­ings bin ich unsich­er, wie es da mit dem impliziten Geschlecht aussieht.… Was denken Sie?

    Antworten
  5. Clemens Radl

    … denken wir zunächst genau­so sehr nur an Män­ner wie bei dem Wort _die Flüchtlinge_”. Ist das wirk­lich so? Ste­he ich damit, mir bei “Flüchtlin­gen” sofort Frauen und Kinder vorzustellen (so wie ich zugeben muss, dass ich bei “Piloten” etc. unge­wollt eher Män­ner assozi­iere), wirk­lich so alleine?

    Den Begriff “Flüchtling” habe ich Ende der 70er/Anfang der 80er gel­ernt, wenn meine Oma von der Flucht erzählt hat. Da ging es eher um Frauen und Kinder, die Män­ner waren tot, an der Front oder in Gefan­gen­schaft (oder fan­den es ein­fach nicht so “cool” zu erzählen, dass sie eben­falls auf der Flucht waren — eine Tätigkeit, die sich ja mit dem klas­sis­chen männlichen Rol­len­ver­ständ­nis nur schw­er vere­in­baren lässt).

    An dieser spon­ta­nen Assozi­a­tion von “Flüchtlin­gen” mit Frauen, Kindern an der Hand/auf dem Arm, evtl. Leit­er­wa­gen hin­ter sich herziehend, hat sich bei mir auch durch mod­erne Nachricht­en­bilder nicht so viel geändert.

    Antworten
  6. Ohno

    @Anatol Ste­fanow­itsch: In meinen Ohren klingt (Nest)flüchter nicht neg­a­tiv­er als (Nest)hocker, das ist sub­jek­tiv. Wenn Flüchter/in zu abw­er­tend klingt (was ich per­sön­lich so nicht empfinde) kön­nte man dann über Fliehender/in oder Flüchtender/in nachdenken?

    Antworten
  7. Christoph Päper

    Bei sprach­his­torischen Betra­ch­tun­gen sollte man nicht vergessen bzw. ver­schweigen, dass +in früher nicht so pro­duk­tiv war wie heute und auch gesellschaftlich bed­ingt eine andere oder zusät­zliche Bedeu­tung hat­te: ‘Ehe­frau von jmd., der X tut/ist’ vs. ‘Frau, die X tut/ist’.

    Ich möchte Eisen­berg die Aus­sagen unter­stellen, dass lexikalis­che Änderun­gen am Sprach­sys­tem (oder sog­ar nur ‑gebrauch) ein­fach­er und schneller erfol­gen als mor­phol­o­gis­che und gezielte Manip­u­la­tio­nen in einem deskrip­tivis­tis­chen Mod­ell mit Sprache als Phänomen der drit­ten Art (d.h. wed­er Natur- noch Kul­tur­phänomen) unmöglich sind.

    Da +ling und +in im Stan­dard­deutschen derzeit in kein­er Rei­hen­folge hin­tere­inan­der ste­hen kön­nen – im Nieder­ländis­chen gibt es hinge­gen bspw. die weib­liche leer+ling+e –, kann man über­legen, ob sie dieselbe Stelle ein­nehmen kön­nten: *Flücht+in. Es zeigt sich, dass dies in bere­its kon­ven­tion­alvisierten Wörtern eben­so nicht der Fall ist. Es wirkt allerd­ings auch nicht völ­lig unmöglich. Vielle­icht wäre ein weniger fre­quentes Allo­morph des Movems geeigneter: *Flücht+ine. Das erscheint jeden­falls natür­lich­er als eine stärk­er am +ling ori­en­tierte Neu­bil­dung wie *Flücht+lin oder *Flücht+line oder die Reak­tivierung *Flüchtling+in. Nichts­destotrotz hat -ine bish­er einen gewis­sen Diminu­ti­vaspekt. Außer­dem wären das alles „Ver­let­zun­gen“ des aktuellen Sprach­sys­tems, die nicht für ein Wort allein zu recht­fer­ti­gen wären, und plöt­zlich würde sich wieder die Frage nach einem gemein­samen, unverdächti­gen Plur­al stellen.

