Wie man den Nobelpreis nicht gewinnt

Von Anatol Stefanowitsch

Doris, Doris, ich bin ent­täuscht von dir. Da bekommst du den Lit­er­aturnobel­preis ver­liehen und erhältst die Chance, der Welt deine Gedanken mitzuteilen, und dann fällt dir nichts besseres ein, als dich über die ange­bliche „Lese­faul­heit“ der Jugend in der „reichen Welt“ auszu­lassen. Und die Medi­en greifen das natür­lich dankbar auf:

In ihrer Rede unter dem Titel „Wie man den Nobel­preis nicht gewin­nt“ beklagte die 88-Jährige, die Jugend in der reichen Welt habe das Inter­esse an Büch­ern ver­loren. Sie bevorzuge Inter­net und Fernse­hen. … Inter­net und Fernse­hen seien eine „Rev­o­lu­tion“, über deren Auswirkun­gen die Welt aber nicht aus­re­ichend nach­denke, bedauerte Less­ing weit­er. … Das Inter­net habe eine ganze Gen­er­a­tion mit seinen „Albern­heit­en“ ver­führt. Dabei gebe es eine Fülle von Lit­er­atur, die jedem zur Ent­deck­ung offen ste­he. Ohne diesen „Schatz“ seien die Men­schen „leer und arm“. (nachrichten.ch)

Das alles ist natür­lich eine Kon­se­quenz der Dekadenz der west­lichen Welt. Die unver­dor­be­nen jun­gen Men­schen in den Entwick­lungslän­dern sind da ganz anders:

Less­ing betonte, dass in den Entwick­lungslän­dern junge Leute dage­gen gar nicht genug von Büch­ern kriegen kön­nten. Von „Kenia bis zum Kap der guten Hoff­nung“ könne über­all ein „Hunger nach Büch­ern“ beobachtet werden.

Doris, das ist soviel Blödsinn auf ein­mal, da weiß ich gar nicht, wo ich anfan­gen soll. Erstens würde ich von dir gerne einen Beleg dafür sehen, dass die Jugendlichen heute weniger lesen, als vor der Erfind­ung des Fernse­hens. Es kann ja sein, aber irgend­wie mag ich es nicht so recht glauben. Denn wenn ich mich richtig erin­nere, hat­ten die jun­gen Men­schen damals nicht allzu­viel Muße — sie mussten in Fab­riken und auf den Bauern­höfen ihrer Eltern arbeit­en, um zum Fam­i­lieneinkom­men beizu­tra­gen. Zweit­ens hätte ich gerne einen Beleg für den unstill­baren Hunger der Jugendlichen in der drit­ten Welt nach Büch­ern. Auch hier: es ist zwar möglich, aber ich habe den leisen Ver­dacht, dass die Men­schen dort andere Sor­gen haben — abge­se­hen von einem gewalti­gen Prob­lem mit Anal­pha­betismus. Drit­tens wüßte ich gerne, wie du darauf kommst, dass der Welt die dig­i­tale Rev­o­lu­tion ent­gan­gen ist.

Es ist nicht meine Auf­gabe, deine Hausauf­gaben für dich zu machen, aber wenig­stens zwei dein­er Behaup­tun­gen will ich kurz unter die Lupe nehmen: erstens, dass die Lese­freude der jun­gen Men­schen zurück gehe und zweit­ens dass das Inter­net mit seinen „Albern­heit­en“ Schuld daran sei. Dabei beschränke ich mich auf die let­zten zehn Jahre in Deutsch­land, weil der Medi­en­päd­a­gogis­che Forschungsver­bund Süd­west hier die entsprechen­den Dat­en zur Ver­fü­gung stellt. Ich habe mir sog­ar die Mühe gemacht, die Zahlen aus den zehn Einzel­stu­di­en für die Jahre 1998–2007 für dich zusammenzustellen.

