Unwörter und Undinge

Von Anatol Stefanowitsch

Die Sprachkri­tis­che Aktion nimmt seit dem 18. Okto­ber mal wieder Vorschläge für das „Unwort des Jahres“ ent­ge­gen. „Unworte“ wer­den von den sprachkri­tis­chen Aktionären dabei definiert als

… sprach­liche Miss­griffe in der öffentlichen Kom­mu­nika­tion, die 2007 beson­ders neg­a­tiv aufge­fall­en sind, weil sie sach­lich grob unangemessen sind und möglicher­weise sog­ar die Men­schen­würde verletzen.

Wie der Stern diese Woche berichtet, haben sich bis­lang etwa 860 Ein­sender an der Suche beteiligt. Allerd­ings stoßen nicht alle Ein­sendun­gen auf die ungeteilte Begeis­terung des Haup­tak­tionärs, Prof. Horst Dieter Schlosser:

Er habe inner­halb weniger Tage mehr als 100 Mails bekom­men, in denen „Kopf­tuchver­bot“ als Unwort vorgeschla­gen werde, berichtete Schloss­er. Eine mus­lim­is­che Organ­i­sa­tion in Deutsch­land habe zur Unter­stützung dieses Worts aufge­fordert und angekündigt, bis zum Ein­sende­schluss für die Unwort-Vorschläge am 7. Jan­u­ar rund 1000 Mails zu schicken. 

Aber von dieser Art Engage­ment lassen sich die Unwortjäger natür­lich nicht aus der Ruhe bringen:

Solche Unter­stützer­ak­tio­nen beein­druck­en uns aber über­haupt nicht“, betonte Schloss­er. Nicht die Masse der Ein­sendun­gen, son­dern ein beson­ders krass­es Missver­hält­nis zwis­chen Wort und Sache sind für die sechs Juroren bei der Wahl des Unworts ausschlaggebend. 

Ich stimme Schloss­er zu, dass ein solch­es Missver­hält­nis bei dem Wort Kopf­tuchver­bot nicht beste­ht. Es drückt genau das aus, was es beze­ich­net: ein Ver­bot von Kopftüch­ern. Schloss­er durch­schaut denn auch messer­scharf, dass es den Ein­sendern gar nicht um das Wort geht, son­dern um die Sache:

Zudem sei das „Kopf­tuchver­bot“ kein Unwort, son­dern — zumin­d­est aus Sicht der Ein­sender — ein Und­ing, habe also ohne­hin keine Chance.

Richtig so. Aber — halt! Was war nochmal das Unwort des let­zten Jahres? Ach ja: frei­willige Aus­reise. Das ist doch eigentlich auch kein Unwort son­dern besten­falls ein Und­ing (näm­lich dann, wenn man, wie die Sprachkri­tik­er, ver­mutet, dass es mit der Frei­willigkeit nicht weit her sein kön­nte). Und in der Presseerk­lärung wer­den als pos­i­tive Beispiele für „Unwortverdächtiges“ noch Wörter wie Bun­de­stro­jan­er und Herd­prämie genan­nt — bei­des äußerst tre­f­fende Beze­ich­nun­gen, die das Beze­ich­nete in ent­lar­ven­der Klarheit als das darstellen, was es ist: in einem Fall ein Com­put­er­pro­gramm, das die Bun­desregierung heim­lich auf den Rech­n­ern freier Bürg­er instal­lieren will, um deren Dat­en auszus­pi­onieren und im anderen Fall eine staatliche Trans­fer­leis­tung an Frauen, die sich frei­willig aus dem Arbeits­markt entfernen.

Ich nehme deshalb an, dass es auch hier nicht die Wörter sind, die als „un“ emp­fun­den wer­den, son­dern die Dinge, die sie beze­ich­nen. Mit anderen Worten, poli­tis­che Nörgelei als Sprachkri­tik ver­pack­en darf nur die selb­ster­nan­nte Jury der „Sprachkri­tis­chen Aktion“, nicht aber eine „mus­lim­is­che Organisation“.

Dabei kommt mir eine Unidee. Die „Sprachkri­tis­che Aktion“ schränkt in ihrer Pressemel­dung den Teil­nehmerkreis stil­sich­er ein:

Vorschläge kön­nen von allen Deutschsprachi­gen im In- und Aus­land gemacht werden.

Warum schließt man Mus­lime nicht ein­fach mit der Begrün­dung aus, dass sie per Def­i­n­i­tion keine „Deutschsprachi­gen“ sind?