    Antworten
  8. Pingback: Dentaku » @percanta @e13Kiki @beck_zoe Bitteschön: https://t…

  9. Benjamin Kelch

    Flüchter/in find ich gut. Wenn der Flüchter oder wenn die Flüch­terin nicht mehr flüchtet, wird er damit zur/zum Geflüchteten.
    Damit überge­ht man auch das Prob­lem der beste­hen­den Bedeu­tungs­bele­gung der Begriffe Vertriebene/r, Zwangsemigrant/in, Entheimatete/r

    Antworten
  10. Thomas Diehl

    Die all­ge­meine kog­ni­tive Verz­er­rung wird aber in abse­hbar­er Zeit nicht ein­fach ver­schwinden (damit das geschieht, müsste zuerst das Patri­ar­chat und die Erin­nerung daran verschwinden)”
    Das unter­stellt eine Kon­stru­iertheit dieses Phänomens. Sofern diese existiert, geht sie aber noch weit, weit tiefer. Der männliche Men­sch ist offen­bar die Default-Option unser­er Wahrnehmung und das nicht nur sprach­lich und gesellschaftlich, son­dern auch auf ein­er ganz instink­tiv­en, wom­öglich biol­o­gis­chen Ebene. Man ver­gle­iche ein­mal die Liste sekundär­er Geschlechtsmerk­male, dann fällt auf: Brüste sind ein sekundäres Geschlechtsmerk­mal, ihr Fehlen hinge­gen nicht (und der Bart als Gegen­stück ist aufwand- und schad­los wegrasierbar).
    Insofern hil­ft eine Abschaf­fung des Patri­achats wohl wenig bis nichts, die Ursachen sind viel tiefer und wom­öglich bis ins genetis­che hin­unter in der für ein Säugeti­er recht extremen Sex­ualdimor­phie des Men­schen begrün­det. Das Patri­ar­chat ist somit nicht Ursache, son­dern (wenn auch wahrschein­lich rück­kop­pel­nde) Folge des Bias.

    Antworten
  11. Thomas Diehl

    Und noch zum The­ma: Ich benutze “Ver­triebene”, allein schon wegen der zusät­zlichen Imp­lika­tio­nen sowohl des Begriffs sel­ber als auch sein­er Form (Pas­siv!). Mir ist dabei aber auch klar, dass genau das dur­chaus als ide­ol­o­gisch aufge­laden gel­ten kann.

    Antworten
  12. j.

    @ Diehl und @ Päper:
    Und bei der Partheno­genese gäbe es nur männliche Tiere ein­er Art, die aus ihren Sper­mien statt aus Eizellen Nachkom­men zeu­gen. Bei den Bienen gäbe es einen König mit seinen Arbeitern.

    Antworten
  13. Pingback: Umleitung: Krise, Flucht, Geschichte, Funke-Medien, Möchtegern-Ökos und das Erwachen der Macht … | zoom

  14. Mario H.

    Flüchtling und Ver­trieben­er würde ich nicht gle­ich­set­zen wollen. In erster Lin­ie erscheint mir der Grund für die, nun ja, Reise unterschiedlich:
    — Flüchtlinge flücht­en meist aus eigen­em Antrieb, vor Krieg, Hunger, Elend
    — Ver­triebene wer­den aktiv vertrieben
    (Diese Unter­schei­dung behin­hal­tet bei mir keine Bewertung!)

    All­ge­mein: wenn ich dan der (einzelne) Flüchtling denke, denke ich an einen Mann. Bei die Flüchtlinge ist das bei mir nicht (in dem Maße zumin­d­est) der Fall.

    Antworten
  15. dingdong

    @Christoph Päper
    Inter­es­san­ter­weise gibt es sog­ar Tier­arten, bei denen die Geschlechtschro­mo­some so funk­tion­ieren. Männliche Vögel ver­fü­gen über zwei W‑Chromosome, während Weibchen ein W- und ein Z‑Chromosom haben

    Antworten
  16. Christoph

    Was vie­len Befür­wortern von “Geflüchtete” nicht bewusst ist, ist dass “Geflüchtete/r” m.E. viel eher neg­a­tiv behaftet ist als “Flüchtling”:

    Bei mir ruft es vor allem Assozi­a­tio­nen von Verdächtigen/Straftätern her­vor, die vor der Polizei auf der Flucht sind! Wenn ich das Wort “Geflüchtete” höre und nicht aus dem Kon­text weiß, dass es Flüchtlinge sind, denke ich daran (was nochmals zeigt, dass die Worte eben nicht syn­onym sind, worauf Ana­tol ja hingewiesen hat). Es wäre inter­es­sant das mal in einem Kor­pus zu unter­suchen. Ich würde ver­muten, dass vor ein paar Jahren — bevor Flüchtlinge so ein großes The­ma in den Medi­en waren — “Geflüchtete” vor allem im Kon­text von Polizei-Ver­fol­gung benutzt wurde.

    D.h. ein neu­trales Wort soll jet­zt der gen­derg­erecht­en Sprache wegen einem neg­a­tiv kon­notiert­eren Wort geopfert wer­den? Das kann ja nicht das Ziel der Befür­worter von poli­tis­ch­er Kor­rek­theit sein!

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.