Also, fan­gen wir an mit der Entwick­lung der Nutzung von Fernse­hen (die grüne kurzgestrichelte Lin­ie mit den Kreisen), Büch­ern (die rote langgestrichelte Lin­ie mit den Dreieck­en) und dem PC (die blaue durchge­hende Lin­ie mit den Karos) bei Jugendlichen (hier: Anteil der 12–19-Jährigen, die das jew­eilige Medi­um min­destens ein­mal pro Woche nutzen):

Mediennutzung von Jugendlichen

Medi­en­nutzung von Jugendlichen

Fällt dir etwas auf? Richtig, die Nutzung von Büch­ern zeigt ins­ge­samt einen leicht­en Aufwärt­strend. Der ist zwar schwach, aber das macht ihn nicht zu einem Abwärt­strend. Im sel­ben Zeitraum lässt sich dage­gen ein schwach­er Abwärt­strend des Fernse­hens beobacht­en! Hier muss natür­lich kein Zusam­men­hang beste­hen, denn es gibt eine Rei­he von Medi­en, die wir hier nicht näher betra­cht­en (Zeitun­gen, Zeitschriften, Com­put­er­spiele, etc. — wen es inter­essiert, der kann sich die Stu­di­en des MPFD genauer anse­hen). Aber auf jeden Fall beste­ht kein Zusam­men­hang zwis­chen der Com­put­er­nutzung (die ja die Inter­net­nutzung bein­hal­tet) und dem Lesen von Büch­ern. Die Com­put­er­nutzung hat stark zugenom­men, ohne dass das einen nen­nenswerten Ein­fluss auf die Lese­freude hätte. Wo auch immer die Jugendlichen die Zeit hernehmen, die sie mit den „Albern­heit­en“ des Inter­net ver­schwen­den, sie geht nicht von der Zeit ab, die sie mit dem Lesen von Büch­ern verbringen.

Doris, du hast dich in deinen Büch­ern häu­fig mit dem Ver­hält­nis zwis­chen den Geschlechtern beschäftigt, deshalb möchte ich dich auf etwas hin­weisen, das mich tat­säch­lich erschreckt hat: junge Män­ner (die blaue gestrichelte Lin­ie mit den Kreisen) lesen sehr viel weniger Büch­er, als junge Frauen (die rosa durchge­zo­gene Lin­ie mit den Dreiecken):

Büchernutzung von Jugendlichen

Büch­er­nutzung von Jugendlichen

Hier sollte man tat­säch­lich ein­mal genauer nach­hak­en, und zwar mit Ursachen­forschung. Ich habe keine Ahnung, woher diese Diskrepanz kommt, aber — wenn mir eine spitze Bemerkung erlaubt sei — es kön­nte an Büch­ern wie deinen liegen, die nicht ger­ade die Gefühlswelt junger Män­ner ansprechen. Und nur um das klarzustellen: ich per­sön­lich bewun­dere deine Büch­er und habe sie immer gerne gele­sen (Shikas­ta ist z.B. eins der weni­gen Büch­er, die es geschafft haben, sich einen dauer­haften Platz in meinem recht über­füll­ten Bücher­re­gal zu sich­ern). Vielle­icht gibt es unter den Leser/innen dieses Blogs ja Medi­en­wis­senschaftler, die uns mehr über diesen Geschlechterun­ter­schied sagen können.

Bei der Com­put­er­nutzung hinge­gen schließt sich die Lücke zwis­chen Jun­gen (wieder blau, gestrichelt, mit Kreisen) und Mäd­chen (wieder rosa, durchge­zo­gen, mit Dreieck­en) rapide:

Computernutzung von Jugendlichen

Com­put­er­nutzung von Jugendlichen

Für dich ist das wahrschein­lich ein weit­eres Zeichen des dro­hen­den Unter­gangs, aber für mich ist es eine fro­he Botschaft. Anders als du glaube ich näm­lich nicht, dass die Jugendlichen sich im Inter­net von „Albern­heit­en“ ver­führen lassen. Statt dessen find­en sie dort Möglichkeit­en, sich zu ver­net­zen („soziale Net­zw­erke“), ihre Gefüh­le und Gedanken auszu­drück­en („Blogs“), ihr Wis­sen zusam­men­zu­tra­gen („Wikis“) und Ideen auszu­tauschen („Foren“ und „Chats“). Sie kön­nen sog­ar einen ständig wach­senden Teil des lit­er­arischen Erbes der Men­scheit kosten­los beim Project Guten­berg herun­ter­laden (allerd­ings nicht deine Büch­er — die sind noch min­destens siebzig Jahre lang urhe­ber­rechtlich geschützt und müssen teuer erstanden wer­den). Alles Möglichkeit­en, von denen meine Gen­er­a­tion und die Gen­er­a­tio­nen davor nur träu­men kon­nten. Das ver­stehst du natür­lich nicht, weil du diese Begriffe noch nie gehört hast.