Wer trotz­dem noch Lust hat, sich an der sprach­lich ver­brämten Gesellschaft­skri­tik zu beteili­gen, kann unter der Email-Adresse unwort@em.uni-frankfurt.de noch bis zum 7. Jan­u­ar 2008 Vorschläge machen.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

12 Gedanken zu „Unwörter und Undinge

  1. Stefan

    Vielle­icht “Inter­net-Tage­buch”? Ich habe schon so oft in den Offline-Medi­en von diesen gele­sen, aber obwohl ich seit 10 Jahren im Netz aktiv bin noch nie jeman­den gesehn, der sein Tage­buch ins Inter­net stellt.

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  2. Thomas Müller

    Es geht bei der Aktion doch um die Diskrepanz zwis­chen Beze­ich­netem und Beze­ich­nen­dem, also dem gesucht­en Unwort — im Falle von z.B. “Herd­prämie” beste­ht diese doch dur­chaus. Der Begriff ist eine Par­o­die (oder ein Dys­phemis­mus) auf den von Ihnen genan­nten poli­tis­chen Vorschlag. “Frei­willige Aus­reise” dient bisweilen als Euphemis­mus für “Abschiebung”.

    Par­o­die bzw. Dys­phemis­mus und Euphemis­mus sind doch per­fek­te Beispiele für einen tiefen Graben zwis­chen Wort und “Ding”. Im Falle des “Kopf­tuchver­bots” kann ich nichts der­gle­ichen aus­machen. Ob man solche im öffentlichen Diskurs gebrauchte sprach­liche Stilmit­tel nun unbe­d­ingt ein­er Sprachkri­tik unterziehen muß sei mal dahingestellt… aber Sprachkri­tik ist es, nicht bloße “poli­tis­che Nörgelei” wie im Falle der “mus­lim­is­chen organisation”.

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  3. Anatol Stefanowitsch

    Herr Müller, Diskrepanz liegt doch aber im Auge des Betra­chters. Für mich beste­ht bei der „Herd­prämie“ keine Diskrepanz, der Begriff beschreibt aus mein­er Sicht ent­lar­vend genau, worum es den Erfind­ern des „Betreu­ungs­geldes“ eigentlich geht. Für mich wäre also der Begriff „Betreu­ungs­geld“ das eigentliche Unwort, wenn ich an Unwörter glauben würde — wie kann man Geld dafür erhal­ten, sein eigenes Kind zu betreuen!

    Und genau­so ist es beim „Kopf­tuchver­bot“. Für mich beste­ht da keine große Diskrepanz zwis­chen Wort und Bedeu­tung — es geht darum, bes­timmten Per­so­n­en in bes­timmten Sit­u­a­tio­nen das Tra­gen von Kopftüch­ern zu ver­bi­eten. Die nicht näher genan­nte „mus­lim­is­che Organ­i­sa­tion“ dürfte das anders sehen: sie sieht ver­mut­lich die Reli­gions­frei­heit bedro­ht — und aus dieser Sicht ist das Wort Kopf­tuchver­bot natür­lich ein ver­harm­losender Euphemis­mus, nicht anders als frei­willige Aus­reise.

    Die „Sprachkri­tis­che Aktion“ tut so, als könne zwis­chen Wörtern und dem, was sie beze­ich­nen, eine objek­tive Diskrepanz beste­hen. Tat­säch­lich macht sie aber ihre eigene, nicht näher dargelegte Welt­sicht zur Norm an der sie, unter dem Vor­wand der Sprachkri­tik, andere Welt­sicht­en misst.

    Es ist ja dur­chaus möglich, sich Begriffe aus dem öffentlichen Diskurs her­auszu­greifen und über eine Dekon­struk­tion dieser Begriffe dahin­ter ste­hende Konzepte und Wert­sys­teme zu analysieren (so wie es die Fram­ing-Analyse tut). Aber das ist weit ent­fer­nt von dem, was die „Sprachkri­tis­che Aktion“ verzapft…

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  4. Thomas Müller

    Sie haben Recht — die Diskrepanz ist eine Sache der Per­spek­tive. Mir ging es nur darum, daß ich mir nicht vorstellen kon­nte, wie man “Kopf­tuchver­bot” entsprechend inter­pretieren kön­nte. Ihr Ansatz ist aber ein­leuch­t­end, zugegeben. 🙂

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  5. rauskucker

    Was ist eigentlich ein(e) Herd?

    Ich bin etwas verzweifelt: als ich heute (gestern) im DLF einen Poli­tik­er sagen hörte, die “Herd­prämie” habe etwas mit “Frauen zurück an den Herd” zu tun, habe ich laut aufgelacht ob sein­er Unwissenheit.

    Ich war mir ganz sich­er, daß das Wort etwas mit Tierzucht zu tun hat. Ich wollte dies eben im Netz ver­i­fizieren, und was finde ich: lauter Hin­weise auf den Backofenherd! 

    Irgend­wo habe ich es mal gehört und mir gemerkt, aber anscheinend nie­mand außer mir. So wie im “Herd­buch” die Abstam­mung der Tiere fest­ge­hal­ten wird, belohnt die Herd­prämie Frauen für das “Wer­fen” von Nachwuchs.