Doris, Ruhm bringt Ver­ant­wor­tung mit sich. Die Ver­ant­wor­tung, in der Öffentlichkeit keinen Blödsinn zu ver­bre­it­en, für den es keine Evi­denz gibt. Wenn man es doch tut, sollte man keinen Nobel­preis dafür bekommen.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

21 Gedanken zu „Wie man den Nobelpreis nicht gewinnt

  1. dirk

    Mir scheint , dass die Zahlen nicht weit­er­helfen, sowohl den Lese­hunger Afrikas betr­e­f­fend, als auch die Lek­türe­freude Europens — sie tre­f­fen nur da, wo man die Jugend an sich im Blick hat. Das hat­te Doris Less­ing nicht, wie der Ver­weis auf Afri­ka zeigt. Nicht die Anal­pha­beten hungern nach Büch­ern, son­dern die Gebilde­ten. Während in Europa nicht nur die Gebilde­ten, son­dern alle das Inter­net nutzen — ohne nen­nenswerten Ein­fluss auf die Buch­nutzung (die steigt für die große Zahl im Zuge des lebenslan­gen Ler­nen leicht an). 

    Meine Kinder lesen weniger Büch­er als in mein­er Jugend ich, merkt die Frau Geheim­rat, der­weil der Frau Reini­gungs­fachkraft nichts der­gle­ichen auffällt.

    Inter­es­san­ter finde ich, wie den Medi­en Inhalte zuge­ord­net wer­den. Büch­er enthal­ten Schätze, dig­i­tale Medi­en Albern­heit­en. Für solche Aus­sagen lassen sich so viele Belege find­en, wie für ihr Gegen­teil. Da sind sie wohl wahr.

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  2. Stefan

    Nun, ich per­sön­lich würde behaupten, das Inter­net ist das Lesemedi­um schlechthin. Wenn ich im Inter­net bin, ver­bringe ich 80% der Zeit mit Lesen, 10% mit Schreiben und vielle­icht 10% für den Rest. War das früher auch so? Daher kann ich sehr gut (auch an mir selb­st) nachvol­lziehen, dass das Fernsehn an Bedeu­tung ver­liert — bei Büch­ern erscheint mir das nicht so.

    Aber dass das Inter­net und auch alle anderen neuen Medi­en am Anfang von den etablierten Kün­stlern neg­a­tiv gese­hen wer­den scheint eine Kon­stante in der Geschichte zu sein. Sehr empfehlenswert ist da imho Marten­steins Podcast…

    Bitte iframes zulassen

    siehe: http://www.watchberlin.de/watchberlin/embedplay/7105

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  3. Anatol Stefanowitsch

    Dirk, Doris Less­ing hat schon die Jugend im Blick — sie sagt es ja expliz­it. Aber nehmen wir die Gesamt­bevölkerung — Dieter Zim­mer zitiert in seinem Kapi­tel „Schrift gegen Bild — Über das Lesen in ein­er Zeit des Sehens“ Zahlen des Allens­bach-Insti­tuts zwis­chen 1968 und 1991 für Vielleser (die min­destens ein­mal pro Woche ein Buch in die Hand nehmen) und Wenigleser (die weniger als ein­mal im Monat zum Buch greifen). Diese Zahlen zeigen einen ein­deuti­gen Trend (Vielleser in Blau/durchgezogen/Kreise, Wenigleser in Rot/gestrichelt/Dreiecke):

    <img alt=“vielleser <- c(29, 30, 34, 37) ; wenigleser <- c(42, 40, 35, 34) ; jhr2 

    Und das, wie Zim­mer richtig anmerkt, über einen Zeitraum, in dem die Möglichkeit­en für den Fernsehkon­sum durch das Auf­tauchen von Pri­vat­sendern stark zugenom­men hat.

    Lesen meine Kinder (bzw. das eine, das schon lesen kann) weniger als ich in mein­er Kind­heit? Das kann ich nicht genau sagen. Es kommt mir schon so vor, obwohl sie recht viel liest. Aber es kommt mir auch so vor, als ob meine Kind­heit ein einziger langer Som­mer und damals sowieso alles bess­er war. Ins­ge­samt ist es aber unwahrschein­lich, dass die Jugend heute weniger liest, als damals. Zim­mer weist darauf hin, dass 1950 nur 0,24% der West­deutschen studierten, während es 1990 schon 2,4% waren! Unsere Jugend ist also ins­ge­samt gebilde­ter als wir es waren — allen Ein­drück­en, die das Kla­mauk­fernse­hen uns ver­mit­telt, zum Trotz.

    Es ist wahrschein­lich ein wenig, wie mit der PISA-Studie: natür­lich hat Bay­ern die besten Gym­nasi­as­ten — man fil­tert dort ja auch am stärk­sten. Natür­lich waren Gym­nasi­as­ten 1950 im Durch­schnitt „klüger“ als heute — man hat damals halt stärk­er gefiltert. Aber zu kein­er Zeit kon­nte ein größer­er Anteil der Bevölkerung an Bil­dung und gebilde­ten Tätigkeit­en wie dem Lesen teil­haben, als heute (ich behaupte das ein­fach, denn ich bin ja kein Nobel­preisträger und muss deshalb nicht alles bele­gen, was ich von mir gebe…).

    Ste­fan, abso­lut! Es erstaunt mich immer, dass die Kul­turkri­tik­er die grundle­gende Schriftlichkeit des Inter­net überse­hen. Es ist eben­so schriftlich wie Büch­er und Zeitun­gen. Ich glaube eher, dass die Kul­turkri­tik­er langsam Angst vor dem egal­itären Zugang zu Wis­sen (und Unwis­sen) bekom­men, den das Inter­net ermöglicht.

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  4. Wolfgang Hömig-Groß

    Für mich ist das die typ­is­che Art und Weise, wie sich “Promi­nente” öffentlich äußern und dabei den hanebüch­enen, von jedem Wis­sen unb­eleck­ten Scheiß von sich geben, von dem sie meinen, dass das Fernse­hen ihn von ihnen erwartet oder von dem das Fernse­hen meint, dass die Zuschauer ihn erwarten (Kurz­fas­sung eines net­ten Gedanken­gangs von Har­ald Marten­stein — siehe WatchBerlin.de). Ein anderes The­ma, bei dem sich das immer wieder schön beobacht­en lässt sind Äußerun­gen zu Com­put­er­spie­len — ein solche Unbe­darftheit­en (oder sind es Lügen?) in Masse zitieren­des Video macht ger­ade — etwa auf Youtube — Karriere.

    @Dirk: Europens. Schön, das habe ich bes­timmt 40 Jahre nicht mehr gelesen.

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  5. Wolfgang Hömig-Groß

    Und noch ein tech­nis­ch­er Hin­weis: Ich bin far­ben­blind. Ich tue zwar mein Bestes, aber durch rosa und blau diskri­m­inierte Fak­ten bleiben mir verschlossen …

    Vor­wärts zum bar­ri­ere­freien Web!

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  6. dirk

    Aber zu kein­er Zeit kon­nte ein größer­er Anteil der Bevölkerung an Bil­dung und gebilde­ten Tätigkeit­en wie dem Lesen teil­haben, als heute … Genau das meine ich. Und da sehe ich als Sta­tis­tik­er ein Prob­lem bei solche Einzel­fra­gen an Leserzahlen. Wer immer schon viel las, der verteilt seine Lesezeit um, wer Zugang zum Lesen erst fand, erhöht alle Werte. Es hat sich jew­eils mehr geän­dert als das Unter­suchte. (Ich hat­te als Kind nur Büch­er, fernse­hen u.ä. durfte ich nicht. Mein Sohn liest auch gerne, aber bei weit­em nicht so viele Büch­er wie ich. Stattdessen schlägt er viel im Web nach.)

    Dass Frau Less­ing nicht alle meint, ist eine böse Unter­stel­lung. Ohne die kann ich mir ihre Sätze aber nicht erklären.