    Und deshalb!, deshalb hat sich Mixa so aufgeregt, weil er diese Wortbe­deu­tung kennt.

    Und jet­zt weiß es nicht mal der große Ana­tol S. 

    Habe ich nun also etwas in den völ­lig falschen Hals gekriegt, oder kann Irgend­je­mand bestäti­gen, daß der Begriff “Herd” sich hier nicht auf ein Haushalts­gerät bezieht son­dern auf eine Tierherde?

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  6. Patrick Schulz

    @rauskucker

    Also ich denke, beim Herd in Herd­prämie ist schon der zum Kochen gedachte Herd gemeint. Sollte Herd im Sinne von (Tier-) Herde gemeint sein, müsste das Kom­posi­tum mein­er Mei­n­ung nach “Herdenprämie” heis­sen, was es aber nicht tut.

    Ein ander­er inter­es­san­ter Punkt an Deinem Kom­men­tar ist Dein Benutzer­name: Ein Dozent von mir schreibt — wie Du — auch immer “kuck­en”, obwohl ich eigentlich fast nur “guck­en” kenne, z.B. aus Comics, die ich in mein­er Kind­heit immer gele­sen habe. Dann fällt mir auf, dass man tat­säch­lich [kʊkŋ] sagt und nicht [gʊkŋ].

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  7. rauskucker

    Danke Patrick.

    a) es heißt aber auch “Herd­buch” und nicht “Her­den­buch”.

    b) Es heißt nun mal “rauskuck” und “rauskuck­er”, punk­tum. In Tex­ten benutze ich bei­des, “guck­en” und “kuck­en”, je nach Zusam­men­hang. Mach­mal auch “sehen”, aber nie “schauen”.

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  8. Kristin

    Wäre das Wort Herd­prämie schon sehr alt, kön­nte ich mir das mit der Herde bess­er vorstellen — ich habe mal ein bißchen im Deutschen Wörter­buch der Grimms geblät­tert und da find­et sich Her­dochse, Herd­sau in der Herde-Bedeu­tung (zumin­d­est bei let­zterem ste­ht es expliz­it dabei), alle anderen Zusam­menset­zun­gen mit Herd- beziehen sich aber auf den Ofen (oder auf die Erde).

    Ich habe ein wenig nach der Ety­molo­gie von Herd­buch gesucht, und bin dabei über Wikipedia auf Mey­ers Kon­ver­sa­tion­slexikon gestoßen, das schreibt:

    In Eng­land legte man schon 1808 ein Gen­er­al stud book an, […] 1822 wurde das Short­horn-Herd­book begrün­det, und auch in andern Staat­en ist man dem englis­chen Vorge­hen gefol­gt. […] 1865 begrün­dete Set­te­gast ein “Deutsches H.” (bis 1875: 4 Bde.; fort­ge­set­zt von der Deutschen Viehzucht- und H.-Gesellschaft, Bd. 5, 1882) […] 

    Es kann also sehr gut sein, dass das Erst­glied Herd- ein­fach aus dem Englis­chen über­nom­men wurde, da es im Deutschen noch immer ver­ständlich war und vielle­icht auch, weil es an Her­dochse und Herd­sau angeschlossen wer­den kon­nte — wie ver­bre­it­et die bei­den Wörter waren, weiß ich natür­lich nicht.

    Da das Wort Herd­prämie aber meines Wis­sens neu und nicht entlehnt ist (es beze­ich­net ja das Betreu­ungs­geld der CSU), hätte es für die Herde-Bedeu­tung wirk­lich den Kom­po­si­tion­sregeln des Neuhochdeutschen fol­gen müssen, wonach die von Patrick genan­nte Form zu erwarten wäre.

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  9. rauskucker

    Kristin, vie­len Dank für deine aus­giebi­gen Nachforschungen. 

    Ich will das auch alles gerne glauben. Das Prob­lem ist, daß ich auf eine pos­i­tive Bestä­ti­gung gehofft habe, Neg­a­tiv­belege helfen da nicht. Weil ich mir ziem­lich sich­er bin, daß Jemand mal in die Tier­pro­duk­tion­srich­tung hin das Wort (und Mixas Reak­tion darauf) erk­lärt hat, ver­mut­lich war das auch im Radio. Daß vieles dage­gen­spricht, ist klar. Aber ich hab mir das doch nicht ausgedacht? 

    Na, vielle­icht dann doch…

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  10. Kristin

    *hehe* Ja, mir ist schon klar, dass ich es höch­stens ein wenig unplau­si­bler gemacht habe. Vielle­icht kannst Du ja mal bei der Wort­warte nach­fra­gen, ob die Entste­hung des Wortes irgend­wo greif­bar ist.

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