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  7. Anatol Stefanowitsch

    Herr Hömig-Groß, ich werde natür­lich so bald wie möglich die Grafiken noch ein­mal neu erzeu­gen und neben unter­schiedlichen Far­ben auch unter­schiedliche Punkt- und Lin­ien­arten ver­wen­den. Es kann aber ein paar Tage dauern.

    Zu Ihrem ersten Kom­men­tar: ich denke, es sind Unbe­darftheit­en. Viel schlim­mer als die unbe­darften Kom­mentare öffentlich­er Per­so­n­en finde ich die Tat­sache, dass wir uns abso­lut daran gewöh­nt haben und gar nichts bedarftes mehr erwarten. Und Doris Less­ing ist ja nicht nur „promi­nent“ son­dern promi­nent!

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  8. Wolfgang Hömig-Groß

    Besten Dank, Herr Ste­fanow­itsch, das mit den Grafiken ist für mich in diesem Fall nicht nötig — da waren es nur 2 Lin­ien, und nach dem Text dazu denke ich, oben waren die Mäd­chen und das war dann wohl rosa — wie es sich gehört. 

    Aber grund­sät­zlich liegt mir schon daran, zen­trale Infor­ma­tio­nen nach Möglichkeit nicht auss­chließlich far­blich zu kodieren.

    Ich war ger­ade auf einem Kongress, bei dem das ganze Ver­anstal­tung­spro­gramm nur für einen voll Farbtüchti­gen auszunutzen war — Leute wie ich kon­nten wed­er Orte find­en noch The­men verfolgen.

    Und bei Doris Less­ing haben Sie natür­lich recht — sie ist in der Tat promi­nent. Was ich mit den Gänse­füßchen wohl meinte, ist, dass die Medi­en häu­fig Leute dazu brin­gen, sich zu The­men zu äußern, von denen sie nichts ver­ste­hen; und wer hat schon die Größe coram pub­li­co auf eine Frage mit “keine Ahnung” zu antworten?

    Diesen Fehler hat D. Less­ing ja auch Ihrer Mei­n­ung nach began­gen — irgen­det­was für per­sön­lich plau­si­bel zu hal­ten, davon aber eigentlich nichts zu wis­sen — und sich trotz­dem öffentlich dazu zu äußern. Wobei — wie man so hellen Beiträ­gen wie Ste­fans hier ent­nehmen kann — der behauptete Gegen­satz gar kein­er ist.

    Wenn ich mich selb­st betra­chte gehöre ich auch zu dem Typus, der viele Büch­er liest (und auch mehr als eins pro Woche), Radio hört und das Inter­net nutzt — zum Lesen. Nur zwei typ­is­che Sachen mache ich nicht: Ich sehe nicht fern und lese (inzwis­chen) keine Tageszeitung mehr, nur noch Fachzeitschriften.

    Übri­gens war das let­zte Buch das ich — mit sehr großem Vergnü­gen — gele­sen habe Pierre Bayards “Wie man über Büch­er spricht, die man nicht gele­sen hat”.

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  9. Krimileser

    Sehr schön, Sie sprechen mir aus der Seele. 

    Wenn ich mir anse­he, was für Wis­sens­büch­er es für kleinere Kinder gibt (gute Fernsehsendun­gen gele­gentlich auch). Also, mit viel Respekt: Meine bei­den Söhne (6 und 9 Jahre alt) wis­sen mehr als ich in dem Alter gewusst habe ! Nun sagt mir aber die regionale Grund­schul­rek­torin, dass ein Teil der Kinder “gebilde­ter” sei als je zuvor, dass aber ein ander­er, eben­so großer Teil weniger zur Ein­schu­lung mit­brächte als je zuvor. 

    Was die Geschlechter­re­la­tion bet­rifft, habe ich auch keine Ahnung. Aber ganz laien­haft habe ich das Gefühl, dass sich die Schule mit­tler­weile auf eine (latente) Benachteili­gung von Jun­gen hin­be­wegt hat: Deren “Kom­mu­nika­tionsver­hal­ten” wird geächtet und die langsamere biol­o­gis­che Entwick­lung (die sich ja auch in ein­er langsameren Entwick­lung des Gehirns spiegelt) führt zumin­d­est hier in Bay­ern zur Selek­tion und Schul­frust. Vielle­icht gibt es hier einen Zusam­men­hang [nur mal so ins Unreine geschrieben].

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  10. Anatol Stefanowitsch

    Krim­i­leser, „Nun sagt mir aber die regionale Grund­schul­rek­torin, dass ein Teil der Kinder “gebilde­ter” sei als je zuvor, dass aber ein ander­er, eben­so großer Teil weniger zur Ein­schu­lung mit­brächte als je zuvor.“ Ja, das kön­nte sein — eine Art Bil­dungss­chere , wie sie schon durch die erste Pisas­tudie aufgezeigt wurde. Das deckt sich mit meinem Ein­druck der Mitschüler und Mitkinder­gartenkinder mein­er Kinder, wobei es natür­lich extrem schw­er ist, die Pro­por­tio­nen zwis­chen den „gebilde­ten“ und „unge­bilde­ten“ Kindern (furcht­bare Begriffe) real­is­tisch einzuschätzen. Mit der Benachteili­gung der Jun­gen bin ich mir nicht ganz sich­er: die Studie, die ich oben zitiere, zeigt zum Beispiel, das Jun­gen häu­figer Zeitung lesen als Mäd­chen (wiederum 12–19-Jährige) und die Dat­en zeigen ja auch, dass Jun­gen nach wie vor einen Vorteil bei der Com­put­er­nutzung haben. Es ist also nicht so, dass Jun­gen grund­sät­zlich weniger „gebildet“ sind, als Mädchen.

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  11. Wolfgang Hömig-Groß

    Übri­gens gibt es diese Schere, die lt. Pisa (und etlichen anderen) ja keine Bildungs‑, son­dern eine Herkun­ftss­chere ist, nicht nur im “geisti­gen” Bere­ich, son­dern auch im kör­per­lichen. Ich kenne Berichte von Amt­särzten, die die Ein­schu­lung­sun­ter­suchun­gen machen, dass Kinder mit 6 nicht auf einem Bein hüpfen oder rück­wärts laufen kön­nen, was, wie ich denke, Ihre und meine Kinder mit 3 gekon­nt haben.

    Und ich beobachte auch, dass meine Kinder Respekt gebi­etend gut informiert sind. Kinder inter­essieren sich von selb­st, aber ihr Inter­esse wird heute nach meinem Gefühl von mehr Eltern denn je ernst genom­men und materiell bedient.

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  12. Anatol Stefanowitsch

    Gab­voll, der Text der Rede find­et sich hier.

    How will our lives, our way of think­ing, be changed by the inter­net, which has seduced a whole gen­er­a­tion with its inani­ties so that even quite rea­son­able peo­ple will con­fess that, once they are hooked, it is hard to cut free, and they may find a whole day has passed in blog­ging etc?

    A whole day? Weeks and months, Doris, weeks and months…

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  13. Helen DeWitt

    Let­zen Abend habe ich einen 60-jähri­gen tschechis­chen Kun­stler aus Brno getrof­fen, der sagte: die Jun­gen kön­nen sich nicht vorstellen, nun kann ich mich selb­st nicht vorstellen wie das war. Wir waren total isoliert. Mein Onkel war reich, er ging nach West. Wo war er? In Aus­tralien? Chile? Wir hat­ten keine Ahnung. Nach 20 Jahren, nach den poli­tis­chen Verän­derun­gen, haben wir ent­deckt, er wohnte in einem öster­re­ichis­chen Dorf, etwa 60 Kilo­me­ter ent­fer­nt … In Rus­land war es noch schlim­mer, für 60, 70 Jahre waren sie isoliert … 

    Ich erin­nerte mich an meinen tchechis­chen Lek­tor, Mar­tin Machovec, der eine bedeu­tende Rolle bei der Samiz­datveröf­fentlichung gespielt hat­te. Sein Vater war Dis­si­dent. Als Mar­tin 16 Jahre alt war, schlug ihm der Schulerek­tor vor: Siehe, Mar­tin, du hast gar keine Chance bei der Uni­ver­sität, angesichts deines Vaters wird man dir keinen Platz geben, es ist Zeitver­schwen­dung mit dein­er Bil­dung fortz­u­fahren, warum ver­bringst du nicht eine Lehrzeit bei ein­er Brauerei? Mar­tin sagte, später ist Gins­berg nach Prag gekom­men, der beklagte sich über die Zen­sur der amerikanis­chen Schrift­steller, das war etwa kömisch als die tschechis­che Schrift­steller ins Gefäng­nis geschickt wur­den, gefoltert wur­den, getötet wur­den. Ich erin­nerte mich auch an meinen alten Fre­und Julius Tomin, Philosoph, der ver­botene Aris­tote­les-Sem­i­nare zuhause machte und deshalb ins Gefäng­nis geschickt wurde. Natür­lich erin­nerte mich auch an diese inter­es­sante Rede von Lessing.

    Solche Häßlichkeit­en sind sich­er nicht vor­bei. Das Fernse­hen, die Com­put­ers, das Inter­net die Less­ing so lau­nisch machen, haben die macht­losen gegen einen Mugabe, einen Mushar­raf, einen Than Shwe so unglaublich geholfen, es ist kaum zu fassen, daß die ange­blich ver­min­derte Buch­le­sung unter den entwick­el­ten Län­dern ein­er ange­blich größen Schrif­stel­lerin den Schlaf rauben könnte.

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  14. Krimileser

    Sehr geehrter Herr Stefanowitsch,

    ich habe mir erlaubt, eine der Grafiken, mit Quel­lenangabe zu “ent­führen”. Soll­ten Sie damit ein Prob­lem haben, lassen Sie es mich bitte wissen.

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  15. Anatol Stefanowitsch

    So, im Inter­esse der Bar­ri­ere­frei­heit sind die Lin­ien in den Grafiken nun anhand von mehreren Merk­malen voneinan­der unter­schei­d­bar; im alt-Tag der jew­eili­gen Grafik find­en sich außer­dem die Dat­en und der R‑Code, mit dem die Grafiken erzeugt wurden.

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  16. Wolfgang Hömig-Groß

    Ich sag mal stel­lvertre­tend für die anderen Danke, hof­fend, dass es noch welche gibt und die ganze Mühe nicht nur für mich war!

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  17. Stephan

    Inter­es­san­ter Artikel.

    Ich habe den Ein­druck, dass in der ersten Grafik “Büch­ern (die rote langgestrichelte Lin­ie mit den Dreieck­en) und dem PC (die blaue durchge­hende Lin­ie mit den Karos)” ver­tauscht wur­den? Anson­sten wäre der Anstieg bei den Büch­ern ja viel gröss­er als bei der PC Nutzung, was nicht mit dem anschliessenden Satz “die Nutzung von Büch­ern zeigt ins­ge­samt einen leicht­en Aufwärt­strend. Der ist zwar schwach” zusammenpasst 🙂

    Als Infor­matik­er und jemand, der ein­deutig die Vorteile des Inter­nets in allen möglichen und unmöglichen Sit­u­a­tio­nen erken­nt hat die Kri­tik aber doch etwas wahres: 

    Wieviel Zeit ver­bringe ich damit in social net­works rumzuk­lick­en und darauf zu hof­fen dass etwas span­nen­des passiert, anstatt, dass ich mir mal wieder Zeit für ein gutes, nicht fach­lich­es Buch nehme, gele­sen wird fast nur im Urlaub. Ob ich allerd­ings ohne Inter­net wirk­lich mehr Büch­er lesen würde und nicht bloss die PC-freie Zeit mit Arte schauen ver­brin­gen würde ist unklar.

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  18. FB

    Im Artikel nur kurz angeschnit­ten (habe die Kom­mentare allerd­ings nicht alle gele­sen): Inter­net­nutzung heisst — zumin­d­est in meinem Fall — dur­chaus nicht, sich nicht mit Lit­er­atur zu beschäfti­gen? Wie oft liest man, wenn man im Inter­net unter­wegs ist? Genau genom­men jedes­mal wenn man eine Adresse ein­tippt. Und “wertvollere” Vari­anten des Lesens sind auch nicht weit weg 🙂

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